Efeu - Die Kulturrundschau

Mit Ohren zu greifen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2024. Der Tagesspiegel schaut besorgt auf die Haltung der Comicszene im Nahostkonflikt, die wieder mal sehr einseitig ist. Die NZZ ist begeistert von David Schalkos und Daniel Kehlmanns "Kafka"-Miniserie. Die FR kann sich nicht satt sehen an den Werken der "Maestras" der Malerei, die eine exquisite Ausstellung in Remagen zeigt. Und Mies van der Rohes New Yorker Seagram-Gebäude gibt es nun als Anzug, schmunzelt die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2024 finden Sie hier

Literatur

Lars von Törne berichtet im Tagesspiegel in beeindruckender Ausführlichkeit und Detailkenntnis von den zahlreichen Kontroversen in der Comicszene zum Nahostkrieg. Wie in fast allen Debatten im Kulturbetrieb zum Thema zeichnen sich auch diese durch schroffe Einseitigkeit aus: Der Zeichner Mohammed Sabaaneh etwa veröffentlichte einen Tag nach dem Terrorangriff der Hamas eine Bildersequenz: "Das erste zeigt ein weinendes Auge, im zweiten verändert die Träne ihre Form, im dritten Bild ist daraus ein Gleitschirm geworden, an dem eine Figur so durch die Luft segelt, wie es einige Hamas-Angreifer am 7. Oktober gemacht haben. Die Sequenz macht deutlich: Der Zeichner sieht den Terrorangriff als legitime Antwort auf palästinensisches Leid aus der Zeit vor dem 7. Oktober, die Toten jenes Tages spielen für ihn keine Rolle. Dies ist eine Perspektive, die sich in vielen Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern mit arabischen Wurzeln oder pro-palästinensischer Überzeugung wiederfindet."

Maria Sterkl unterhält sich im Standard mit dem israelischen Schriftsteller Eshkol Nevo über das Schreiben nach dem 7. Oktober. Zumindest Fiktion kommt ihm seitdem nicht mehr aus der Feder: "Ich kann es einfach nicht. Was ich schreibe, sind fast tagebuchartige Essays für Zeitungen, in Italien und in Deutschland. Sonst nichts. ... Die Realität ist zu stark, zu erschlagend. Da ist es schwer, sich etwas anders vorzustellen. Vielleicht braucht es auch einfach noch Zeit. Ich habe oft dramatische Ereignisse in Israel in meiner Literatur verarbeitet, aber es hat immer ein paar Jahre gedauert, bis ich es verdaut hatte und darüber schreiben konnte. Über den Mord an Rabin schrieb ich erst sieben Jahre später. ... Man ist einfach von der unmittelbaren Erfahrung zu sehr überwältigt. Ich glaube, man muss ein Minimum an Langeweile verspüren, damit sich im Kopf die Geschichten auftun."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Serhij Zhadan hat sich in seiner ukrainischen Heimat bei einem Kampfbataillon angemeldet, schreibt Ulrich M. Schmidt in der NZZ: Dieser Schritt sei "auch Ausdruck einer Resignation über die mangelnde Unterstützung aus dem Westen". Außerdem kürt die Welt die besten Sachbücher des Monats: Auf Platz 1 findet sich Philipp Felschs Biografie über Jürgen Habermas.

Besprochen werden unter anderem Deniz Ohdes "Ich stelle mich schlafend" (Zeit), Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (NZZ), Percival Everetts "James" (Jungle World), Volha Hapeyevas "Samota" (Standard), Søren Ulrik Thomsens Essay "Store Kongensgade 23" (online nachgereicht von der FAZ), Elizabeth Strouts "Am Meer" (NZZ), Sergei Lebedews Erzählungsband "Titan oder die Gespenster der Vergangenheit" (NZZ), Claudia Graf-Grossmanns Biografie über Johannes Mario Simmel (Standard), Katja Riemanns "Zeit der Zäune: Orte der Flucht" (FR), Bastien Vivès' Comic "Letztes Wochenende im Januar" (taz), Amanda Cross' Krimi "Die Tote von Harvard" (FR), Gerhard R. Kaisers "Keller Mansarde Einsiedelei. Imaginäre Orte des Dichtens" (Welt), Fang Fangs "Glänzende Aussicht" (SZ) und neue Krimis, darunter Janice Halletts "Der Twyford-Code" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Christine Lavants "Her mit dem Kelch":

"Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muß,
und meine Rechte stützt sich auf die Linke,
das ist die Erde, der ich schnell noch winke ..."
Archiv: Literatur

Film

Die Schauspielerin und Regisseurin Paola Cortellesi in ihrem Film "Morgen ist auch noch ein Tag"

