Magazinrundschau

Kompass des Bösen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.08.2014. Im Spectator gibt der Historiker Tom Holland einen Einblick in die religiösen Vielfalt Mesopotamiens, die die Isis gerade zerstört. Vanity Fair erzählt die Geschichte der Madame Claude. Dawn stellt ein Buch über den muslimischen Zionismus in Pakistan vor. Kathrin Passig denkt in Funkkorrespondenz über die Nützlichkeit irrationaler Argumente nach. Die Public Domain Review erzählt, wie das Lachgas den Schriftstellern und Wissenschaftlern die Sprache verschlug. Das TLS liest eine neue Brecht-Biografie.

Spectator (UK), 23.08.2014

Der Historiker Tom Holland erinnert daran, dass die Terrorgruppe "Islamischer Staat" den Fruchtbaren Halbmond auch als eine Wiege der religiösen Vielfalt zu vernichten droht. Die vielen verschiedenen religiösen Gruppen verbinden oft, meint Holland, so eigenwillig wie faszinierend, christliche, islamische und zoroastrische Vorstellungen: "Da sind die Mandäer, die sich selbst, wie ihr Prophet Mani, für Funken des kosmischen Lichts halten, und deren Priester wie ihre babylonischen Vorfahren leidenschaftliche Astrologen sind. Da sind die Alewiten, die Platon als Propheten verehren, an die Wiedergeburt glauben und in Richtung Sonne beten. Oder die Jesiden, deren Heimatregion Sindschar noch immer Anklänge an den harranischen Mondgott Sin im Namen trägt. Wie die Harraner hegen sie eine besondere Verehrung für den Pfau. Der Engel Melek Taus, den sie für Gottes Stellvertreter auf Erden halten, trägt die Gestalt dieses Vogels, und am Anfang der Zeit, als die Erde nichts weiter als eine Perle war, legte er seine Feder über sie und gab ihren Wäldern, Gebirgen und Meeren die Farbe."

Douglas Murray fragt sich, was angesichts der großen Zahl selbstgezüchteter Dschihadisten noch auf Großbritannien zukommen wird.
Archiv: Spectator

Funkkorrespondenz (Deutschland), 22.08.2014

Kathrin Passig untersucht in einem Essay Standardargumente der Ablehnung neuer Technologien und gleichzeitig auch Standardargumente ihrer euphorischen Begrüßung und stößt dabei auf die immer gleichen Klischees - von der Eisenbahn bis zum Internet. Ihr Schluss: "Jedesmal, wenn wir eine von diesen Aussagen in den Mund nehmen, sagen wir: "Ich bin hilflos. Ich weiß nicht, was da passiert. Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Veränderung umgehen soll. Ich habe so ein Gefühl, dass das Neue verkehrt ist/dass es toll ist, und ich fische jetzt nach Argumenten, die dieses Gefühl rationaler aussehen lassen sollen." Und das allein ist ja schon nützlich: Sobald man sich bei einem von diesen Argumenten ertappt, weiß man, dass da irgendetwas Interessantes im eigenen Kopf oder in der Welt vorgeht und dass es sich lohnt, näher hinzuschauen. Auch wenn das eigentliche Argument falsch ist."
Stichwörter: Passig, Kathrin, Eisenbahn

Huffington Post fr (Frankreich), 24.08.2014

Lauren Provost beschäftigt sich mit Godwins Gesetz und geht den Gründen dafür nach, weshalb das Internet derart besessen davon ist. Das 1990 vom Rechtsanwalt Mike Godwin formulierte Mem lautet: "Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert Eins an." Inzwischen sei das Gesetz bei den Usern ebenso berühmt wie der Satz des Pythagoras, und bei Netz-Diskussionen gebe es immer einen, der nach der Vergabe des sogenannten "Godwinpunkts" schreie. Provost zitiert dabei unter anderem den Philosophen François De Smet, der zum Thema gerade das Buch "Reductio ad Hitlerum" vorgelegt hat. Seine These: "Die Aufhebung der Gültigkeit der meisten Ideolgien und unsere Unfähigkeit, uns allgemeingültige und unumstößliche Referenzen für das Gute, die Wahrheit oder die Gerechtigkeit zu verschaffen, verstärkt die Notwendigkeit, sich zumindest im Klaren über einen Kompass des Bösen zu sein - und exakt dazu dient Hitler in einer Zeit, in der eine klare Steuerrichtung fehlt."

