Efeu - Die Kulturrundschau

Keine Schreierei nirgends

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2024. Die Welt sieht für den Schriftstellerverband PEN nach den jüngsten Entgleisungen von BDS-nahen Mitgliedern keine große Zukunft mehr. Außerdem staunt sie über die "Immaterialität" des gigantischen Bauprojekts "Neom" in der Wüste Saudi Arabiens. Das hätte Wagner nicht gefallen: FAZ und FR sehen Matthew Wilds homosexuellen "Tannhäuser" in Frankfurt. Die israelische Sängerin Eden Golan sollte ihr Hotelzimmer während des ESC in Malmö nicht verlassen, berichtet die taz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 finden Sie hier

Literatur

Das mächtige Rumoren im amerikanischen PEN Club, bei dem eine offenbar unter dem Einfluss von BDS stehende Basis gegen den teils mit Zionisten besetzten Vorsitz rebelliert und auf jede diplomatische Handreichung mit noch schrilleren Rücktrittsforderungen reagiert (unser Resümee), hatte im deutschen Feuilleton bislang irritierend wenig Niederschlag gefunden. Hannes Stein bricht in der Welt das Eis - und sieht für die Schriftstellervereinigung nach jüngsten Entgleisungen kaum noch eine Zukunft. Ihre eigene "Charta verpflichtet den PEN-Club nur auf das Eintreten für die Meinungsfreiheit, dieses allerdings unbedingt; von anderen politischen Themen, für die sich der PEN-Club einsetzen soll, ist nicht die Rede, nicht vom Klimawandel, nicht vom Wohlfahrtsstaat, nicht von der Unterstützung der bzw. Gegnerschaft zur Nato. Und das kann auch nicht anders sein: Schriftsteller haben alle möglichen (und unmöglichen) politischen Haltungen, vom Anarchismus bis zum Ultrakonservatismus, die Meinungsfreiheit ist die einzige Geschäftsgrundlage, auf die sich im Zweifel die meisten einigen können. Wenn nun die Verurteilung Israels und der Rausschmiss ihrer jüdischen Vorstandsvorsitzenden wegen Verdachts auf Zionismus zur Geschäftsgrundlage werden soll, werden viele, vielleicht sogar die meisten Mitglieder des amerikanischen PEN-Clubs diesen verlassen."

Auf der Seite Drei der SZ erzählt Frank Nienhuysen von dem "unheimlichen Bücherdiebstahl", der "sich durch Europa zieht, seit zwei Jahren": Diebe brechen in große, zuvor oft mit Agentenmethoden ausspionierte Bibliotheken ein, um Originalausgaben russischer Werke zu stehlen und teils durch Fälschungen zu ersetzen. Vor wenigen Tagen wurden die Diebe in Georgien gefasst, unklar ist aber die Motivation. Könnte es Patriotismus sein, der russische Kultur aus dem Westen nach Hause bringen will? "Einige der gestohlenen Bücher tauchten in Russland auf. Nach Angaben von Europol wurden sie über Auktionshäuser in Sankt Petersburg und Moskau verkauft. Eines davon für 30 500 Euro, wie der polnische Wissenschaftler Hieronim Grala, Professor an der betroffenen Universität Warschau, der Nachrichtenagentur AFP sagte. 'Mir ist klar, dass die gesamte Aktion zentral von Russland aus organisiert wurde', sagte er." Die Berliner Archivarin Aglaé Achechova ist überzeugt, dass die Diebe "Leute sind, die einfach viel Gewinn machen wollen".

Besprochen werden unter anderem Thomas Kunst Gedichtband "Wü" (taz), George Saunders' Erzählband "Tag der Befreiung" (online nachgereicht von der Zeit), Jane Gardams "Gute Ratschläge" (FR), Constance Debrés autobiografischer Roman "Love me Tender" (Intellectures), Thomas Medicus' "Klaus Mann. Ein Leben" (online nachgereicht von der Zeit, Welt), Kettly Mars' "Kasalé" (FAZ) und eine Arte-Doku über Art Spiegelmans Comicklassiker "Maus" (taz).

