Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

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Magazinrundschau vom 16.04.2024 - New Yorker

Quixel ist eine Firma, die mithilfe von hundertfach wiederholten Scans hyperrealistische Hintergründe, Objekte, Landschaften und Texturen nicht nur für Computerspiele herstellt. Sie fungiert fast wie ein digitales Archiv unserer Zeit und zeichnet unter anderem verantwortlich für Fortnite, gleichzeitig Spiel und sozialer Treffpunkt, in dem neben Live-Konzerten und Comedy-Auftritten auch das Holocaust-Museum simuliert wird, erzählt Anna Wiener. "Die Firma verfügt mittlerweile über einen enormen Online-Marktplatz, auf dem Digitalkünstler Scans von Requisiten und anderen Umgebungselementen teilen und downloaden können: Eine Banane, ein Knubbel, ein Büschel Seegras, Thaikorallen, ein bisschen Pferdemist. Eine kuratierte Auswahl dieser Elemente unter dem Titel 'Abattoir' beinhaltet eine Handvoll rostiger und beschmutzter Schränke, Ketten und Kisten, sowie 27 verschiedene Blutlachen (Pfütze, Archipel, Blutspritzer, die aus mit hoher Geschwindigkeit abgegebenen Schüssen resultieren). Das 'Medieval Banquet' bietet, neben anderen Kleinigkeiten, eine aggressiv geröstete Steckrübe, etliche Lammrippchen, hölzerne Becher und diverse Schweinefleischpasteten in verschiedenen Größen und Stadien der Verwesung. Die Scans sind detalliert genug, dass mich eine starke Übelkeit überrollt hat, als ich ein geröstetes Ferkel - die Haut ledern vor Hitze und gerissen - näher beschaute." Aber nicht nur zur Ekelerzeugung kann die Technik von Quixel genutzt werden: "Die gleichen Methoden wurden genutzt, um verschwindende Aspekte der analogen Welt festzuhalten. Kurz nachdem Russland 2022 die Ukraine überfallen hatte, hat Virtue Worldwide, eine Werbefirma, begonnen, an 'Backup Ukraine' zu arbeiten, einer Werbekampagne für UNESCO und Polycam, eine Fotogrammetie-Firma. Die Kampagne hat Freiwillige dazu aufgerufen, digitale Abbildungen von Antiquitäten, Denkmälern und Alltagsgegenständen anzufertigen, die bedroht waren, inklusive Skulpturen, antiken Büsten und Grabsteinen. ('Wie rettest du das, was du nicht physisch beschützen kannst?', fragte die Kampagne.) Die ursprüngliche Idee war, die Abbildungen als Blaupausen für zukünftige Rekonstruktionen zu nutzen, wenn es nötig werden sollte. Ein professionelles Team von Scannern hat millimetergenaue Modelle von Kirchen in Kiew und Lwiw kreiert - aber die Leute haben auch Scans von Alltagsgegenständen aus ihrem eigenen Leben hochgeladen. Neben Modellen von einem explodierten Panzer, einem ausgebrannten Auto und zerstörten Wohngebäuden gibt es auch Abbildungen einer Yoda-Figur und ausgetretener Chucks."

Außerdem: Dhruv Khullar erklärt, wie man bei guter Gesundheit stirbt. Alex Ross fragt: Was ist Lärm? Gideon Lewis-Kraus eruiert den Entwicklungsstand von fliegenden Autos. Manvier Singh liest Kelly Weills Buch über Fake News, "Off the Edge: Flat Earthers, Conspiracy Culture, and Why People Will Believe Anything". Amanda Petrusich hört Pop von Olivia Rodrigo. Maggie Doherty stellt den Dichter Delmore Schwartz vor. Jennifer Wilson liest zwei Romane über die Beziehung eines Menschen zu einem Roboter. Justin Chang sah im Kino Alex Garlands "Civil War" mit Kirsten Dunst. Jackson Arn besucht im Blanton Museum of Art in Austin die Anni-Albers-Ausstellung "In Thread and On Paper", die sich die Frage stellt, warum Albers irgendwann Weben gegen Druck tauschte - ein Moment, den Arn mit Dylans Schwenk auf die elektrische Gitarre vergleicht. Lesen darf man außerdem die Story "Late Love" von Joyce Carol Oates.

