Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Teil 3

01.08.2011.
Zu einer einheitlichen und starken Bewegung fanden die Antisemitenparteien und -vereine im Kaiserreich nicht. Sie wurden gegründet und gespalten, kamen über regionale Bedeutung nicht hinaus, und ihre Führer beschimpften einander wüst als Scharlatane oder Wichtigtuer. Auf die Dauer bedeutsamer wurden zahlreiche berufsständische Verbände, die Juden ausgrenzten - vom Reichsdeutschen Mittelstandsverein über den Bund der Landwirte, dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband bis zur Vereinigung Christlicher Bauernvereine und den studentischen Verbindungen. Hinzu kamen alte und neue antisemitische Gruppen wie der Deutschbund, die Wagner- und Gobineau-Vereine oder der Reichshammerbund und schließlich der Alldeutsche Verband mit seinem Vorsitzenden Heinrich Claß.
     Die Manifeste der antisemitischen Deutschsozialen Partei und der Alldeutschen bildeten inhaltlich die Grundlage für die entsprechende Programmatik der späteren NSDAP. So hieß es 1912 bei Claß, schon um bürokratische Details angereichert: "Stellung der ansässigen Juden unter Fremdenrecht, Sperrung jeder jüdischen Einwanderung. Jude ist jeder, der am 18. Januar 1871 der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat sowie alle Nachkommen von Personen, die damals Juden waren, wenn auch nur ein Elternteil jüdisch war oder ist; Ausschluss von Ämtern und Heeresdienst, Verbot der Leitung oder Mitarbeit an deutschen Zeitungen, öffentlichen Banken, des Landbesitzes und der Belastung mit jüdischen Hypotheken. Als Entgelt für den Schutz, den sie als Volksfremde genießen, entrichten sie doppelte Steuern." Auch Claß nannte als Gründe für seine Forderungen "den Vorteil der Erziehung" und die "Begabung", die den Juden im Vergleich zur christlichen Mehrheit den schnellen Aufstieg ermöglicht hätten: "Die Masse aber fand sich schwer und langsam zurecht, ja man kann sagen, dass ganze Schichten bis heute noch nicht den Anschluss gefunden haben."(169)
     Wie die Führer anderer antisemitischer Zusammenschlüsse behandelte auch der protestantische Pastor Stoecker die Judenfrage nicht als "Zankapfel konfessioneller Unduldsamkeit" und nicht als Rassenfrage, sondern als "Gegenstand sozialer Besorgnis". Er richtete seine Angriffe nicht gegen altgläubige, sondern gegen moderne säkulare Juden. Er bezichtigte sie der Klugheit. Er nahm ihnen den "unheilvollen" Aufstiegswillen übel. Halb bewundernd, halb verabscheuend beanstandete er, wie selbst "arme Juden Hab und Gut hingaben, um ihren Kindern eine gute Bildung zu geben". Stattdessen sollten sie endlich "dieselbe Arbeit tun wie ein Deutscher", sich nicht länger "von der groben Arbeit fernhalten", sollten "Schneider und Schuhmacher, Fabrikarbeiter und Diener, Mägde und Arbeiterinnen werden". Gelinge das nicht, würden sie, "je länger, je mehr Arbeitgeber werden, dagegen die Christen in ihrem Dienste arbeiten und von ihnen ausgebeutet werden". Ähnlich wie Stoecker polemisierte die katholische, der Zentrumspartei nahestehende Tageszeitung Germania: "Die Fortschritte des Judentums in den letzten Dezennien an geistiger und finanzieller Macht sind geradezu horrend, unerhört in der Geschichte der alten, mittleren und neueren Zeit, und immer ausreichender werden die Mittel der Judenschaft zur geistigen und finanziellen Unterjochung der Völker!" Seine Vorwürfe stützte der Redakteur der Germania ebenfalls auf den Eifer, mit dem junge Juden auf die Universitäten strebten. Mehr noch: Selbst aus Waisenhäusern der Juden "gehen fast nur Kaufleute und Studenten hervor, während christliche Waisen aus Mangel an Mitteln sich nur dem Stande der Handwerker, Arbeiter, Dienstboten und dergleichen zuwenden".(170)
Die Antisemiten verbargen ihr individuelles Unvermögen oder ihre Enttäuschung über die eigenen, nur mäßig erfolgreichen Versuche, sich hochzuarbeiten. Statt selber nach oben zu streben und die geistige Entwicklung ihrer Kinder zu fördern, hockten sie im Hinterzimmer der Gaststätte "Deutsches Haus" und schimpften auf die Juden. Der Schlachtruf des hessischen Antisemiten Otto Boeckel lautete "Gegen Juden und Großgrundbesitzer!", der des Antisemiten Hermann Ahlwardt "Wider Juden und Junker!". In ihrer praktischen Arbeit versuchten die Boeckel-Leute den jüdischen Händlern das Wasser abzugraben, "indem sie Dorf auf, Dorf ab wanderten, um Konsumvereine zu gründen".(171)