Vanity Fair (USA), 01.09.2014

James Harkin, der selbst als Journalist in Syrien gearbeitet hat, erzählt sehr anschaulich, wie gefährlich die Existenz dort für Journalisten ist - auch und vor allem, weil westliche Geiseln in Syrien zu einer Währung für die Rebellengruppen, aber auch für das Regime geworden sind. Und die Journalisten sind sehr schlecht geschützt: "Seit 2012 haben sich die meisten westlichen Medien aus der Berichterstattung über das Land zurückgezogen. Stattdessen kam ein schlecht ausgerüsteter, lachhaft bezahlter, komplett unversicherter Tross von Freelance-Journalisten mit kaum mehr als einem Notebook und einem Mobiltelefon. Manche waren verrückte Narzissten, die meisten aber seriöse Reporter." Harkin hat den Artikel vor James Foleys Ermordung geschrieben (er ist aus der Mai-Nummer von Vanity Fair). Er kannte Foley und geht ausführlich auf die Umstände seiner Entführung ein.

In der aktuellen Ausgabe erzählt William Stadiem die Geschichte der Madame Claude, die in den Fünfzigern zur prominentesten Bordellbesitzerin Frankreichs aufstieg. Angefangen hatte sie als kleine Bibelverkäuferin - oder auch nicht. Vielleicht hatte sie auch als Straßennutte gearbeitet, oder war als Jüdin in Auschwitz interniert gewesen - je nachdem, wen man fragt. Egal, in den fünfziger Jahre konnten ihre Kunden unter den schönsten Mädchen in Paris wählen. Dabei waren die Preise so moderat, dass sogar Journalisten wie Jean-Pierre de Lucovich (Paris Match) oder Taki Theodoracopulos (Spectator) Madame Claude besuchten: "Für de Lucovich, den Banker, Taki und zahllose andere wurde Claude zu einer Gewohnheit. "Jeden Tag waren andere Mädchen da, aus der ganzen Welt, mehr Ausländerinnen als Französinnen", erzählt de Lucovich. "Es gab immer eine Überraschung und vieles war wie in Belle de Jour. Très bien au lit, war Claudes charakteristische Anpreisung. Und bedenken Sie, auch wenn dies Frankreich war, informeller Sex war noch nicht üblich. Nette Mädchen machten es nicht.""
Archiv: Vanity Fair

Boston Review (USA), 18.08.2014

In einem langen Essay für die Boston Review sieht der große syrische Philosoph Sadiq Al-Azm das Hauptproblem Syriens nicht in der Verfolgung von Minderheiten, sondern im Gegenteil in der Unterdrückung der sunnitischen Mehrheit durch die alawitische Minderheit um den Diktator Baschar al-Assad. Von der Terrorgruppe "Islamischer Staat" steht in dem Text noch nichts, wohl aber sagt Al-Azm (der selbst aus einer sunnitischen Familie stammt) eine Radikalisierung der Sunniten durch die Repression des Regimes an. Statt Syrien ausbluten zu lassen, weil sich dort lauter Feinde des Westens gegenseitig bekämpfen, so Al Azm, wird der Westen spätestens intervenieren müssen, um den Islamismus zu bekämpfen. Und bezüglich Syriens "muss der Westen helfen, Assads Zugriff auf das Land und seine Zukunft zu beenden und den Alawiten eine erträgliche Position zuzuweisen - in einem demokratischen Rahmen, der natürlich die Sunniten ins Recht setzen muss."
Archiv: Boston Review