Magazinrundschau vom 08.04.2024 - New Yorker

Maggie Nelson hat ein neues Buch veröffentlicht, einen Band mit dem Titel "Like Love", der Essays aus rund zwanzig Jahren zusammenbringt, die Kulturkritikerin Lauren Michele Jackson interviewt sie dazu für den New Yorker. Die Essays, in denen sie sich mit Persönlichkeiten des künstlerisch-kulturellen Lebens wie Judith Butler, Fred Moten und Hervé Guibert auseinandersetzt, erfordern eine besondere Schreibpraxis, wie Nelson betont: "Das Schreiben kann so einsam sein. Aber diese Texte waren etwas, das man tut, um aus seinem eigenen Kosmos herauszukommen und versucht, in den einer anderen Person einzutauchen. Sich in deren Themen zu versenken und herauszufinden, wo sie sich mit deinen eigenen Interessen überschneiden. Ich mache das schon lange, aber mir ist aufgefallen, dass viele dieser Texte begraben waren und sich nicht zugehörig zu meinem restlichen Werk angefühlt haben. Ich war begeistert davon, sie einfach nur anzuschauen, und ich habe dabei aus vielen Texten auf meinem Computer ausgewählt. Es gibt noch so viele Gespräche mehr als die, die ich hier aufgenommen habe. Die Leute haben oftmals über mein Werk geredet als eines, das mit anderen im Gespräch ist, aber ich hatte das Gefühl, dass es sich dabei um Literarisierungen handelt. Selbst wenn du zitierst, streitest oder mit anderen Menschen auf dem Papier sprichst, ist es immer noch deine eigene Symphonie." Nelson hat auch über die Ermordung ihrer Tante geschrieben - ein schwieriger Balanceakt zwischen Zeugenschaft und Voyeurismus, wie sie ausführt: "Ich würde nie sagen, dass Zeugenschaft nicht ein Hebel des Handelns sein kann, oder dass es keinen intrinsischen Wert hat, oder dass es nicht in sich selbst sehr problematisch sein kann. Ich denke, es ist eher so wie in dem berühmten Susan Sontag-Zitat, ich habe es nicht ganz präsent, aber sinngemäß sagt sie so etwas wie 'Das Problem mit dem Mitleid ist, dass es verwelkt.' Es gibt eine Reihe an Möglichkeiten, etwas damit zu tun. Ich weiß, dass viele Menschen eine Art von Horror-Sättigungs-Müdigkeit erreicht haben, nicht mehr hinsehen können und sich schwere Fragen stellen müssen: Was bedeutet es, hinzusehen? Ändert es, was ich tue?"

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Candy Darling war eine schillernde und doch enigmatische Figur des New Yorks der Sechziger und Siebziger: Filmfan, Fotomodel, Muse für Lou Reed und Andy Warhol - und trans Frau. Sie ist 1974 an Krebs gestorben, wahrscheinlich durch die Hormone ausgelöst, die sie im Rahmen ihrer Transition genommen hat, vermutet Hilton Als, erst jetzt legt Cynthia Carr mit "Candy Darling: Dreamer, Icon, Superstar" eine erste Biografie vor, die sie euphorisch bespricht. "In ihrem verständnisvollen Text bewundert Carr Candy, sieht aber nicht über ihre Selbstbezogenheit hinweg, die, natürlich, ein Teil ihrer Selbsterhaltung war. Wenn sie über Candys apolitische Sicht der meisten Dinge spricht, erinnert Carr uns daran, was wirklich in der Welt um sie herum geschah. Candy hat nicht eine einzige Gay Pride besucht, aber was am 24. Juni 1973 bei einer solchen Parade geschehen ist, sagt eine Menge darüber, wie die trans Welt zu der Zeit selbst von der Schwulenbewegung gesehen wurde. Sylvia Rivera, ein Mitbegründerin von STAR (Street Transvestite Action Revolutionaries), war 'der Kristallisationspunkt der politischen Unruhen des Tages', schrieb Arthur Bell in der Village Voice. Rivera wurde auf dem Weg zur Bühne von den Paradeleitern verprügelt, als sie endlich das Mikrofon erreichen konnte, erklärte sie, dass sie im Namen der Homosexuellen da war, die im Gefängnis misshandelt wurden, wie es auch ihr passierte. 'Mir wurde die Nase gebrochen', erzählte sie der Versammlung. 'Ich bin ins Gefängnis geworfen worden. Ich habe meinen Job verloren. Ich habe meine Wohnung verloren für die Befreiung der Homosexuellen, und so behandelt ihr mich? Was zur Hölle ist falsch mit euch?' Es war 'falsch', trans zu sein. (…) Die Isolation, die Candy in jeglicher Art von Gemeinschaft spürte - in ihrer Familie, in der Schule, im Showbusiness - hat dafür gesorgt, dass sie als Erwachsene keiner Gruppierung mehr beitreten wollte. Und wer hätte sie auch aufgenommen? 'Ich fühle mich, als würde ich in einem Gefängnis leben', hat sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben. 'Es gibt so viele Dinge, die ich nicht erleben werde. Ich kann nicht schwimmen gehen, keine Verwandten besuchen, nicht ohne Make up rausgehen, keinen Freund haben, keinen Job bekommen. Ich sehe so viel vom Leben, das ich nicht haben kann.'"

