Bücher der Saison

Frühjahr 2002

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.04.2002. Frühjahr? Das ist kein Trost. Wir haben die Buchbeilagen der großen Zeitungen endlich durchgesehen und melden die Rückkehr des schwarzen Textes. In der Literatur sowieso: "Verzweiflung in Hülle und Fülle", "leuchtende Negativität". Aber auch in einer Sachbuch-Rezension lasen wir den Satz: "The only reaction that seems appropriate now is despair."
Literatur / Sachbuch

Was ist neu in diesem Bücherfrühjahr? Es gibt eine hinreißende Zeichnung von Sempe: ein großer, überaus prächtiger Saal mit Spiegeln, Kronleuchter, Arabesken und Wandgemälden, darin sitzen kerzengerade kleine Männer im Frack und einige Damen in Abendgarderobe. Auf dem Podium überreicht ein würdevoller Laudator einen Preis mit den feierlichen Worten: "Und so würdigen wir mit diesem Preis Ihr bewundernswertes Schaffen, das einige der trostlosesten Bücher unserer Zeit umfasst." Wir melden in diesem Frühjahr die Rückkehr des schwarzen Textes, der absoluten Negation, Verzweiflung in Hülle und Fülle. Das gab's ja nun wirklich schon lange nicht mehr. Trostlose Bücher - im Frühjahr? werden Sie vielleicht fragen? Gerade im Frühjahr! (Ansatzweise trösten können Sie uns übrigens, wenn Sie die Bücher über uns bestellen, dann kriegen wir nämlich etwas ab. Aber wir verstehen selbstverständlich auch, wenn Sie lieber Ihren Buchhändler trösten.)

Romane

Martin Walser
hat in der FAZ einen Roman, ach was, einen "Entsetzlichkeitskatalog, grell bebildert" besprochen - besser als die Prosa von Beckett, ganz zu schweigen von Thomas Bernhard, der daneben gerade mal "hübsch böse" aussehe: Erich Wolfgang Skwaras "Zerbrechlichkeit oder die Toten der Place Baudoyer", schreibt Walser, ist eine "Hochmuts- und Erniedrigungsorgie", sein Held ein österreichischer Literaturprofessor namens Stein mit einer "Disposition zum Unglück", der zwei Liebesgeschichten durchleide und doch nichts finde als "Verzweiflung in Hülle und Fülle". Lesen sollte das nur, wer eine Sympathie hat für die "Gier nach etwas, was es nicht gibt", warnt Walser.

Dann wäre da Marlene Streeruwitz' Roman "Partygirl". Die SZ war so beeindruckt, dass sie sich widerspruchslos "in die gleiche existenzielle Gummizelle" wie die unglückliche Heldin einsperren ließ. Absolute Negativität, keine Rettung nirgends für die Heldin, die nach einer schrecklichen Tat des Vaters jahrelang mit dem geliebten Bruder durch Europa gezogen ist, um schließlich als Lohnarbeiterin in einer Wäscherei in Chicago zu landen. Die taz nennt das "ganz gothic", die FR hat sich von dem grausam entleerten Lebensstil abgewendet.

Auch die NZZ hat einen Roman zu den trostlosesten Büchern unserer Zeit beigesteuert: David Albaharis "Mutterland". Ein im kanadischen Exil lebender Serbe findet ein Tonband mit den Erinnerungen seiner verstorbenen Mutter. Vor dem Hintergrund der Nazizeit und der Verfolgungen im Jugoslawienkrieg schildere Albahari das Grauen der Vergangenheit als "Epitaph von leuchtender Negativität, von schrecklicher Schönheit und brutaler Intimität", schwärmt der erschütterte Rezensent.

In den Reigen aufgenommen gehören weiter Hans Raimunds Aufsätze zur Literatur und autobiografische Texte in "Das Raue in mir". Karl-Markus Gauß würdigt Raimund als den bedeutendsten Lyriker Österreichs und lobt seine schonungslose Wahrheitsliebe, seine "Barschheiten" und "mitleidlosen Randbemerkungen". Und schließlich sind noch Giacomo Leopardis historische und politischen Reflexionen zu nennen, gesammelt in dem Band "Das Massaker der Illusionen". Die Zeit verleiht Leopardi für seine "Einsicht in die unfliehbare Tristesse des Seins" voller Hochachtung den Ehrentitel "zerrissenster Schwerblütler der Neuzeit". Und die SZ fand sich bei der Lektüre in einem "tintenschwarzen, labyrinthisches Gefängnis" wieder, dessen Ausweglosigkeit durchaus erschreckenden Charakter habe.

Aber es gab natürlich auch andere Bücher:

Gäbe es einen Bücheroskar, die deutschen Kritiker hätten ihn an Philip Roth' Roman "Der menschliche Makel" vergeben. Er wurde von allen großen Zeitungen besprochen und konnte sich in praktisch jeder Rezension das Prädikat "Meisterwerk" abholen. Begeistert aufgenommen wurde auch der Roman "Aglaja Rewkinas letzte Liebe" des Tadschiken Wladimir Woinowitsch. Die Geschichte einer glühenden Stalinistin, die unversehens in die postsowjetische Ära rauscht, hat die FAZ fasziniert, weil der Autor die wirkliche Romanze Rewkina mit Stalin bitter ernst nehme. Die SZ rühmt die "entfesselte" Sprache des Autors (und beglückwünscht Alfred Frank zu seiner "wunderbaren" Übersetzung) und sieht in dem Roman amüsiert eine ironisch verfremdete Fortschreibung des 'Kurzen Lehrgangs der Sowjetgeschichte'. Und dann wäre da noch Per Olov Enquists brillanter (FR), glänzender (Zeit), verführerischer (SZ), magnetischer (FAZ) und souveräner (NZZ) Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs".

