Wo wir nicht sind
Schule des Aufruhrs
Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
18.03.2021. Am 18. März 1871 erhob sich die Pariser Kommune - gegen die französische Regierung, den Monarchismus und die Kapitulation. Die 72 Tage des sozialrevolutionären Taumels endeten in einem Blutbad. Zum hundertfünfzigsten Jahrestag erscheinen erstmals auf Deutsch die Erinnerungen der Anarchistin Louise Michel. Kristin Ross begibt sich in ihrem Essay "Luxus für alle" auf gedankliche Spurensuche und Eric Hazan wandelt durch die Geschichte des Roten Paris. Eine neue Kolumne über Literatur aus anderen Zeiten und anderen Orten.
72 Tage lang träumte Paris den Traum einer direkten Demokratie, es waren Tage des Taumels und der Trunkenheit, bis die hochherzigen Ideale, fantastischen Hoffnungen und Exzesse von der Staatsgewalt in einem Blutbad ertränkt wurden. Das konservative Frankreich sah in der Kommune nur das Aufrührerische und die Gefahr des Bürgerkriegs. Edmond de Goncourt schrieb: "Es packt einen regelrecht Abscheu, wenn man ihre dummen und widerlichen Gesichter sieht". In einem ungeheuren Akt der Vergeltung, in einem wahren Blutrausch, töteten die Versailler Regierungstruppen in einer einzigen Woche Ende Mai zwanzig- bis dreißigtausend Menschen. Männer, Frauen und Kinder.
Das republikanische Paris, das der Blockade der preußischen Armee hatte standhalten müssen, hatte nur Verachtung übrig für die Regierung des Konservativen Adolphe Thiers, die sich nach Versailles geflüchtet hatte und nun Bismarcks Bedingungen so umstandslos erfüllen wollte. Ebenso für die neugewählte Nationalversammlung, die in Bordeaux Zuflucht gesucht hatte und auch nach dem Ende des Zweiten Kaiserreichs noch immer in den Händen der Monarchisten war: "Ländliche Mehrheit - Schande Frankreichs!"

Michel blickt nicht zurück, sie erklärt auch nichts. Keine historischen Hintergründe, keine politischen Zusammenhänge, keine Namen. Sie macht keinen Unterschied zwischen ihren Nachbarn und den Köpfen des Zentralkomitees. Sie hat diese Erinnerungen 1898 verfasst, 27 Jahre nach dem Ende der Kommune. Sie hat überlebt, sie wurde nach Neukaledonien deportiert, amnestiert, wieder ins Gefängnis gesteckt und wieder amnestiert. Aber sie hat überlebt, bis sie 1905 in Marseille starb. Persönliche Erlebnisse und Berichte von Kampfgefährten fügen sich zusammen mit Briefen, Manifesten, Zeitungsartikeln und Bekanntmachungen zu einem überbordenden Strom revolutionärer Prosa. Und nicht zu vergessen die Chansons von Jean-Baptiste Clément, dessen "Temps des Cérises" ebenso wie die Marseillaise und die Internationale durch die Straßen hallte. Der Mandelbaum Verlag hat dieses Konvolut zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch herausgebracht, gebannt könnte man sagen, in einer hervorragenden, kraftvollen Übersetzung und mit einem sehr ausführlichen Glossar versehen, das allerdings nur begrenzt einen fehlenden historischen Überblick ausgleicht.
Michel führt einem die Geschehnisse mit einer mitreißenden Unmittelbarkeit vor Augen. Mit dem Gewehr unter ihrem schweren Mantel, stürmt sie, die imposante Vierzigjährige mit dem herrlich unfemininen Gesicht, durch die Straßen von Paris, organisiert Frauenbataillone, harrt in den Schützengräben aus und verteidigt die Forts der Kommune gegen die Versailler Truppen, die unermüdlich versuchen, die Stadt wieder in ihre Hand zu bekommen. Sie stellt sich erst, als die Versailler ihre Mutter als Geisel nehmen.
Bei den Verbrechen, die der Kommune zur Last gelegt wurden, weiß sie ihre Zunge zu zähmen. Über die berüchtigte Erschießung gefangener Offiziere in den ersten Tage schreibt sie so spitz wie unverfänglich: "Der Zorn entfachte sich, ein Schuss löste sich, die Gewehre feuerten sich von selbst." Und zu den Bränden, in denen Paris aufging, als die Regierungstruppen die Stadt einnahmen, äußert sie sich mehrdeutig. "Keiner der Brände dieser Zeit ging auf das Konto der Commune", behauptet sie an einer Stelle. An einer anderen jedoch zitiert sie mit dem Bericht des Historikers Prosper-Olivier Lissagaray ihre Aussage vor Gericht, ohne ihm zu widersprechen: "Was den Brand von Paris anbelangt, ja, ich habe daran teilgenommen, ich wollte den Eindringlingen aus Versailles eine Barriere aus Flammen entgegenstellen." Lissagarays Bericht dürfte ihr geschmeichelt haben: "Sie zeigten den Versailler, welch schreckliche Frauen die Pariserinnen sind, selbst wenn man sie angekettet hat."