Bert Rebhandl spricht für den Standard mit der Schauspielerin Paola Cortellesi, die nun mit "Morgen ist auch noch ein Tag" ihr Regiedebüt vorgelegt hat. Der Film erzählt von Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien und war dort im letzten Jahr ein absoluter Publikumserfolg. "Man versteht auch sofort, warum: Politik aus der Perspektive von Frauen, das ist immer noch eine Marktlücke, und selten sieht man das Patriarchat und erste Schritte zur Befreiung daraus so prägnant in eine Erzählung übersetzt wie hier. ... 'Ich wollte einen Film über Frauenrechte erzählen', legt Paola Cortellesi ihre Motivation dar, 'und gehe dabei von toxischen Dynamiken in einer Paarbeziehung aus. Im Jahr 1946 durften Frauen in Italien zum ersten Mal wählen, das wird für Delia zu einem wichtigen Anstoß.' Das Jahr 1946 war auch für das italienische Kino entscheidend. Damals begann die Bewegung des Neorealismus: Den Klassiker 'Paisà' von Roberto Rossellini zitiert Cortellesi ausdrücklich, und auch die Figur von Delia hat viel mit Frauengestalten zu tun, wie sie von Anna Magnani während des Aufbruchs nach Krieg und Faschismus verkörpert wurden." Am kommenden Donnerstag läuft der Film auch bei uns im Kino an.

Ziemlich begeistert ist NZZ-Kritiker Daniel Haas von David Schalkos und Daniel Kehlmanns "Kafka"-Miniserie in der ARD-Mediathek: Den beiden "ist nicht weniger als eine Gegentheologie zu den bewährten Dogmen der Kafka-Verklärung gelungen. ... Das empiristische Bedürfnis, Kafka darzustellen, wird demontiert durch die Weigerung, diesen Autor und sein Werk festzulegen und zu beherrschen. So halten sich Rekonstruktion und Dekonstruktion in virtuoser Weise die Waage. Als Ganzes betrachtet, eröffnet diese Serie einen Raum, in dem sich das dichterische Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstsetzung bewegt. Die pathetische Inszenierung künstlerischen Schöpfertums bleibt aus. Es geht hier nicht um die romantische Wiedergabe eines Dichterlebens, sondern um die Suggestion von Kreativität. Kehlmann, Schalko und ihr Berater, der Kafka-Biograf Reiner Stach, sind selber Collagierer des Textmaterials, das ihnen die literarische Tradition zugespielt hat."

Weitere Artikel: In der NZZ empfiehlt Patrick Holzapfel eine Reihe mit den Filmen von Ousmane Sembène im Filmpodium Zürich. Im Standard legt Patricia Kornfeld dem Wiener Publikum die Aufführung von Maria Lassnigs experimentellen Animationsfilmen im Künstlerhaus ans Herz. Kira Kramer erinnert in der FAZ an René Lalouxs und Moebius' psychedelischen SF-Animationsfilm "Herrscher der Zeit" von 1982. Maria Wiesner schreibt in der FAZ zum Tod des Schauspielers Louis Gossett Jr.

Besprochen werden Bora Dagtekins "Chantal im Märchenland" (SZ, unsere Kritik), Julia Gutwenigers und Florian Koflers Dokumentarfilm "Vista Mare" (Standard) und die auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Serie "3 Body Problem" nach dem gleichnamigen chinesischen SF-Epos von Cixin Liu (NZZ).
Archiv: Film

Bühne

Markus Francke, Opern- und Extrachor des Theaters Ulm | Foto: Kerstin Schomburg 

Auf einem richtigen "Höhenflug" befindet sich das Stadttheater Ulm, freut sich Stephan Mösch in der FAZ. Dass man hier nun Wagners "Parsifal" auf die Bühne gebracht hat, könnte vermessen wirken, meint der Kritiker, aber es funktioniert wunderbar: "Felix Bender ist ein Motor des Abends: Der Ulmer Musikchef versteht Wagners Spätwerk keineswegs als weihevollen Gottesdienst. Er schlägt schnelle Tempi an, kümmert sich aber auch bis ins Detail um die Finessen der Instrumentation. Wagners klangliche Experimente und harmonische Schroffheiten kommen plastisch heraus. Gleichzeitig sind die großen architektonischen Blöcke mit Ohren zu greifen. Was sich über alle stilistische Idiomatik hinaus vermittelt, ist der innermusikalische Spannungszustand, den Wagner im 'Parsifal' besonders raffiniert anlegt. Das Philharmonische Orchester spielt mit einer Dringlichkeit und Entdeckerfreude, die in der Wagner-Routine mancher Staatstheater verloren gegangen ist."