Magazinrundschau vom 19.03.2024 - New Yorker

Timothy Ryback hat mit "Takeover. Hitler's Final Rise to Power" ein Buch über die sechs Monate vor Hitlers Machtübernahme und über seine wichtigsten Wegbereiter geschrieben, das Adam Gopnik für den New Yorker gelesen hat. Die durchaus berechtigte Frage, warum die katholischen Zentrumspolitiker nicht mit den Sozialdemokraten koalieren wollten oder konnten, um eine nationalsozialistische Regierung zu verhindern, wird für Gopnik hier zwar nicht beantwortet, dafür lernt er neben dem vormaligen Reichskanzler Schleicher den Medienmogul Alfred Hugenberg als zentralen Steigbügelhalter kennen: "Der Besitzer der führenden Filmstudios des Landes, des Nachrichtendienstes, der rund 1600 Zeitungen mit Informationen beliefert hat, war alles andere als ein Bewunderer. Er hat Hitler als manisch und unzuverlässig, aber als essentiell dafür angesehen, die gemeinsamen Ziele voranzutreiben. In diesem entscheidenden Jahr war er immer wieder politisch mit ihm verbunden. Hugenberg hatte sein Medienunternehmen in den späten 1910er Jahren gegründet, weil er große Teile der deutschen Presse für voreingenommen den Konservativen gegenüber hielt, und er teilte Hitlers Hass auf die Demokratie und auf die Juden. Aber sich selbst hielt er für einen kultivierteren politischen Mitspieler und wollte die Medien, die er kontrollierte, für seine 'Katastrophenpolitik' nutzen, eine kulturpolitische Kriegsführung, bei der die Strategie, wie Ryback betont, darin bestand, die 'Öffentlichkeit mit hetzerischen Nachrichten, Halbwahrheiten, Gerüchten und kompletten Lügen zu überfluten.' Das Ziel war es, die Öffentlichkeit zu polarisieren und jede Möglichkeit eines Konsens zu unterdrücken. Hugenberg hat Hitler Geld und Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, aber er hatte seine eigenen politischen Ambitionen (die allerdings durch sein persönliches Auftreten unterminiert wurden, sein Spitzname war 'Der Hamster') und seine eigene Partei. Hitler war rasend eifersüchtig auf dieses Rampenlicht. Zwar hat er Hitler in seinen Medien unterstützt, aber er hat Hitler auch überzeugen wollen, sich rational zu verhalten und sich mit Posten für Nazis im Parlament zufrieden zu geben, sollte es für die Kanzlerschaft nicht reichen."

Weitere Artikel: Margaret Talbot porträtiert Candida Royalle, die versucht die Pornoindustrie feministisch zu revolutionieren. Kelefa Sanneh hört Country von Ian Munsick. Jackson Arn betrachtet Landschaften von Klimt in einer Ausstellung der Neuen Galerie in New York.

Magazinrundschau vom 26.03.2024 - New Yorker

Die Zukunft des Bauens spielt sich auf dem Wasser ab, versichert der niederländische Architekt Koen Olthuis dem New-Yorker-Autor Kyle Chayka. Olthuis' Architekturbüro baut Häuser, die auf einer Art speziellem Beton-Floß stehen, das dank Luftkammern nicht so schwer ist wie gewöhnlicher Beton und daher auf dem Wasser schwimmen kann. Diese Art des Bauens wird mit dem erwarteten Anstieg des Meeresspiegels besonders in Ländern wie den ständig überschwemmungsbedrohten Niederlanden wichtig, das bisher anspruchsvollste Projekt befindet sich aber in Lyon, dort hat die Firma Waterstudio das "Théâtre L'Île Ô" in der Rhône gebaut: "Wenn sie in die Lobby des Theaters kommen, sind die Besucher vom Boden bis zur Decke umgeben von Balken aus hellem Kreuzlagenholz, ein leichter Holzbaustoff. Als ich mir die Räumlichkeiten angeschaut habe, wurde gerade eine Kinderproduktion von 'Farm der Tiere' im größeren der beiden Theaterräume aufgeführt, in einem höhlenartigen Saal mit 240 Sitzplätzen. Lange Bambusstreifen zeichneten wellenartige Muster auf Wände und Decke, sie dienen der Akustik und spiegeln zugleich die aquatische Umgebung wider. Der Boden ist gemustert wie Konfetti. Der fensterlose Raum schien mir viel zu groß, um in dem Gebäude Platz zu finden, das ich betreten hatte, und gewissermaßen war er das auch: Von außen betrachtet versteckt sich ein Drittel der Höhe des Theaters im Fluss. 'Jetzt befinden Sie sich unter Wasser', sagte mir einer der Bühnenarbeiter. Er versicherte, dass er die Bewegungen des Gebäudes nur dann spürt, wenn ein großes Schiff mit hoher Geschwindigkeit vorbeifährt."

