Efeu - Die Kulturrundschau

Millionen-Tanker deutscher Hochkultur

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22.05.2024. Mit absoluter Einstimmigkeit hat Jenny Erpenbeck für ihren Roman "Kairos" den Booker Prize gewonnen, meldet unter anderem Zeit Online. In Cannes sorgt derweil Ali Abbasis Film über einen jungen Trump, der seine Exfrau Ivana vergewaltigt, für Furore, berichtet die Welt. Die FAZ blickt in München in die dadaistischen Schaukästen von Orhan Pamuk. Und die SZ möchte nach dem Kirchenaustritt nicht weiter für die Instandhaltungskosten von Kirchen zahlen. Im Perlentaucher verteidigt Peter Truschner Ronya Othmann und Juliane Liebert, die Interna aus dem Vergabe des Internationalen Literaturpreises preisgegeben hatten, das Haus der Kulturen wehrt sich indes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2024 finden Sie hier

Literatur

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Beim fünften Mal hat es geklappt: Jenny Erpenbeck gewinnt - gemeinsam mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann - als erste Deutsche für ihren Roman "Kairos" den Booker Prize, meldet unter anderem Zeit Online: "Der Roman, der eine zerstörerische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der DDR erzählt, sei sowohl persönlich als auch politisch, lautete es in der Begründung. Es sei Erpenbeck gelungen, die Verschlingung persönlicher und nationaler Transformationen nachzuzeichnen, sagte die Vorsitzende der Jury, Eleanor Wachtel. Die Entscheidung der Jury sei mit 'erheblichem Konsens' getroffen worden, sagte Wachtel. 'Ich war tatsächlich überrascht über die absolute Einstimmigkeit.'"

Peter Truschner geht im Perlentaucher noch einmal der Aufregung nach, die Juliane Liebert und Ronya Othmann mit ihrer Offenlegung des Entscheidungsprozesses der Jury für den Internationalen Literaturpreises (unser Resümee) hervorgerufen haben. Truschner verteidigt die Autorinnen und weist darauf hin, dass die kritisierte Institution Haus der Kulturen der Welt (HKW) keineswegs ein zartes Pflänzchen im hiesigen Kulturbetrieb ist: "Dass am HKW kulturpolitische Hegemonie im Sinne der vom Haus vertretenen Narrative und Diskurse waltet, ist nichts Neues. Es ist auch nichts Ungewöhnliches, sondern längst Business as Usual an international bedeutenden Kulturinstitutionen und Kunsthochschulen. Insofern kann der Artikel gar nicht 'diffamierend' sein, und schon gar nicht 'das HKW beschädigen', das ein unzerstörbarer Millionen-Tanker deutscher Hochkultur ist. "

Das Haus der Kulturen veröffentlicht unterdessen eine Richtigstellung zum Othmann-Liebert-Artikel: "Die Darstellung, die Abstimmungen über Shortlist und Gewinner seien das Ergebnis einer identitätspolitischen Entscheidungsfindung, in der Schwarze Autor*innen gegenüber 'weißen' bevorzugt würden, ist falsch. Richtig ist, dass es auch zu politischen Diskussionen kam; aber ausschlaggebend war die literarische Qualität der Texte."

Marc Reichwein beschäftigt sich in der Welt mit deutscher Trivialliteratur im Allgemeinen und dem Ullstein Verlag im Besonderen. Die enorme gesellschaftliche Wirkung, die Literatur jenseits des Höhenkamms schon seit langer Zeit ausübt, werde nach wie vor unterschätzt. Auch "Kafka kam am Phänomen der Ullstein-Romane nicht vorbei. In seinen Reisetagebüchern findet sich eine hübsche Stelle, wo er 1912 ein mitreisendes Pärchen im Eisenbahnabteil beobachtet: 'Sie liest einen Ullstein-Roman von Ida Boy-Ed, mit dem ausgezeichneten, wahrscheinlich von Ullstein erfundenen Titel 'Ein Augenblick im Paradies'. Ihr Mann fragt sie, wie es ihr gefällt. Sie hat aber erst angefangen, kann bis dato nichts sagen.'"