Besprochen werden außerdem Fritzi Wartenbergs Inszenierung von "Malina" am Berliner Ensemble und "hildensaga. ein königinnendrama" in der Inszenierung von Markus Bothe am Deutschen Theater in Berlin (Doppelbesprechung in der taz),  die Oper "Die Insel" vom Kollektiv [in]Operabilities im Radialsystem in Berlin (taz), Alexander Müller-Elmaus Inszenierung von Wagners "Götterdämmerung" im Coburger GLOBE (nmz),  Michael Schulz' Inszenierung der Strauss-Oper "Rosenkavalier" an der Oper Leipzig (nmz),  Georg Qanders Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper "Iphigenie in Aulis" bei der Kammeroper Schloss Rheinsberg (tsp) und  David Hermanns Inszenierung von Wagners "Parsifal", diesmal am Staatstheater Nürnberg (nmz).
Archiv: Bühne

Kunst

Sofonisba Anguissola, Selbstporträt, 1556
© Fondation Custodia, Collection Frits Lugt, Paris | Foto: Mick Vincenz

Viele Werke von Künstlerinnen verstauben immer noch in den Depots der Museen, beklagt Lisa Berins in der FR. Um so froher ist sie, dass das Arp Museum Rolandseck einige prächtige Werke der "Maestras" zeigt. Hier werden einundfünfzig Malerinnen aus dem 15. bis 19. Jahrhundert vorgestellt und Berins kann sich gar nicht satt sehen: "Sofonisba Anguissola (1532-1625) ist eine der frühesten berühmten Maestras überhaupt. In der Ausstellung ist ein kleines, exquisites Selbstporträt von ihr zu sehen: Auf dem Bild ist sie gerade einmal Mitte zwanzig, aber sie fixiert die Betrachtenden mit einem forschen, selbstsicheren Blick. Man will sich gerade abwenden, da zieht einen ein störendes Detail in den Bann: eine feine, weiße Schnüre der Bluse fällt ungeordnet über die schwarze Jacke - ein wirkungsvoller Hingucker! Ihr Selbstporträt von 1556 gab die aus Cremona stammende Anguissola als Visitenkarte heraus."

Ausgehend von einem Foto am Strand, dass den Künstler Franz Radziwill mit den Kunsthistorikern Hanna Stirnemann und Walter Müller-Wulckow im Jahr 1928 zeigt, skizziert Rainer Stamm in der FAZ die Verstrickungen Radziwills mit den Nationalsozialisten. Radziwill gilt als wichtigster Vertreter des "Magischen Realismus" in Norddeutschland - bekannte sich allerdings 1932 zum Nationalsozialismus und passte sich künstlerisch an, so Stamm: Werner Meinhof, nationalsozialistischer Kunsthistoriker und Vater von Ulrike Meinhof, "lobte Radziwills Werk als vorbildliches Beispiel einer neuen, bodenständigen Kunst, die er der mit 'Krankheitszeichen' versehenen abstrakten Kunst gegenüberstellte."

Außerdem: Birgit Rieger hat sich für den Tagesspiegel Ólafur Elíassons Fenster im Greifswalder Dom angesehen, das dieser zu Ehren Caspar David Friedrichs neu gestaltet hat.

Besprochen werden die Ausstellung "La vie des blocs" mit Fotografien von Jean-Michel Landon aus den Pariser Banlieues im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim (FAZ) und die Ausstellung "Der Blaue Reiter. Eine neue Sprache" in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München (FAZ), die Ausstellung "Hanna Bekker vom Rath. Eine Aufständische für die Moderne" im Brücke-Museum in Berlin (tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Julia Lorenz spricht für Zeit Online mit Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel. Besprochen werden Beyoncés neues Album "Cowboy Carter" (Pitchfork, Standard, mehr dazu bereits hier), ein Konzert der Einstürzenden Neubauten (taz), Jan Blomqvists Auftritt beim Caprices Electronic Dance Music Festival in Crans-Montana (NZZ), ein Berliner Konzert von Tom Odell (Tsp) und ein Konzert von Underworld (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Einstürzende Neubauten

Design

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Gerhard Matzig hat in der SZ seinen Spaß damit, dass die mexikanische Modefirma 101% für einen neuen Anzug im Camouflage-Look Ludwig Mies van der Rohes New Yorker Seagram-Gebäude zitiert: "Ausgerechnet der minimalistische Modernist Mies, einer der Überwinder des maximalen Fassaden-Historismus im Stile Sempers, wird zum Stichwortgeber nicht der enthüllenden Moderne, sondern der verhüllenden Mode. Das ist eine lässige Pointe der Baugeschichte. Was sagen eigentlich die hundertundeinprozentigen Designer zu einer Baugeschichte, die sich als Modegeschichte erweist? Erstens finden sie Mies und das Seagram Building offenbar einfach cool. Da kann man nicht widersprechen. Zweitens schreiben sie, dass das legendäre Mies-Zitat 'Less is more' quasi auch 'die Philosophie' ihres nachhaltig gemeinten Modelabels beschreibe. Das ist auf charmante Weise ahnungslos, man kann den Guten dennoch kaum böse sein."

Außerdem: Die Luxusmarke Hermès darf sich die Käufer ihrer Birkin-Taschen nun nicht mehr selber nach Antragsstellung und Gutdünken aussuchen, berichtet Silke Wichert in der NZZ: Diese Methode, Exklusivität herzustellen, sei nun auch juristisch als "wettbewerbswidrig" festgestellt.
Archiv: Design