Außerdem: Helen Shaw porträtiert die Theaterregisseurin Lila Neugebauer, die nach zwanzig Jahren erstmals wieder "Onkel Wanja" an den Broadway bringt. Sam Knight fragt, was vierzehn Jahre Tory-Regierung mit Britannien gemacht haben. Gideon Lewis-Kraus liest zwei Bücher - von Fareed Zakaria und Nathan Perl-Rosenthal - über den Zauber und die Gefahren von Revolutionen. Jackson Arn berichtet von der Whitney Biennale. Alex Ross hört Bartoks Streichquartette mit dem Escher Quartett und Igor Levit mit "teuflisch schwierigen" Transkriptionen von Beethoven- und Mahler-Symphonien. Justin Chang sah im Kino Doug Limans "Road House".

Magazinrundschau vom 12.03.2024 - New Yorker

Das Internierungslager Al-Hol in Syrien ist ein Ort, den der Westen gerne vergisst, hält Anand Gopal für den New Yorker fest: Die gleichnamige Stadt war einst eine Hochburg des IS, in dem Lager müssen nun Anhänger wie Opfer mit- und nebeneinander leben, mit wenig Aussichten, jemals wieder dort herauszukommen. Von den rund 50 000 Internierten sind über die Hälfte Kinder, die meisten davon jünger als zwölf Jahre: "Für viele Kinder ist das Gebiet hinter dem Zaun mysteriös und möglicherweise gefährlich. Ich habe mit dutzenden Kindern gesprochen und sie wussten so gut wie nichts über das Leben außerhalb von Al-Hol. Viele hatten noch nie von Syrien, dem Irak, Amerika oder sogar dem Fernsehen gehört. (Als Abu Hassan, früherer IS-Kommandeur, einen Flachbildfernseher in das Camp schmuggelte, rief seine Tochter, 'Schau mal, was für ein großes Handy das ist!') Ich habe Aisha kennengelernt, eine Siebenjährige, die erklärte, sie komme aus Aleppo, aber als ich sie gefragt habe, was Aleppo ist, hatte sie keine Ahnung. Sie wusste nicht, warum sie im Lager ist und ihr Tagesablauf bestand darin, sich früh in die Schlange für die Toiletten zu stellen und die Security-Leute zu vermeiden, von denen sie glaubte, sie würden sie erschießen, wenn sie ihnen zu nahekommt. Naser, sechs Jahre alt, wusste nicht, was das Camp von anderen Lebensumgebungen unterscheidet. Ein anderes Kind hat damit angegeben, dass es einmal 'bewegte Zeichnungen' gesehen habe, von denen ich vermute, dass es eine Cartoon-Sendung war, und gefragt, wo sie noch mehr davon sehen könne. (…) Ich habe die Kinder gefragt, was sie denken, was wohl auf der anderen Seite des Zauns ist. Unter den Antworten, die ich bekommen habe: 'nichts', 'hungrige Menschen', 'Hunde', 'Soldaten', 'Treppen', 'Häuser', 'Gärten', 'Ungläubige', 'mein Vater.'" Obwohl er den religiösen Fanatismus vieler Bewohner mit Steinwürfen selbst zu spüren bekommt, macht Gopal für die niederschmetternde Lage der Bewohner Assad, die Türkei und die USA verantwortlich. Die Islamisten hat er schon wieder vergessen.

Außerdem: Andrew Marantz überlegt, ob KI die Menschheit besser machen wird. Benjamin Kunkel liest ein Buch über die komplizierte Beziehung Platonows zu Stalin. Alex Ross erzählt, wie Arnold Schönberg Hollywoods Filmmusik beeinflusste. Richard Brody sah im Kino Rose Glasses "Love Lies Bleeding".

