Silvia Bovenschen

Über-Empfindlichkeit

Spielformen der Idiosynkrasie
Cover: Über-Empfindlichkeit
Suhrkamp Verlag, Frankfurt Main 2000
ISBN 9783518411766
Gebunden, 240 Seiten, 20,35 EUR

Klappentext

Etwas hat uns für einen kurzen Moment erstarren lassen: ein Geruch, ein Zeichen, eine Bewegung, ein Wort, ein Detail ? nicht der Aufregung wert, und doch hat es uns in schrille Aufregung versetzt. Jeder hat eigene Formen der Idiosynkrasie, der unerklärlichen Überempfindlichkeiten. Solche Prägungen haben in den letzten Jahrhunderten kontroverse Beurteilungen erfahren: Für die einen sind sie irrationale, vernachlässigbare Verhaltensweisen, für die anderen Auslöser von Innovation in Kunst und Wissenschaft. Silvia Bovenschen nähert sich diesem Mischphänomen aus den verschiedensten Richtungen: Sie grenzt es vom Ekel wie vom Schmerz ab, zeichnet das Verhältnis von Idiosynkrasie und Physiognomie, stellt Überlegungen an über die Beziehungen zwischen Idiosynkrasie und Flucht beim Zigarettenholen und versucht sich an einem Porträt des Schweizers als Verbrecher. Dabei steht nicht das der Idiosynkrasie unangemessene Bemühen um eine historisch-systematische Begriffsgeschichte im Vordergrund, sondern das kaleidoskopartige Erfassen und Zergliedern seiner Spielarten.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 19.10.2000

Elisabeth von Thadden behandelt in einem klugen, lesenswerten Essay zwei Bücher, die sich mit Biologie und Medizin befassen: `Über-Empfindlichkeit` von Silvia Bovenschen (Suhrkamp) und `Wie man ewig lebt` von David B. Morris (Kunstmann). Thadden fürchtet, dass in der schönen neuen Welt die menschliche Individualität unter die Räder kommen könnte. Beide Autoren dienen ihr als Kronzeugen für ein `Lob auf das Unvollkommene` und als Nebenkläger gegen eine durch und durch `medikalisierte` Welt, die inzwischen sogar das `Schulablehnungssyndrom` oder `Abneigung gegen Schwarze` diagnostizieren kann, wie Thadden verwundert feststellt.
David Morris plädiere in seinem Buch `Krankheit und Kultur` für eine Ethik der Unvollkommenheit, und zwar `ausgreifend, fordernd, material- und wortreich`. Ein schon wegen seines Materialreichtums überwältigender Einspruch gegen das Primat der Biologie, so Thadden. Dagegen hat Bovenschen in ihrem `feinsinnigen, pointierten` Buch über Idiosynkrasien der Merkwürdigkeit des europäischen Individuums ein Denkmal gesetzt, wie Thadden feierlich erklärt: `Eine Stärkung für Sterbliche.`

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.10.2000

Zufällig leidet die Rezensentin Hilal Sezgin von Silvia Bovenschens Aufsatzsammlung über Idiosynkrasien an einer Überempfindlichkeit gegen Kaleidoskope. Doch gerade als ein solches hat die Autorin ihr Buch angelegt, gibt Sezgin zu bedenken. Wie mit der Lupe habe die Autorin die Motive und die Gegenwart von Idiosynkrasien in Literatur und Theorie über die Jahrhunderte verfolgt. Das findet Sezgin stellenweise etwas `verstreut` und `ermüdend`, weil die Autorin sich nicht um eine `strenge Begriffsanalyse` bemüht. Ihr Essay `Über den Schweizer als Verbrecher`, in dem sie Heidi als braves Naturmädel, den Alm-Öhi als ehemaligen Verbrecher entlarvt, entpuppe sich aber `als ausgesprochen lesenswertes Stück frei reflektierender Prosa`, auch wenn er mit Idiosynkrasien nicht all zuviel zu tun habe. Mit dem Aufsatz über `Idiosynkrasie und Exzentrität` gelingt es der Autorin dagegen, sich einer `Theorie des Urteilsvermögens` anzunähern, lobt Sezgin. Ihre Abneigung gegen Kaleidoskope scheint sie am Ende ihrer Lektüre therapiert zu haben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.10.2000

Idiosynkrasien, d.h. unerklärliche persönliche Abneigungen, sind überall. Gudrun Schury zitiert in ihrer (fast ausschließlich referierenden) Rezension von Silvia Bovenschens dem Thema gewidmetem Buch jede Menge Beispiele: Goethes heftige Abneigung gegen "Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch", das Kreuzzeichen und Leute mit Brillen. Lichtenberg hasste das Wort "unvergleichlich", Adorno die Ausdrücke "Persönlichkeit" und "Synthese". Des weiteren liefert die Rezension eine kurze Nacherzählung der Begriffsgeschichte und beschreibt, wie die Idiosynkrasie bei Kraus, bei Proust zur künstlerischen Stärke umgewertet wird. Der einzig wertende Satz der Rezensentin ist der erste, und am Konjunktiv sollte man sich wohl nicht stören: "Ich könnte davon schreiben, dass Silvia Bovenschen eine große Denkerin ist".
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