Einer meiner Ururgroßväter mütterlicherseits war der preußische Gardesoldat Friedrich-Wilhelm Kosnik (1837 - 1910). Er stammte aus armen, frommen Verhältnissen. Nach dem Willen seiner Mutter sollte er die Bibel zweimal pro Jahr durchlesen. 1861 hielt Friedrich-Wilhelm Kosnik am Sarg des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Totenwache; 1863 rückte er als einer von 60 000 Mann an die Ostgrenze aus, um den polnischen Aufständischen, die gegen die russische Herrschaft aufbegehrten, jede Rückzugsmöglichkeit abzuschneiden. Von seiner Soldatenzeit erzählte er gern. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst wurde er Eisenbahnbeamter der untersten Stufe und arbeitete sich vom Schaffner zum Stationsvorsteher 3. Klasse hoch. Friedrich, sein einziger Sohn, der das Erwachsenenalter erreichte, brachte es bis zum Studiendirektor. Er hinterließ einen Lebenslauf, in dem es heißt, seine Familie stamme unverkennbar aus Polen. Sein Vater sei in der Volksschule einer der Besten gewesen und habe es oft bedauert, "dass er nicht hat studieren können". Immerhin wurde Friedrich-Wilhelm Kosnik, kaum dass er die Volksschule abgeschlossen hatte, Stadtschreiber von Schlawe. Die letzte und höchste berufliche Stufe erreichte er als Vorsteher der Station Leipzig-Neustadt. In Leipzig trat er dem antisemitischen Reichshammerbund bei und soll mit dessen Führer Theodor Fritsch befreundet gewesen sein.(172)
     Als aktives Vereinsmitglied hielt mein Ururgroßvater dort öffentliche Reden. Was er vortrug, ist nicht überliefert. Jedenfalls lobte der Sohn sein rhetorisches Talent. Der Versammlungsredner Kosnik wird vor seinesgleichen, vor den kleinen Leuten, gesprochen haben. Ähnlich seinem Lehrmeister Fritsch wird er an ein "sittliches Staatswesen" Ansprüche wie diese gestellt haben: "Die Achtung und Schonung des wirtschaftlich Schwachen, der recht wohl zugleich der physisch und moralisch Starke sein kann." Zu diesem Zweck sollte der Staat "eine gute Verteilung des Wohlstandes und ein frohes Gesamtgedeihen" garantieren, die Judenherrschaft brechen und das Tempo des wirtschaftlichen Fortschritts mäßigen: "Der ganze, in den Dienst ungezügelter Gewinnsucht gestellte Erwerbs-Mechanismus hat die Gesundheit, Sicherheit und das Glück der menschlichen Individuen nicht erhöht." Die Agitation zielte auf die Millionen frisch vom Land, namentlich von den östlichen Reichsgrenzen her in die industriellen Zentren Zugezogenen, auf die Entwurzelten und Verwirrten: "In den Großstädten regieren Juden und Judensinn, und der naturgewohnte Mensch fühlte sich darin als ein Fremdling, als ein ratloses Kind, das allerwegen in die Fallen der Juden tappt."(173)
     Wer heute aus guten Gründen herabsetzend von Theodor Fritsch spricht, sollte nicht vergessen, dass er zu den Vorkämpfern der modernen Gartenstadt und einer sorgfältigen urbanen Infrastruktur gehörte. Sämtliche, vielfach an englischen Vorbildern orientierten Ideen, die er in seinem mit Musterplänen reichhaltig ausgestatteten Buch "Die Stadt der Zukunft" 1896 entwickelte, sind im 20. Jahrhundert von den Reformern des Städtebaus aufgenommen worden: Kleingärten für die Arbeiter, Parks, Tummelplätze für die Kinder in weitläufigen und sonnigen Innenhöfen, lichtdurchflutete Schulgebäude, Ringbahnen, radiale Straßensysteme, getrennte Industrie- und Wohnzonen - das Ganze sozialistisch gedacht auf der Basis von Boden-Gemeinschaft, Erbpacht, ohne jeden Bodenwucher, ohne Hypotheken und Zinstribut. So wollte Fritsch erreichen, dass die "heimatliche Scholle" nicht "zum Spielball des Leichtsinns und der Gewinnsucht", sondern zum Boden glücklicher menschlicher Existenz würde.(174)