Magazinrundschau vom 05.03.2024 - New Yorker

Zehn Jahre ist es her, dass 43 Studenten eines ländlichen Colleges in Mexiko verschwanden. Acht Jahre dauerte es, bis einzelne mexikanische Ermittler, ein Ermittlungstrupp aus Argentinien und eine Gruppe internationaler Experten (GIEI), ungefähr zusammengepuzzelt hatten, was damals geschehen war (offenbar hatten Polizisten und eine Drogenbande mit Wissen des Militärs die Studenten ermordet und verbrannt). Die Verantwortlichen wurden niemals bestraft, berichtet Alma Guillermoprieto in ihrer Reportage. Was bleibt, ist das Leid der Familien: "Sechs Jahre nach dem Massaker erhielten Clemente Rodríguez und seine Frau Luz María Telumbre in ihrem Haus in Tixtla Besuch von [den mexikanischen Ermittlern] Gómez Trejo, Encinas und zwei Mitgliedern des Centro Prodh. Die Gruppe informierte sie über ein zwei Zentimeter großes Knochenfragment, das Gómez Trejos Team in einer trockenen Rinne gefunden hatte. Das argentinische Team hatte bestätigt, dass die aus dem Fragment gewonnene DNA zu Christian Rodríguez Telumbre gehörte, eine von nur drei positiven Identifizierungen, die in all der Zeit gemacht wurden. 'Wir haben versucht, dem Ereignis eine gewisse Würde und einen Sinn für Zeremonien zu verleihen', sagte mir Gómez Trejo über den Besuch. Aber es war hoffnungslos, einen Zwanzigjährigen, der fröhlich durch das Haus seiner Eltern hüpfte und Schritte aus den Folkloretänzen übte, nach denen er verrückt war, durch ein gebrochenes Stück Knochen zu ersetzen. Als ich Doña Luz María im letzten Frühjahr in Mexiko-Stadt zu Beginn eines Elternmarsches traf, fragte ich sie nach diesem Moment. Sie ist eine hübsche Frau mit einer leichten, liebevollen Art, aber ihre Stimme konnte den scharfen Ton nicht verbergen, als sie antwortete. 'Ich bedankte mich', erzählte sie mir, 'und fragte, von welchem Körperteil dieser Huesito' - ein kleiner Knochen - 'stamme'. Man teilte ihr mit, dass es ein Teil von Christians rechtem Fuß sei. 'Aber ich habe schon Leute gesehen, die einen Fuß verloren haben und noch leben', sagte sie, ohne ihre Stimme zu erheben. 'Ich bin nicht zufrieden. Ich will meinen Sohn.'"
Stichwörter: Mexiko

Magazinrundschau vom 27.02.2024 - New Yorker

Ian Urbina beschreibt in einer eindrucksvollen Reportage die katastrophale Situation nordkoreanischer Zwangsarbeiter in China. Eigentlich sollen Sanktionen dies verhindern, aber trotzdem arbeiten allein in der Hafenstadt Dandong wohl etwa 80 000 Nordkoreaner. Sie werden von ihrer Regierung entsendet: "Regierungsvertreter wählen sorgfältig, welche Arbeiter sie nach China schicken, sie überprüfen ihre politische Loyalität, um das Risiko einer Flucht zu senken. Um sich zu qualifizieren, muss eine Person generell einen Job in einer nordkoreanischen Firma haben und von einem lokalen Parteimitglied positiv bewertet werden. 'Diese Überprüfungen beginnen schon in der Nachbarschaft', erklärt der Nordkorea-Experte Remco Breuker. Kandidaten, die Familie in China oder einen geflüchteten Familienangehörigen haben, können sich damit disqualifizieren. Für manche Stellen müssen unverheiratete Bewerber unter 27 Jahren noch lebende Eltern haben, die im Falle einer Flucht bestraft werden können, heißt es in einem Bericht der südkoreanischen Regierung; Bewerber über 27 müssen verheiratet sein. Die nordkoreanischen Behörden entscheiden sogar nach Körpergröße: Die Bevölkerung des Landes ist chronisch unterernährt und der Staat zieht Kandidaten vor, die größer als 1,55m sind, um die offizielle Blamage zu umgehen, im Ausland von kleinen Menschen repräsentiert zu werden." Es wird nicht besser für die Arbeiter, wenn sie erst einmal in China angekommen sind: Die Interviewten, "alles Frauen, haben das Eingesperrtsein und die Gewalt in den Fabriken beschrieben. Die Arbeiter werden in Lagern festgehalten, manchmal hinter Stacheldraht, beobachtet von Sicherheitsmännern. Viele arbeiten zermürbende Schichten und haben höchstens einen Tag im Monat frei. Mehrere haben geschildert, wie sie von den Managern geschlagen wurden, die von Nordkorea entsendet wurden, um sie zu überwachen. 'Es war wie im Gefängnis für mich,' hat eine Frau geschildert. 'Am Anfang musste ich mich fast übergeben, weil es so schlimm war, und, als ich mich gerade daran gewöhnt hatte, haben die Überwacher uns befohlen, still zu sein und geflucht, wenn wir miteinander gesprochen haben.' Viele haben den sexuellen Missbrauch durch ihre Manager geschildert. 'Sie haben mir gesagt, ich sei fickbar und haben mich angefasst, meine Brüste begrabscht und mit ihren dreckigen Mündern meinen berührt.' (…) Eine Frau, die mehr als vier Jahre in der Dalian Haiqing Food-Fabrik gearbeitet hat, sagte mir: 'Es wird oft betont, wenn du beim Wegrennen erwischt wirst, wirst du getötet, ohne eine Spur zu hinterlassen.'"