Weitere Artikel: Michael Hesse schreibt in der FR über Umberto Ecos Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Andrian Kreye unterhält sich in der SZ mit dem amerikanischen Erfolgsschriftsteller Don Winslow. Katrin Hillgruber berichtet in der FAZ vom Lyrikfestival Meran.

Besprochen werden unter anderem T. C. Boyles "I Walk Between the Raindrops" (FR), Karl-Markus Gauß' "Schiff aus Stein" (FR) sowie Enis Maci und Mazlum Nergiz' "Karl May" (SZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
Archiv: Literatur

Film

Szene aus "The Apprentice"

In Cannes sorgt Ali Abbasis Film "The Apprentice" über den jungen Donald Trump für Furore. Trump fühlt sich verleumdet und droht bereits mit einer Klage gegen einen Film, der unter anderem eine Szene enthält, in der er seine Exfrau Ivana vergewaltigt. Marie-Luise Goldmann allerdings beschreibt in der Welt einen Film, der Trump nicht nur als Monster darstellt. Abbasi zeichne "den jungen Trump der siebziger und achtziger Jahre stets auch als schwachen, bemitleidenswerten Menschen. Gleich in der ersten Szene wird er in einer Bar sitzen gelassen, kurz nachdem seine Begleitung ihm vorgeworfen hat, von berühmten Menschen besessen zu sein. Später leidet er unter Erektionsstörungen, Haarverlust, Bauchfett. Sebastian Stan spielt Trump herrlich abgeschwächt. (...) Er stattet den späteren Politiker mit einer jungenhaften Sanftheit aus, die selbst in seinen unsympathischsten Szenen nicht weicht."

David Steinitz berichtet in der SZ über die kuriosen Hintergründe der Produktion: "Der US-Unternehmer und Milliardär Daniel Snyder, dem unter anderem mal das Football-Team Washington Commanders gehörte, hat den Film über die Produktionsfirma Kinematics mitfinanziert. Snyder darf man besten Gewissens als Trump-Fan bezeichnen. Er hat diesem wiederholt hohe Summen zu politischen Zwecken gespendet. Kurioserweise ging Snyder anscheinend davon aus, dass der Film eine Art Lobeshymne auf den großen Donald werden sollte - und kein Porträt des späteren Präsidenten als Vergewaltiger. Tja." Für die taz schreibt Tim Caspar Boehme über den Film.

Cate Blanchett ist in Cannes tatsächlich als palästinensische Fahne über den roten Teppich spaziert:

Wilfried Hippen befragt für die taz Rasmus Greiner über das diesjährige Bremer Filmsymposium. Josef Lederle veröffentlicht im Filmdienst Cannes-Notizen.

Besprochen werden einige Cannes-Filme: Kevin Costners "Horizon: An American Saga" und Coralie Fargeats "The Substance" (Tagesspiegel), ebenfalls "The Substance" sowie David Cronenbergs "The Shrouds" (Welt) und Jonás Truebas "The Other Way Around" (critic.de). Daneben außerdem, abseits der Croisette, Günter Attelns Dokumentarfilm "Joana Mallwitz - Momentum" (Tagesspiegel), Cece Mlay und Agnes Lisa Wegners "Das leere Grab (taz) sowie Oliver Boczek und Gerald Grotes "Ich habe Kiel erlebt" (taz Nord).
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Kunst