Dawn (Pakistan), 03.08.2014

Hassan Javid bespricht ein Buch, dessen Grundidee über die Gründung Pakistans die meisten Europäer überraschen dürfte: Faisal Devjis "Muslim Zion: Pakistan as a Political Idea" sieht viel Ähnlichkeit zwischen den Gründungen Pakistans und Israels. "Für Devji repräsentiert Pakistan ein Beispiel des Zionismus, den er als eine politische Form interpretiert, in der die nationale Identität vor allem durch die Religion definiert wird. In diesem Sinne, so seine These, hat Pakistan eine große Ähnlichkeit mit Israel." Dies vor Augen untersucht Devji die politischen Auffassungen südasiatischer muslimischer Führer wie Syed Ahmad Khan, dem Aga Khan, Allama Iqbal und Mohammad Ali Jinnah, den Gründervater Pakistans. Letzter, so Javid, wollte das Problem der muslimischen Minderheit in Indien lösen, indem er die Muslime zur "Nation" erklärte: "Jinnah glaubte, dass der Status einer Minderheit selbst in einer Demokratie zu einer Existenz führen musste, die völlig abhängig war von Verfassungswächtern und dem guten Willen der Mehrheit. Wenn man aber die Muslime Indiens als Nation betrachtete, lieferte dies seiner Ansicht nach die Rechtfertigung dafür, ihnen politische Gleichheit mit den Hindus auf dem Subkontinent anzubieten."
Archiv: Dawn

Public Domain Review (UK), 25.08.2014

Die ersten, von Humphrey Davy im Jahre 1799 durchgeführten Versuche mit Lachgas waren nicht nur für die Wissenschaft interessant, sondern auch für die philosophische und literarische Romantik, erzählt Mike Jay in der Public Domain Review. Um die Wirkung des Lachgases zu erleben - von Davy als bisher nie erlebte Dimension beschrieben, in der Objekte zunächst bald intensiv leuchtend in einer Kakophonie von Klängen, dann gelöst von Raum, Außenwelt und in einer die Sinne, Worte, Bilder und Ideen durcheinanderwirbelnden Weise wahrgenommen wurden - trafen sich Ärzte, Patienten, Chemiker, Dramatiker, Chirurgen und Dichter in einem Labor, das bald zum philosophischen Theater wurde, in welchem Davy als Zeremonienmeister auftrat: "Obwohl die Versuche innerhalb eines medizinischen Rahmens begannen, konzentrierten sie sich zunehmend auf Fragen der Metaphysik und ganz besonders der Sprache. Davy untersuchte die Armut der "Sprache der Gefühle" und die Unbeholfenheit, Erfahrungen in Worte zu fassen. Die medizinische Standard-Frage "Wie fühlen Sie sich?" bekam eine existenzielle Dimension. Die Probanden wurden von dem Gas geistig nicht beeinträchtigt, sondern derart stimuliert, dass sie keine Worte mehr fanden... Davy erstellte ein Berichtsprotokoll und bat die Freiwilligen, eine kurze Beschreibung ihrer Erfahrung zu notieren. Es gab Antworten, die schräg, aber durchaus einfallsreich waren: "Wie fühlen Sie sich" wurde etwa von einem Patienten beantwortet mit "Ich fühle mich wie der Klang einer Harfe.""

New Yorker (USA), 01.09.2014

Für den aktuellen New Yorker liest Adam Gopnik Matthew Algeos "Pedestrianism", das unseren Drang zum aufrechten Gang historisch erfasst, und erläutert den Reiz des Gehens in den guten alten 80ern: "Damals bin ich ständig zu Fuß in der Stadt unterwegs gewesen. Es gab den Segen einiger technischer Errungenschaften, moderne Laufschuhe etwa, mit denen sogar Plattfüßige wie auf Luft gehen konnten. Dann der Walkman, mit dem die Szenerie zu deinem eigenen Film wurde. Wie die ersten Flaneure in der Zeit zwischen der Gasbeleuchtung, die die Stadt zu einem 24-Stunden-Ereignis machten, und dem Automobil, das die Städte mit Lärm erfüllte, auftauchten, lag Gehen in den 80ern zwischen dem Walkman, der den Lärm der Autos neutralisierte, und dem iPhone, das die isolationistische Ruhe durch den Wahn der dauernden Erreichbarkeit ersetzte. Damals konnte man überallhin gehen und die architektonischen und sozialen Unterschiede etwa zwischen Tribeca, SoHo und East Village wahrnehmen und benennen."