Außerdem: Kathryn Schulz beschreibt die Gefahren von Sonnenstürmen. Shane Bauer erzählt in einem Brief aus Israel von den Aggressionen israelischer Siedler gegen die Palästinenser. Anthony Lane erwärmt sich für den romantischen Dichter Lord Byron. Maggie Doherty liest eine neue Biografie über Carson McCullers. Justin Chang sah im Kino Nuri Bilge Ceylans "Auf trockenen Gräsern".

Magazinrundschau vom 20.02.2024 - New Yorker

Rebecca Giggs begibt sich für den New Yorker in die amerikanischen Zuchtlabore für Königpythons, die eher der Science-Fiction-Literatur zu entspringen scheinen als der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Spezies. Züchter wie Justin Kobylka sind in der Lage, Schlangen mit ganz spezifischen optischen Merkmalen zu züchten, sodass sie beispielsweise aussehen wie eine überreife Banane. Was bedeutet es aber für die Tiere, dass sie zu optisch ansprechenden Konsumobjekten werden? "Dass die Designer-Pythons zu einer reinen Augenweide für Menschen geworden sind, heißt, dass sie nun über einige evolutionäre Vorteile verfügen, die Haustieren so eigen sind, unter Anderem weiträumige Verbreitung. 'Es gibt keine einzige Spezies von Haustieren, die gefährdet wäre', hat mir Marcelo Sánchez-Villagra berichtet. 'Viele lassen sich weltweit finden.' Mit dem zunehmenden Rückgang natürlicher Habitate könnte es eine gute Strategie sein, sich inmitten der menschlichen Kultur auszubreiten. 'Gibt es eine bessere Überlebensstrategie als hübsch und selten zu sein?', fragt Bob Clark. 'Diese Merkmale werden sich in den kommenden Generationen noch vermehren, weil Menschen sie mögen, nicht weil sie davor schützen, gefressen zu werden.'" Wie bei allen Züchtungen gibt es jedoch auch hier manchmal für die Tiere sehr unangenehme Folgen, lernt Giggs: "Der 'Duckbill', bei dem die Nase nach oben zeigt und flach ist, ist eine gutartige Verformung, aber es heißt, dass einige Kreuzungen, wie zum Beispiel der 'caramel albino' eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, Nachkommen mit Wirbelsäulenverkrümmungen zu produzieren, ein Zustand, der sie daran hintern kann, sich schlängelnd zu bewegen oder die Verdauung fatal behindern kann. (…) Im Internet haben sich Züchter dagegen eingesetzt, dass Kreuzungen vorgenommen werden, von denen bekannt ist, dass sie zu Beeinträchtigungen führen. ('Wir wollen Mutationen, die nur die Haut betreffen', so Kobylka, 'Wir wollen nicht, dass das Tier in irgendeiner Weise verändert wird, die seine Überlebensfähigkeit beeinträchtigt.') Aber einige unübliche Missformungen, die nicht mit den Kreuzungen in Verbindung stehen, können sich als einträglicher Glücksfall erweisen: Zu Beginn des Jahres hat Clark eine zweiköpfige Python für 100 000 Dollar verkauft. 'Beide Köpfe fressen', versichert er mir, als ich mich nach der Gesundheit der Schlange erkundige."