Sehr gut besprochen wurde Andreas Maiers zweiter Roman "Klausen", eine Provinzposse in einem Südtiroler Ferienidyll, die sich zu einem Krimi auswächst, und ein Roman über die Macht des Gerüchts. Die FAZ lobte den Roman als ein "hochkomisches Pamphlet wider die Seuche Zivilisationslärm", die FR schwärmte vom Talent des Autors, Gruppenphänomene anschaulich aufs Papier zu bringen. Kaum weniger enthusiastisch wurde Henning Ahrens "famoser" (FAZ) Debütroman "Lauf, Jäger, lauf" aufgenommen. Die Geschichte vom Tierkadaverbeseitiger Oskar Zorrow, der vom Zug aus einen Fuchs sieht, die Notbremse zieht, und später im Wald von einem seltsamen Club der Widergänger entführt wird, findet die SZ "außerordentlich orginell" und "modern" erzählt. Die Zeit nennt es schlicht "ein großartiges, lächerliches, eigensinniges und vollkommen verrücktes Buch!"

Gefallen hat auch der neue Franzobel, den die FR in ihrer Begeisterung eine "jaulende Österreich-Hammondorgel" genannt hat. "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit", Roman einer Seelenwanderung, kann weder die Liebhaber noch die Verächter Österreichs kalt lassen, versichert die NZZ. Sex, Suff, Politik und Gemetzel - alles komme vor, ganz wie im richtigen Leben. Und schließlich sei noch auf Andre Kubiczeks "Junge Talente" hingewiesen, der einzige DDR-Roman, der neben Christa Wolfs Erzählung "Leibhaftig" gefeiert wurde. Andere DDR-Romane kamen nicht so gut weg, dazu gehörte Hermann Kants "Okarina" und Sascha Andersons "spätexpressionistisches Dichterlallen" (taz) in seinem autobiografischen Roman "Sascha Anderson".

Vor den Literaturbeilagen besprochen, aber dennoch erwähnt werden müssen Peter Handkes zwiespältig aufgenommener neuer Roman "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" von Lob bis Verriss - manchmal in einer Kritik - war alles dabei. Und Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang": "eher gut gemeint als gut gemacht" - dieses Zitat aus der NZZ hätten sie wohl alle unterschrieben.

Sehr gut besprochen wurde dagegen Richard Powers "Schattenflucht". Der Roman erzählt zwei parallele Geschichte, von einer Computerzeichnerin in Seattle und einer amerikanischen Geisel im Libanon, der ebenfalls nur mit der Kunst überlebt. Die SZ meldet, dass John Updike den Autor mit Thomas Mann verglichen hat und widerspricht nicht. Die taz nennt das Buch ein literarisches Ereignis und lobt die Beschreibung der digitalen Welt. Weiter gelobt wurden Paula Fox' psychologischer Familienroman "Lauras Schweigen", Magnus Mills skurriler Aussteigerroman "Indien kann warten" und Yasmina Khadras Algerienroman "Wovon die Wölfe träumen", den die FAZ poetisch und lehrreich findet.

Gar nicht gut weg kamen dagegen Salman Rushdies "Wut" und Susan Sontags "In Amerika", die höflich, aber bestimmt ("Es ist ein Jammer") verrissen wurden.

Erinnerungen Autobiografien / Reiseliteratur

Nun kraxelt und schreibt er schon so viele Jahre, aber erst musste Peter Sloterdijk neben ihm recht alt aussehen: Reinhold Messners Erinnerungen an seinen Aufstieg auf den Nanga Parbat 1970, bei dem sein Bruder starb, hat die Kritiker außerordentlich beeindruckt. Die Zeit nennt es ein "großartiges" Buch und Messner einen Weisen, die SZ versichert, Messner könne hinreißend schreiben und fühlt sich an Käptn Ahabs Jagd nach dem weißen Wal erinnert. In der Kategorie Reiseliteratur ist Eric Newbys "Ein Spaziergang im Hindukusch" von 1958 zu empfehlen. Zwei Engländer versuchen den Mir Samir im afghanischen Nuristan zu besteigen, obwohl sie vom Bergsteigen keine Ahnung haben! "Hinreißend komisch" findet das die Zeit, und die FAZ ist beeindruckt von den Beobachtungen und historischen Fakten, die hier mit britischem Understatement dargeboten werden.

Kinder- und Jugendbücher

Im Kinderbuch ist dies eindeutig die Saison der kleinen Männer: Volker Kriegels "Erwin mit der Tröte", Martin Ebbertz' "Der kleine Herr Jaromir" und Joke van Leeuwens "Prinz Bussel" haben Rezensenten und Rezensentinnen gerührt ans Herz gedrückt. Unter den Jugendbüchern ist uns Avis Fantasy-Roman "Perloo" besonders aufgefallen, dessen Held kein Supermann, sondern ein lethargischer Bücherhase ist. Wer sich für das Leben der Wikinger interessiert, dem sei "Die Leute von Birka" von Sven Nordquist und Mats Wahl empfohlen. Und dann ist da noch Gott in F.K. Waechters "Schöpfung".

Literatur / Sachbuch

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