Archiv: Literatur

Musik

Am übernächsten Samstag, den 11. Mai, findet in Malmö der Eurovision Song Contest statt - und die Sicherheitsvorkehrungen rund um die israelische Sängerin Eden Golan laufen auf Hochtouren, berichtet Jan Feddersen in der taz. Diese "soll ihr Hotelzimmer während ihrer Tage in Schweden nicht verlassen, allzu prekär sei die Situation. ... Eine Israelis willkommen heißende Stadt, eine, die die spezifische Bedrohtheit von Jüdinnen und Juden überhaupt ernst nimmt, gibt es in Schweden ohnehin keine, Malmö wäre die allerletzte, die für dieses Prädikat geeignet wäre. Offen ist auch, ob sich die israelische Delegation mit ihrer Sängerin an der Willkommensgala am kommenden Sonntag beteiligen wird: Allzu groß könnte nicht nur die Gefahr sein, dass Pro-Hamas-Demonstrationen für schlechte Bilder sorgen, sondern, so sagen Menschen aus dem Umfeld jüdischer Organisationen, es könne kaum riskiert werden, dass Malmö zu einem Ort des Massakers wie München bei den Olympischen Sommerspielen 1972 wird."

Außerdem: Nick Joyce plaudert für den Tagesanzeiger mit den Pet Shop Boys. An Artemas' Hit "I Like The Way You Kiss Me" kommt auch Taylor Swift in den deutschen Single-Charts nicht vorbei, schreibt Nadine Lange im Tagesspiegel. Und Axel Brüggemann führt in Backstage Classical durch die Klassikwoche. Besprochen wird Jeremy Eichlers Buch "Das Echo der Zeit" über Richard Strauss, Arnold Schönberg, Dmitri Schostakowitsch sowie Benjamin Britten und die Musik während des Zweiten Weltkriegs (Welt).

Archiv: Musik

Kunst

Maarten van Heemskerck, Blick auf das Forum Romanum, Detail, um 1532-1536, Vorzeichnung in schwarzer Kreide, Feder in Braun, braun und grau laviert © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Volker-H. Schneider

Überwältigt ist Gustav Seibt in der SZ vom Werk des niederländischen Malers Maarten van Heemskerck, das er nun in einer Ausstellung im Kulturforum in Berlin zum ersten Mal in Gänze bewundern darf. 1532 begab sich der Maler nach Rom und begann "alles, was mit Kunst und Vergangenheit zu tun hatte, zu zeichnen", so Seibt: "Rom, seine Ruinenwelt wird da zu einer Phantasmagorie in tiefgestaffelten, lichtperspektivischen Kunstlandschaften, in denen man sich stundenlang verlieren möchte. Maarten ist einer Begründer der neuzeitlichen Ruinenromantik, so wenig er Stimmungszeichner ist. Ruinen gab es Rom nicht nur aus der Antike, sondern eben auch des päpstlichen Baubooms wegen - die Ruine bekam einen doppelten Richtungssinn ins Vergangene und Künftige. Dazwischen Vegetation, Tiere, darüber Himmel und Licht. Das Widerspiel von kleinteiliger Treue und Weite ist ein unerhörter Reiz - Maarten kann halbe Blätter leer lassen, und die Leere atmet."

Weiteres: Stephanie Grimm besucht für die taz die Ausstellung  "The Culture" in der Frankfurter Schirn, die den Zusammenhang zwischen Hip Hop und Kunst beleuchtet. In diesem Zusammenhang untersucht Julian Weber einen eventuellen Fall von Ideenklau: Hat Frankfurt einfach ein "Container-Soundsystem" des Konzeptkünstlers Nik Nowak übernommen? Besprochen wird eine Retrospektive von Rebecca Horn im Haus der Kunst in München (tsp) und eine Retrospektive des Fotografen Chris Killip in der Deutsche Börse Photography Foundation Eschborn (FR).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Heemskerck, Maarten van, Rom