Magazinrundschau vom 06.02.2024 - New Yorker

In Ian Burumas aktuellem Buch "Spinoza: Freedom's Messiah" ist Baruch Spinoza mit seiner in der frühen Neuzeit radikalen Idee der libertas philosophandi, einem ganz und gar freien Denken, der Philosoph der Stunde, schreibt Adam Kirsch. Spinoza wurde einst wegen seiner als häretisch angesehenen Überzeugungen und Vorstellungen von Gott aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen: "Spinoza insistiert auf der Gedankenfreiheit, weil für ihn ein tiefes Verstehen der Schlüssel zum Glücklichsein ist. Wenn religiöse Autoritäten den Menschen vorschreiben, was sie glauben sollen, erschweren sie es, zu einer korrekten Auffassung von Gott zu kommen und blockieren so den Weg zur Seligkeit. Spinoza hat sich für eine demokratische Regierung eingesetzt, weil er es für wahrscheinlicher als in einer Monarchie oder Aristokratie hielt, dass sie die libertas philosophandi erhält und so Menschen ermöglicht, glücklich zu werden. Wie er in seinem 'Tractatus' schreibt: 'Die Basis und das Ziel einer Demokratie ist es, das irrationale Verlangen zu vermeiden, und die Menschheit so weit wie möglich unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen, sodass sie in Frieden und Harmonie leben kann.' Das ist offensichtlich keine Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft. Die liberale Demokratie, wie wir sie kennen, beruht auf einer gewissen Annahme über Gleichberechtigung: Wenn alle Menschen gleich sind, hat niemand ein Monopol auf die Wahrheit oder Weisheit, also hat auch niemand das Recht, anderen ohne ihre Zustimmung etwas vorzuschreiben. So ist die Demokratie ein Seiltanz der dauernden Meinungsverschiedenheiten, in dem Individuen und Gruppen um eine Art akzeptablen Konsens ringen. So hat Spinoza nicht über Freiheit gedacht. Er hat angenommen, dass es eine Wahrheit gibt, die er versteht und die meisten anderen nicht, und seine Erfahrungen mit Religion und Politik haben ihm keine Illusionen bezüglich der Weisheit der Mehrheit gelassen (…) Wenn wir uns, wie Buruma warnt, in eine Ära begeben, in der die 'Gedankenfreiheit von säkularen Theologien bedroht wird', könnte Spinoza das Vorbild sein, das wir brauchen: Ein Denker, der die ungeheuerlichsten Wahrheiten ausspricht, die er kennt, und trotzdem im eigenen Bett gestorben ist."

Calvin Tomkins porträtiert Thelma Golden, Direktorin des Studio Museums in Harlem, die gegen alle Widerstände schon als junge Kuratorin am Whitney Museum of American Art Kunst schwarzer Künstler in den 1990er Jahren sichtbar machte: "Golden erkannte, dass die Kunstgeschichte, die sie bis dahin gelernt hatte, unvollständig war, weil die Kunst von Schwarzen in der ihr zugewiesenen Lektüre meist fehlte. Als sie einem ihrer Kunstgeschichtsprofessoren am Smith College sagte, sie wolle über schwarze Kunst schreiben, zog er einen Katalog mit schwarzen Gemälden von Frank Stella hervor. (Sie stellte klar, dass sie schwarze Künstler meinte, und er riet ihr davon ab.) In der akademischen Welt lehrte kaum jemand Golden etwas über schwarze Kunst, aber sie war damit aufgewachsen. Mehrere Freunde ihrer Eltern waren ernsthafte Sammler, und sie hatte in der schwarzen Presse über Faith Ringgold, Charles White und andere Künstler gelesen. In der Smith-Bibliothek fand sie den Katalog 'Two Centuries of Black American Art', David Driskells bahnbrechende Ausstellung von 1976 im Los Angeles County Museum of Art. Die Bibliothek verfügte auch über ein Buch von 1973 mit dem Titel "The Afro-American Artist: A Search for Identity' von Elsa Honig Fine. 'Ich habe jeden Künstler in diesen Büchern studiert', erzählte mir Golden. 'Ich habe sie mir sozusagen eingeprägt.' Einige der frühesten Künstler im Driskell-Katalog - Patrick Reason, Robert S. Duncanson und andere Porträtisten und Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts - waren eindeutig von Thomas Cole und anderen weißen Künstlern der Romantik beeinflusst. Henry Ossawa Tanner (1859-1937), der erste weithin bekannte afroamerikanische Maler, studierte bei Thomas Eakins und malte Szenen, die Schwarze darstellten. 1891 ging er jedoch nach Paris, wo er für den Rest seines Lebens blieb und praktisch ein europäischer Künstler wurde. Spätere Generationen wie Aaron Douglas, Augusta Savage, Charles Alston, Selma Burke und Norman Lewis machten in Amerika trotz aller Widrigkeiten eine Karriere als Künstler. (Burkes Porträt von Franklin Delano Roosevelt gilt als Vorlage für sein Profil auf dem Dime). Alle diese Künstler waren Teil der Harlem Renaissance in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, einer Explosion von Innovationen in der Kunst, die Harlem als kreatives Zentrum der schwarzen Kultur etablierte. Schwarze Musiker dieser Zeit - Louis Armstrong, Eubie Blake, Duke Ellington - erreichten zwar ein weißes Publikum, aber es sollte noch siebzig Jahre dauern, bis das weiße Kunstestablishment ernsthaft zur Kenntnis nahm, was schwarze Künstler taten."

Weitere Artikel: Maggie Shannon porträtiert amerikanische Frauen, die in eine Klinik nach Maryland reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Alexandra Schwartz blickt auf die Geschichte der rächenden Frau in der Literatur.