Und gemeinsam mit der Cambridge-Professorin Mary Beard untersucht Rebecca Mead, wie Männer Frauen über den Mund fahren, schon bei Ovid, vor allem aber im Internet, wo es leicht scheint, alle Arten von Frauenfeindlichkeit zu praktizieren: "Ein Kommentar über die Zähne einer Person kann unfein sein, ein Thread über Vergewaltigung ist kriminell."
Archiv: New Yorker

New York Magazine (USA), 25.08.2014

In der neuen Ausgabe des Magazins schildert Gabriel Sherman die Schwierigkeiten von Amerikas ältestem Medienunternehmen, dem zu Time Warner gehörenden Zeitschriftenverlag Time Inc., sich neu zu definieren. Heftiges Rotieren in der Chefetage scheint keine Lösung zu sein, wie der Artikel nahelegt. Stattdessen geht es um das Ankommen im digitalen Zeitalter. Das Selbstverständnis als Verlag wird dabei wohl auf der Strecke bleiben. Mitarbeiter kommen sich schon vor wie bei einem Start-up: "Website-Relaunches bieten klarere Navigation und einfacher zu handhabende Publishing-Tools und Applikationen, wie "OneBot", das Redakteuren erlaubt, die Nutzung ihrer Inhalte im Netz zu verfolgen … Aber wird das reichen, um die heftigen Einbußen bei der Printwerbung und im Absatz zu kompensieren? Die Einnahmen bei der Onlinewerbung sind zwar um zwölf Prozent (auf 74 Millionen Dollar) gestiegen, aber das ist wenig für ein Unternehmen, das insgesamt Erträge von rund 3,4 Milliarden erwirtschaftet und jährlich rund 50 Millionen Dollar Zinsen zahlen dürfte. Selbst wenn alle Strategien von Time Inc. in Sachen Video, Apps und Beratung zünden, ist es schwer zu glauben, dass sie den Profit erbringen, den die Aktionäre von der Firma erwarten."

Bloomberg Businessweek (USA), 21.08.2014

Cam Simpson und Jesse Westbrook erzählen in einer nicht immer einfach zu lesenden Recherche, wie der Och-Ziff-Fonds, der größte börsennotierte Hedge Fonds der USA, einen Platinminendeal in Simbabwe finanzieren half und damit faktisch dem maroden Mugabe-Regime das Überleben sicherte. Zu Wort kommt unter anderem der ehemalige US-Botschafter in dem Land, der amerikanische Sanktionen gegen Mugabe duchzusetzen versuchte und Menschenrechtsverletzungen dokumentierte - unter anderem wurden Tausende Menschen im Rahmen des Projekte vertrieben. Gegen den Fonds werden jetzt juristische Untersuchungen angestrengt. Aber nicht für alle ist die Sache schlecht ausgegangen. Freuen kann sich etwa Michael Cohen, einer der Drahtzieher des Deals: "Am 18. März 2013 gab Och-Ziff bekannt, dass Cohen aus der Firma austritt. Bevor er ging, kaufte er sich noch einen englischen Landsitz außerhalb Londons im Wert von 22 Millionen Dollar."