Werner Sombart bezeichnete die Judenfeindschaft, wie sie Fritsch, Böckel, Stoecker oder Marr vertraten, als sozialen Antisemitismus. Dahinter verbarg sich Konkurrenzneid, allerdings einer, der sich gegen Kohn richtete, nicht gegen Müller. Sombart ging davon aus, dass Juden im damaligen Berlin die Klippen des sozialen Aufstiegs drei- bis viermal so schnell überwanden wie die christlichen Mitaufsteiger. Stoecker hatte gut 20 Jahre vorher eine ähnliche Rechnung präsentiert. Nach dem Ergebnis der Berliner Volkszählung von 1867 stellten die Juden vier Prozent der Berliner Bevölkerung, jedoch 30 Prozent derjenigen Familien, die Erziehungspersonal für ihre Kinder beschäftigten. 35 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, gut 70 Jahre vor Hitler formulierten die christlich-sozialen Antisemiten die Judenfrage als Frage der Benachteiligung von Christen, als Gerechtigkeitslücke, wie man heute sagen würde. "Eine halbe Million jüdischer Mitbürger", so Stoecker 1880 im Preußischen Abgeordnetenhaus, nehmen "in unserem Volke eine Stellung ein, welche ihrem Zahlenverhältnis durchaus nicht entspricht. Ausgerüstet mit einer starken Kapitalkraft, auch mit vielem Talent, drückt dieser Bevölkerungsteil auf unser öffentliches Leben." Daraus folgte am Ende der politischen Programmschrift "Das moderne Judenthum", die Stoecker für seine Christlich-Soziale Arbeiterpartei verfasst hatte, die zentrale und fett gedruckte Parole aller modernen Antisemiten: "Bitte, etwas mehr Gleichheit!"(175)

-----------------------------------------
(169) Claß, Wenn ich der Kaiser wär' (1912), S. 30-38, 74-78.
(170) Ernst Moritz Arndt über die Juden, Judeneinwanderung und Judenemancipation, in: Germania, vom 29.8., 30.8., 1.9.1879, hier zwei der redaktionellen Kommentare, die in den über drei Ausgaben fortgesetzten, im Wesentlichen aus langen Arndt-Zitaten zusammengesetzten Artikel eingestreut sind. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Rybak, Ernst Moritz Arndts Judenbilder (1997), S. 129.
(171) Scheidemann, Wandlungen des Antisemitismus (1906), S. 635
(172) Friedrich Kosnik, Über meine Vorfahren, Archiv der Familie Aly, I5.
(173) Fritsch, Die Juden im Handel (1913), S. 128, 196.
(174) Fritsch, Die Stadt der Zukunft (1896), S. 29, passim.
(175) Sombart, Die Zukunft der Juden (1912), S. 47; Stoecker, Das moderne Judenthum (1880), S.3, 16f., 36f; Die Judenfrage. Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses (1880), S. 118.


                                                             *

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
(Copyright S. Fischer Verlag)


Informationen zum Buch und Autor hier