Für Ross beginnt die Geschichte der Pariser Kommune nicht am 18. März, sondern zwei Jahre zuvor, noch unter dem Zweiten Kaiserreich von Napoleon III., als republikanische Klubs und Arbeiterkomitees wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Versammlungen wurden von der Monarchie verteufelt, als "Schulen des Aufruhrs und der Lasterhaftigkeit", als das große "Collège de France des Aufstands", aber so lange sie nicht zum Sturz des Kaisers aufriefen, durften sie ihren Ideen zu einer neuen Organisation von Kunst, Bildung und Arbeit nachhängen.
Unter der Losung der Kommune, glaubt Ross, konnten die verschiedenen revolutionären Fraktionen ihre Differenzen überbrücken. Da Nation, Markt oder Staat nicht mehr die entscheidenden Größenordnungen waren, sondern lokale Einheiten, freie Assoziationen und Kooperationen, konnten Jakobiner und Blanquisten, Internationalisten, Sozialisten und Anarchisten wieder zusammenfinden. Man ahnt, worauf Ross zielt: Immer wieder betont sie den dezidiert antikolonialen Internationalismus der Kommune, verteidigt die Idee einer universellen Republik der Kommunen gegen die Verächter des republikanischen Universalismus und beschwört die Solidarität, mit der auch Männer für die gleichen Löhne von Frauen kämpften, schwarze Männer an der Seite von weißen Frauen. Als eine Schlüsselszene zitiert Ross eine besonders poetische Passage aus Michels Erinnerungen, in der die Heroine zusammen mit einem Zuaven in einem Schützengraben Wache hält, also einem schwarzen Soldaten, der zur Kommune übergelaufen war. Er fragt sie: "'Wir wirkt das Leben auf Sie?' 'Es wirkt auf mich', antwortete ich, 'wie ein Ufer, das vor uns liegt, das wir erreichen müssen.' 'Auf mich', meinte er, 'wirkt es, als würde ich ein Buch mit Bildern lesen'."
Ross' kurze Schrift sucht Spuren, Kontinuitäten und Möglichkeiten, soziale Gerechtigkeit, direkte Demokratie, Internationalismus und Ökologie zusammenzuführen. Sie erkundet das geistige Nachleben der Kommune bei Karl Marx oder William Morris und zeigt sehr schön die Dialektik von Erfahrung und Erkenntnis. Am stärksten ist jedoch das titelgebende Kapitel "Luxus für alle", in dem Ross die Vorstellungen der Kommunarden zu Bildung, Kunst und Kultur aufscheinen lässt. Der Luxus für alle bezieht sich auf die Kunst, die dem Geografen und Anarchisten Elisée Reclus zufolge nicht länger "dieses armselige, dürftige Leben bei wenigen außergewöhnlichen Menschen" fristen sollte, sondern befreit und von allen Menschen gelebt werden sollte.
Das Bildungskomitee der Kommune, zu dem neben dem Maler Gustave Courbet auch der Chansonnier Jean-Baptiste Clément, der Schriftsteller Jules Vallès und der Schullehrer Auguste Verdure gehörten, führte die allgemeine Schulpflicht ein und Kindergärten, in denen die Betreuerinnen niemals schwarze Kleidung tragen durften. Bei Kindern sollten alle Anlagen gleichzeitig zur Entfaltung gebracht, die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit aufgehoben werden. Hitzig wurde debattiert, ob die Emanzipation das Ergebnis von Bildung sei oder ihre Voraussetzung. Courbet gehörte zusammen mit Manet und Daumier auch zur Fédération des artistes (während Cézanne, Pissarro und Degas aus Paris geflüchtet waren), die für eine künstlerische Selbstverwaltung stritt und jegliche Subventionierung der Kunst als staatliche Bestechung rundweg ablehnte. Für den von ihm betriebenen Abriss der Vendôme-Säule als Monument des kolonialen Despotismus sollte er persönlich finanziell haftbar gemacht werden.
Eine bemerkenswerte Figur der Kommune war auch der Schuhmacher Napoléon Gaillard, der in den Tages des Kampfes zum Direktor des Barrikadenbaus ernannt wurde und verantwortlich war für die gewaltigen Anlagen in der Rue de Rivoli, an der Place Vendôme oder der Place de la Concorde. Später, entkommen ins Schweizer Exil, schrieb er "Die Kunst des Schuhs", die er als die verkannteste, aber nützlichste besang.

Luise Michel: Die Pariser Kommune. Aus dem Französischen von Veronika Berger und Eva Gerber. Mandelbaum Verlag, Wien 2020, 425 Seiten, 28 Euro (Bestellen).
Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune. Aus dem Amerikanischen von Felix Kurz. Matthes und Seitz, Berlin 2020, 204 Seiten, 20 Euro (Bestellen).
Eric Hazan: Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens. Aus dem Französischen von Michael Müller und Karin Uttendöfer. Matthes und Seitz, Berlin 2019, 589 Seiten, 38 Euro (Bestellen).
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