Vorgeblättert

Leonardo Padura: Ein perfektes Leben, Teil 3

S. 120 ff.

Der Kaffee stieg wie heiße Lava im Innern der Kanne auf. El Conde tat vier Löffel Zucker in einen Krug und wartete, bis der gesamte Kaffee durch den Filter nach oben gepresst war. Dann goss er ihn in den Krug und rührte ihn um, langsam, um sich an dem bitteren, heißen Aroma erfreuen zu können. Schließlich goss er die schwarze Flüssigkeit in die Kanne zurück und von dort in eine Thermoskanne, aus der er sich eine große randvolle Tasse zum Frühstück genehmigte. Er setzte sich in das kleine Esszimmer und zündete eine Zigarette an, die erste des Tages.
Er fühlte sich schrecklich alleine, und um dieses Gefühl zu verscheuchen, dachte er an das, was er mit der Namenliste der Neujahrspartygäste anfangen wollte. Ihn erwarteten einige ebenso unvermeidliche wie delikate Gespräche, die er lieber nicht geführt hätte. Zoilita war offenbar immer noch nicht wieder aufgetaucht, denn sonst hätte man ihm Bescheid gegeben. Sie war jetzt vier Tage verschwunden, genauso lange wie Rafael. Vor morgen früh konnte er mit seinen Ermittlungen in dem Unternehmen nicht beginnen, und das verlieh ihm eine Schonfrist, die er gerne schon hinter sich gebracht hätte. 
Aus den anderen Provinzen war wohl keine Meldung für ihn eingetroffen, auch nicht vom Grenzschutz, die hätten ihn ebenfalls benachrichtigt. Weiterhin also keine Spur von dem in Luft aufgelösten Mann. Und von dem Spanier Dapena? Um den brauchte man sich keine Sorgen zu machen, der rannte wohl auf Cayo Largo hinter irgendwelchen Titten her. Doch es gab auch so genug Arbeit für diesen Sonntag.
Teniente Conde trank seinen Kaffee, der den Gaumen und das Denkvermögen anregte, und beschloss, sich noch mehr Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Er wollte sich in Rafael Morin hineindenken, obwohl er nie im Leben auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen hatte, dass so etwas möglich sein könnte. Er musste fühlen, was ein Mensch wie Rafael Morin fühlte, musste wollen, was er wollte (das war schon einfacher), um wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, was es mit diesem merkwürdigen Verschwinden auf sich hatte. Doch es gelang ihm nicht. Rafael gehörte nicht zu den Verbrechern, mit denen er es täglich zu tun hatte, und das lähmte ihn. Ihm waren die schwarzen "Geschäftsleute" lieber, die mit irgendetwas handelten, Zwischenhändler für das Außergewöhnliche, Hehler für das Ausgefallene. Er kannte sie und wusste, dass sie stets einer Logik zufolge agierten, an der man sich bei den Ermittlungen orientieren konnte. 
Jetzt war alles anders. Ich treibe orientierungslos dahin, dachte er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Er stellte fest, dass es Zeit war, Manolo anzurufen und auf die Straße zu gehen, auch wenn der Tag nicht danach aussah, ein Sonntag zu werden, an dem man an der Ecke stehen konnte, um ein wenig Sonne zu tanken und die alten Geschichten der alten Freunde anzuhören, immer und immer wieder.
Er goss sich eine zweite Tasse ein, weniger voll diesmal, dankte seinem Magen, dass er ihn bisher noch nicht mit einem Geschwür bestraft hatte, zündete sich eine weitere Zigarette an, beglückwünschte sich zu seiner leistungsfähigen Lunge und ging ins Schlafzimmer. Er setzte sich aufs Bett, gleich neben das Telefon, und beobachtete den einsamen Rundtanz von Rufino, seinem Kampffisch. Dann sah er sich in dem leeren Zimmer um, und es überkam ihn das Gefühl, dass auch er einen einsamen Tanz aufführte, auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem endlosen, beklemmenden Teufelskreis.
"Was sind wir doch für arme Schweine, Rufino", sagte er und wählte Manolos Nummer.

Mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages

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