Himal (Nepal), 19.08.2014

Die über 800 Frauen, die in Pakistan allein im vergangenen Jahr so genannten "Ehrenmorden" zum Opfer fallen, sind deutschen Kulturschaffenden bislang leider keinen offenen Brief wert. Vielleicht regen ja Bushra Asifs Darlegungen zu solchen Interventionen an. Erschütternd jedenfalls, was sie über den trotz einiger Reformen noch immer bestehenden Filz zwischen Patriarchat und Politik, deren zum Teil noch auf die Militärregierung von 1977 bis 1989 zurückgehende Gesetzgebung solche Morde begünstigt und die Täter davonkommen lässt, zu berichten hat: "Die Hudood-Beschlüsse von 1979 beispielsweise kriminalisierten sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe und machten vier männliche Zeugen zur Bedingung, um eine Vergewaltigung zu beweisen. ... Der Qisas- und Diyat-Akt wird von Frauenrechtlerinnen und Menschenrechts-Anwälten dafür kritisiert, dass er die Rechtsprechung "privatisiert", da er es ermöglicht, sich in Mordfällen auch außerhalb von Gerichten zu einigen. Besonders problematisch ist das im Fall von Ehrenmorden, bei denen die Mörder üblicherweise nächste Verwandte sind (...). Wenn etwa ein Bruder seine Schwester ermordet, kann beider Vater, der Schutzbefohlene des Mädchens, dem Sohn vergeben."
Archiv: Himal

Linkiesta (Italien), 24.08.2014

In letzter Zeit wird nicht sehr oft über italienische Erfolge berichtet - aber es gibt sie! Auch wenn der Kontext düster ist und gerade wieder in der Nähe von Lampedusa 18 Tote aufgefunden wurden. Das Blog Linkiesta.it stellt ein interessantes Dossier zu Flüchtlingen in Europa zusammen und stellt nebenbei die Frage, ob die Operation "Mare Nostrum", mit der italienische Behörden versuchen, möglichst viele Flüchtlinge zu retten, erfolgreich sei: "Wenn wir die Zahlen vergleichen", schreibt Lidia Baratta, "dann scheint der Erfolg gegeben. Auf der Basis der Zahlen von Migrant Files, einer von zehn Journalisten betriebenen Datenbank über Migration, sowie Daten des Blogs Fortress Europe und anderer Organisationen ist die Quote der Toten auf tausend Flüchtlinge von 39 im Jahr 2012 auf 4 im Jahr 2014 gesunken. Und das, obwohl sich die Zahlen der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien kommen, allein zu Beginn des Jahrs verdreizehnfacht haben (von 843 in der ersten drei Monaten 20134 auf 10.975 im gleichen Zeitraum dieses Jahres)."
Archiv: Linkiesta

Magyar Narancs (Ungarn), 07.08.2014

Nach einer Rede des Ministerpräsidenten Victor Orban über das Ende der liberalen Demokratie in Ungarn diagnostiziert der Philosoph Gáspár Miklós Tamás in einem ausführlichen Interview mit Szilárd Teczár einen ernstzunehmenden Paradigmenwechsel in Ungarn: "Das Wesen des Liberalismus ist, dass keine unkontrollierte Macht oder Autorität die Menschen beherrschen kann - darum die Gewaltenteilung, darum die Herrschaft des Rechts. Der Liberalismus definiert keine moralischen Präferenzen des Einzelnen. Auch die Vorstellung, dass die Übermacht des Staates und des Marktes mit bloßen Rechtsprinzipien überschrieben werden können, finde ich utopisch. (...) Doch das über den Liberalismus gegenwärtig Gesagte ist mit den Verleumdungen vergleichbar, die in der Breschnew-Ära über die westliche Linke gesagt wurden: Etwa, dass die Doktrinen der Frankfurter Schule die EU und die hiesigen Linken beeinflussen. Ich kenne keinen ernsthaften Verfechter der Frankfurter Schule in Ungarn, und ich wette, dass Jean-Claude Junker kein Adorno-Leser ist."
Archiv: Magyar Narancs