Orhan Pamuk, Erzengel, 2024 © Orhan Pamuk

Das vor zwölf Jahren in Istanbul eröffnete "Museum der Unschuld" zeugt davon, dass Orhan Pamuk auch ein passionierter Sammler, Maler und Zeichner ist - das Münchner Lenbachhaus würdigt Pamuks Leidenschaft nun mit der Schau "Trost der Dinge", die Collagen, Readymades und Schaukästen zeigt, die FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier in Gegenwart des Literaturnobelpreisträgers bewundert. In den aus Werken der Sammlung inspirierten Arbeiten erkennt Hintermeier den "Dadaisten", wie Pamuk sich selbst bezeichnet: "Sieben Vitrinen sind für das Lenbachhaus herausgesprungen. Pamuk setzt sich darin mit Pauls Klees 'Erzengel' von 1938 auseinander, gerade weil sich die Kunsthistoriker nicht einig sind, was genau an dem Bild engelhaft sein soll. Für Pamuk setzt sich das Engelsgesicht aus arabischen Schriftzeichen zusammen, und das führt ihn zurück in seine Kindheit, in der ihm 'ein muslimischer Friedhof wie ein mit arabischen Buchstaben gemalter Wald erschien.' Im Falle Alfred Kubins scheint die Angelegenheit weniger vertrackt. Das Skelett der Zeichnung 'Epidemie' (1900/1901) geht in Pamuks Vitrine in Anspielung auf die Pandemie als Skulptur ihrem Werk als Schnitter nach."

Judy Chicago: "Wrestling with the Shadow for Her Life from Shadow Drawings" 1982. © Judy Chicago/Artists Rights Society (ARS), New York; Photo © Donald Woodman/ARS, NY Courtesy of the artist

Guardian
-Kritiker Jonathan Jones ist geradezu entsetzt: Judy Chicago, die er für ihr wichtiges feministisches Werk "The Dinner Party" schätzt - und der das New Yorker New Museum gerade erst eine Retrospektive widmete, zerlegt sich mit der Ausstellung "Revelations" in der Londoner Serpentine North Gallery selbst, schimpft Jones. Ihre Inspiration habe sie von einer Göttin erhalten, behauptet sie da, aber von der angeblichen Erleuchtung bemerkt Jones wenig: "Chicago zeichnet am besten - und das ist ein bisschen paradox -, wenn sie Männer porträtiert. Sie idealisiert und vergeistigt die weibliche Gestalt so sehr, dass sie überhaupt keine echten Frauen darstellt. Weibliche Figuren geraten in eine glückselige Identifikation mit der einen oder anderen Göttin. Viel mehr Spaß macht ihr das Zeichnen von Männern, die sie als muskelbepackte, phallokratische Grotesken karikiert. Sie tummeln sich in Skizzen im Michelangelo-Stil, weinen Blut oder urinieren verächtlich auf die Erde."

Weitere Artikel: Trotz Chipperfield-Erweiterungsbau und Zugängen der Sammlungen Bührle, Merzbacher und Looser seit Herbst 2021 fährt das Kunsthaus Zürich Verluste ein, meldet Philipp Meier in der NZZ: Die Verschuldung beläuft sich auf 4,5 Millionen Franken, Hauptursachen sind Zunahme der Kosten und Besucherschwund.
Archiv: Kunst

Architektur

Angesichts tausender Kirchen in Deutschland, die von Verfall und Abriss bedroht sind, haben namhafte ArchitektInnen ein "Kirchen sind Gemeingüter" überschriebenes Manifest unterzeichnet, weiß Gerhard Matzig, der in der SZ allerdings nicht ganz glücklich damit wird, dass die Unterzeichner den Steuerzahler für den Erhalt der Kirchen zur Kasse bitten möchten: Eben weil Kirchen Gemeingut sind, "so der Text, der insofern eine gewisse Sprengkraft birgt, seien nun nicht nur die Eigentümer der Sakralbauten in der Verantwortung, sondern 'Staat und Gesellschaft', die sich ihrer Pflicht 'für dieses kulturelle Erbe nicht entziehen können und dürfen'. Genau das ist so fraglos nicht. Es geht schließlich um enorme Summen, die die Kirchen nicht (mehr) aufbringen. Bliebe letztlich wer zuständig? Die Steuerzahler, denen das Manifest für 40 000 Kirchen in Deutschland 'eine neue Form der Trägerschaft' empfiehlt - 'mit einer Stiftung oder Stiftungslandschaft für Kirchenbauten und deren Ausstattungen'. Eben ist man noch ausgetreten aus der Kirche als halbes Volk, schon soll sie einem gehören samt Instandhaltungskosten? Was für eine Volte."