Architektur

"The Line". Quelle: NEOM

So etwas gab es noch nie, stellt Dankwart Guratzsch in der Welt fest: Das Riesenprojekt "Neom", das der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman in Auftrag gegeben hat (unser Resümee) sprengt wirklich alle Vorstellungen: "Ein 500 Meter hohes Gebäude (hundert Meter höher als das Empire State Building in New York) soll nicht etwa als Turm, sondern als massive, starre Wand in die Wüste gesetzt werden - und zwar gleich als Doppelpack, in zwei parallelen miteinander verbundenen und wechselseitig versteiften Scheiben." Dahinter steckt, vermutet Guratzsch, wohl eine recht alte Idee: "den Städten und der Landschaft ein geometrisches Ordnungsgerüst überzustülpen - endzeitlich, kosmisch, menschenfern." Vielleicht, meint er, "ist es der Albtraumcharakter derartiger Assoziationen, der den saudischen Kronprinzen bewogen hat, sein Projekt 'The Line' gleichsam aus der Realität ins Immaterielle zu entrücken. Architektonisch entzieht sich der Bau nach außen hin jeder Greifbarkeit. Die Fassaden sind haushoch mit Solarpaneelen verspiegelt, was dem Koloss einen fast imaginären fatamorganahaften Charakter, eine vollendete Scheinhaftigkeit verleiht."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Neom, Saudi-Arabien

Film

Trip ins Innere: "Der Junge, dem die Welt gehört"

Der Schauspieler und Musiker Robert Gwisdek hat mit "Der Junge, dem die Welt gehört" sein "verspieltes Debüt" als Regisseur vorgelegt, schreibt Jens Balkenborg in der FAZ, und erzählt darin "von einem Musiker, dessen Auftrag darin bestehe, ... die Welt in Musik zu verwandeln". Bei den Hofer Filmtagen gab es für diese im übrigen ohne den regulierenden Durchgriff der Filmförderbürokratie entstandene "Reise ins Innere", diesen "tiefenpsychologischen Trip" bereits eine Auszeichnung für die beste Regie. "Der Film erzählt märchenhaft-tänzerisch, das Innere mit dem Äußeren verbindend - man achte auf die Türen -, von der Poesie der Welt, der Liebe und der Freiheit."

Weitere Artikel: Marisa Buovolo (NZZ) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren Jane Campion zum 70. Geburtstag. Josef Nagel führt in einem Filmdienst-Essay durch Campions Werk. Besprochen werden David M. Leitchs Actionkomödie "The Fall Guy" mit Emily Blunt und Ryan Gosling (Standard, Welt, Presse) und Zack Synders Netflix-SF-Reißer "Rebel Moon 2: Die Narbenmacherin" (Presse, critic.de).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Tannhäuser" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller.

"Schräg" findet Judith von Sternburg die Grundidee der "Tannhäuser"-Inszenierung von Matthew Wild an der Oper Frankfurt. In Wilds Version ist Tannhäuser homosexuell, was zwar keine schlechte Idee ist, weil das seine Außenseiterposition hervorhebt, meint von Sternburg. Die Inszenierung begibt sich damit aber in ein Dilemma, darin bestehend, "dass Tannhäuser sich seine Homosexualität nicht nur von seinem Umfeld als unverzeihliche Sünde vorwerfen lassen muss, sondern bekanntlich auch selbst von Reue ganz zerknirscht ist ..." Dennoch kann Sternburg der Inszenierung einiges abgewinnen: Vor allem Herbert Barz-Murauers Drehbühnenbild, das die Zuschauer in eine US-Universität Anfang der Sechziger versetzt, hat es ihr angetan: "Beim Weiterdrehen zeigt sich der steile, schlichte Hörsaal, in dem der Sängerwettstreit stattfinden wird (wie von Thomas Guggeis schon angekündigt, ist das alles extrem sängerfreundlich, ein gewaltiger und gewaltig gut genutzter Vorteil, keine Schreierei nirgends)." FAZ-Kritiker Jan Brachmann ist mit der Inszenierung nur so halb glücklich: Zu viele Klischees über Homosexualität - dafür aber ein Chor in "Höchstform".

Besprochen werden Falk Richters Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Asche" an den Münchner Kammerspielen (taz, Welt), Cathy Marstons Ballettversion von Ian McEwans Roman "Atonement" am Opernhaus Zürich (NZZ), Tobias Kratzers Inszenierung von Richard Strauss Ehekomödie "Intermezzo" an der Deutschen Oper Berlin (FAZ), Bastian Krafts Inszenierung von Bernard Shaws Stück "Pygmalion" (SZ) und Jan-Christoph Gockels Inszenierung "Der Schimmelreiter / Hauke Haiens Tod" am Deutschen Theater Berlin (FAZ, taz), Marcos Moraus Choreografie "Overture" am Staatsballett Berlin (SZ).
Archiv: Bühne