Times Literary Supplement (UK), 22.08.2014

Brecht nicht zu lesen, das gehört zu Briten und Amerikanern wie der Neoliberalimus, weiß der Übersetzer Michael Hoffmann und rät ihnen in einem vor Enthusiasmus nur so strotzenden Artikel, nicht nur Thomas Piketty zu lesen, sondern auch Stephen Parkers faszinierende Brecht-Biografie: "Er hatte viele Freundschaften mit Männern - mit Lion Feuchtwanger, Karl Korsch, George Grosz, Walter Benjamin, Hanns Eisler, Charles Laughton - es waren Dutzende, und mit ihnen diskutierte er auf sehr hohem Niveau. Kein Klatsch, keine Fachsimpeleien, keine Vertraulichkeiten, sondern professionelle Unterhaltungen. Dementsprechend zählt das lapidare Gedicht "Vergnügungen" neben "Dialektik" auch "Alte Musik" auf, "Neue Musik" und "Freundlich sein". Da kein Brite oder Amerikaner auch nur im Traum daran denken würde, so etwas zu äußern (in einer Atmosphäre, die zwangsweise auf ewig antiintellektuell erschien), muss ich betonen, dass das keine Pose war. Verglichen mit ihm, sahen viele Schriftsteller einzelgängerisch, konturlos, unbeachtet. Brecht liebte es, den Dingen Klarheit und Witz zu verschaffen. Wenn das 20. Jahrhundert eine Aufklärung gehabt hätte, er wäre sie gewesen."

Mit großem Interesse liest Andrew Scull auch das Buch "The Story of Pain", in dem Joanna Bourke den Schmerz als soziales und sprachliches Konstrukt deutet: "Es hat kein spezifisches Wesen oder eine ihm eigene Qualität reiner Emfpindungen, sondern eher ein komplexes kulturelles Phänomen, eine Artm Erfahrung wahrzunehmen, die von Srache und geschichte geformt wird, "Es gibt", sagt Bourke, "kein privates Schmerz-Erlebnis", so wie es auch keine Privatsprache gibt (hier macht sie Anleihen bei Wittgenstein)."

New York Times (USA), 23.08.2014

Zum Start der US Open bringt die New York Times eine Tennis-Ausgabe. James Kaplan erinnert an die legendären Finals mit Chris Evert und Martina Navratilova, die einander zwischen 1973 und 1988 insgesamt achtzigmal gegenüberstanden und als Rivalinnen ein heute kaum mehr denkbares kameradschaftliches Verhältnis pflegten. "Wir trainierten sogar zusammen. Damals gab es keine Trainer, und wir waren oft die einzigen im Turnier, die noch übrig waren. "75 bei den French Open etwa trainierten wir und hatten Lunch zusammen. Es war toll, Martina sagte:" Chrissie, willst du noch Aufschläge üben oder soll ich? Und kannst du noch ein paar Bälle auf meine Rückhand schlagen? Ich muss die tranieren"", erinnert sich Chris Evert im Interview. Heutigen Spielerinnen fehlt nach Aussage beider übrigens der Hunger und die Dringlichkeit auf dem Platz, auch wenn das Spiel insgesamt härter geworden sei, wie beide feststellen. Einzig die Russin Marija Scharapowa und die 20-jährige Eugenie Bouchard (die Susan Dominus hier vorstellt) hätten noch den Tigerblick. Dazu gibt es ein Video, das einen Ausschnitt aus dem Fight der beiden beim US Open Finale 1984 zeigt - herrlich!

In der Sunday Book Review stellt James Gleick Vikram Chandras Buch "Geek Sublime" vor. Der indisch-amerikanische Schriftsteller, der früher selbst für seinen Lebensunterhalt programmiert hat, plädiert für eine neue Sicht auf das Programmieren: dessen Codes beruhen nämlich auf linguistischen Regeln, die der indische Gelehrte Panini 500 v.Chr. für das Sanskrit aufstellte, die via Noam Chomskys "generative Grammatik" in den USA verbreitet wurden und den Boden für die modernen Computersprachen bereiteten.
Archiv: New York Times