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - New Yorker

Masha Gessen, deren Essay über die ihrer Meinung nach verfehlte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch Polen und der Ukraine in unguter Erinnerung ist, liefert nun eine ausführliche Reportage über den Kriegsalltag in der Ukraine, die immerhin den Vorteil hat, nüchtern bei den Fakten zu bleiben. Viel Hoffnung scheint Gessen der Ukraine nicht mehr zu geben. Um die Demokratie zu verteidigen, muss sie die Demokratie zumindest suspendieren, beobachtet sie. Die geplanten Präsidentschaftswahlen sind ausgesetzt, auch mit Rücksicht auf all die Ukrainer, die im Krieg sind, das Land verlassen haben oder interne Flüchtlinge sind. Und doch: Selenski hatte als ein Kandidat gegen das Establishment begonnen, aber nun ähnele er jenen Funktionären, die er verjagen wollen, verschanzt in eine Festung. Der Krieg verstetigt sich. Die Spannungen in der Bevölkerung verschärfen sich. "Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben oft wenig Geduld mit den Ukrainern im Ausland. 'Ich bin sehr wütend auf Frauen, die gehen und ihre Männer hier lassen', sagt Kateryna Ukraintseva (eine Aktivistin aus Butscha). "Entweder man ist eine Familie oder nicht. Man sollte die Dinge gemeinsam durchstehen.' Die Scheidungsraten sind stark gestiegen, und es ist eine Binsenweisheit, dass viele Frauen, die nach Westeuropa gegangen sind, sich ein neues Leben aufgebaut haben. 'Jeder Mann, den ich kenne, der seine Frau und seine Kinder ins Ausland geschickt hat, ist inzwischen geschieden', sagt mir der Soziologe Denys Kobzin. 'Die Kluft zwischen denen, die im Krieg gekämpft haben, und den anderen wird immer größer.' Serhiy Leshchenko, Berater von Zelensky, stimmt zu. 'Es ist an der Zeit, dass jene, die sich als Ukrainer sehen, zurückkommen', sagt er. 'Die Schulen in Kiew sind geöffnet - sie haben alle Luftschutzbunker. Freunde von mir, die mit immer neuen Ausreden kommen, sind keine Freunde mehr.'"

Was hält die Zukunft des Internets bereit, fragt sich Akash Kapur. Als Projekt der ultimativen Freiheit gedacht, muss es sich jetzt angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Techgiganten fragen, ob Regierungskontrollen mehr schaden oder nutzen. Indien versucht mit der Plattform India Stack einen Mittelweg: "Auf einem grundlegenden Level war das Programm eine Bemühung, so etwas wie Sozialversicherungsnummern zu schaffen - keine ganz einfach Leistung für ein so großes Land wie Indien, aber an sich nicht wirklich revolutionär. Unter der Leitung des Tech-Milliardärs Nilekani hat die Plattform sich gegen die öffentliche Skepsis durchgesetzt, gegen bürokratische Lähmungen und gesetzliche Hürden, und 1,4 Milliarden Bürger registriert. Diese verfügen nun über eine Identitätsnummer aus zwölf Ziffern, die als Aadhaar (Hindu für Grundlage) bekannt ist und mit biometrischen Daten wie Irisscans und Fingerabdrücken gefüttert ist. Die wahre Errungenschaft Nilekanis ist es aber, die ID-Nummern als Grundlage einer integrierten digitalen Ökologie ('the stack') zu nutzen. Sie besteht aus staatlich ermöglichten Modulen (sie werden gemeinhin als digital public infrastructure oder DPI bezeichnet), die es den Bürgern erlauben, Online-Bezahlvorgänge durchzuführen, Sozialleistungen zu beziehen, Bankgeschäfte zu tätigen und offizielle Dokumente zu hinterlegen und bescheinigen zu lassen (zum Beispiel Covid-Impfdokumente). So baut die Regierung das, was die World Bank als 'ausloten' einer kontrollierteren - und vielleicht weniger toxischen - Version des Internets versteht, mit Raum für private Programmierer, die, darauf aufbauend, neue Plattformen und Services entwickeln." Ob dadurch nicht auch eine neue Möglichkeit staatlicher Überwachung geschaffen wird, fragt sich dabei nicht nur Kapur. Sicher ist nur der stetige Wandel: "Das Internet bleibt ein Work in Progress. Aber es gibt Gründe, davon auszugehen, dass seine Zukunft von einem ganz anderen Standpunkt aus geschrieben wird als seine Vergangenheit."

Weiteres: John Seabrook fragt sich, wie KI der Musikindustrie nutzen wird. Merve Emre stellt die Naturphilosophin, Autobiografin und Romanautorin Margaret Cavendish (1623-73) vor. Alex Ross hört die Oper "Chornobyldorf" von Roman Grygoriv und Ilia Razumeiko.