Weitere Artikel: In der FR zeichnet Robert Kaltenbrunner den Urbanisierungsprozess Frankfurts seit der Nachkriegszeit nach. Für die taz spricht Theresa Weise mit der Künstlerin Sung Tieu, die in ihren Arbeiten an die Geschichte der vietnamesischen DDR-Vertragsarbeiter erinnert, die in den heute leerstehenden Wohnheimen in der Gehrenseestraße in Lichtenberg lebten.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Kirchen

Bühne

Auf Backstageclassical spricht Axel Brüggemann mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Generalmusikdirektoren Marcus Bosch über die mangelnde Rücksicht von Intendanten gegenüber Dirigenten. In der taz gratuliert Katrin Bettina Müller dem Theaterhaus Jena zu gleich zwei Preisen des Theatertreffens für das Stück "Die Hundekot-Attacke".

Besprochen werden Kornél Mundruczós Inszenierung der Puccini-Oper "Tosca" an der Bayerischen Staatsoper, die den SZ-Kritiker Helmut Mauro letztlich dank einer brillanten Eleonora Buratto in der Titelrolle überzeugt, Viktor Bodos Dramatisierung von Kafkas Roman "Amerika" am Schauspiel Stuttgart (FR), Nora Schlockers und Alexander Eisenachs Inszenierung der "Maria Stuart" am Münchner Residenztheater (FAZ) und Evgeny Titovs Inszenierung von Monteverdis "L'Orfeo" am Zürcher Opernhaus (NZZ).
Archiv: Bühne

Musik

Robin Passen berichtet in der FAZ begeistert vom Klassikfestival "Chamber Music connects the World" der Kronberg Academy. Der Verdacht, kleinformatige Klassikensembles seien nicht mehr zeitgemäß, kommt hier gar nicht erst auf, freut sich der Rezensent. Zu den Höhepunkten "zählt das Klavierquintett in g-Moll des Dvořák-Schwiegersohns Josef Suk, das in Kronberg von einem Ensemble um den Bratschisten Lawrence Power zu einem solchen Ereignis wurde, dass man sich im Anschluss fragte, wieso sich das Werk nicht schon längst in den Programmen etabliert hat. Johannes Brahms war begeistert davon; die Wucht, Farbenpracht und Melodiefülle sprechen aber ganz unmittelbar für sich."

Hymnisch bespricht Christiane Peitz im Tagesspiegel ein Recital der litauischen Sängerin Asmik Grigorian im Berliner Kammermusiksaal. Gegeben wurden Lieder von Tschaikowsky und Rachmaninow. Grigorian verleiht "all diesen Miniaturen über vergebliche Liebe, verwehrte Sehnsüchte oder den im Jenseits geträumten Traum vom irdischen Glück nie den Eindruck des Inszenierten, schon gar nicht eines affektierten Selbstmitleids. Im Gegenteil, ihr Duktus des Selbstverständlichen frappiert. Als sei das Singen die natürlichste Ausdrucksweise der Welt und gehe dem Sprechen voraus.

Außerdem: Rudolph Tang berichtet in Van über Probleme an chinesischen Musikhochschulen.

Besprochen werden Billie Eilishs Album "Hit Me Hard and Soft" (FR) sowie "A Thought Is Not a Feeling", das Debütalbum der Band Tiflis Transit (taz Berlin). Eine Hörprobe:

Archiv: Musik