Efeu - Die Kulturrundschau

Feier des Ephemeren

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08.12.2023. Die FR lässt sich mit den Gemälden von Harald Schulz den Mistral um die Nase wehen. Der Tagesspiegel ärgert sich, dass Katharina Grosse in der Wiener Albertina zwar große Kunst, aber wenig Moralbewusstsein zeigt. Von Takehiko Inoues Basketball-Film "The First Slam Dunk" lassen sich Standard und Artechock gerne umwerfen. Die taz schwebt über allen Wolken mit Andre Peklers Stratosphären-Boogie. In Jon Fosses Nobelpreis-Rede kommt die "stumme Sprache zu Wort", erkennt die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2023 finden Sie hier

Kunst

Maria Lassnig: Illusion von der versäumten Mutterschaft, 1998. Bild: Roland Krauss/Maria Lassnig Foundation.

Dass es für Frauen in der Kunst nicht unbedingt leicht ist, kann FAZ-Kritikerin Katinka Fischer eindrucksvoll in der Kunsthalle Mannheim sehen, die mit der Schau "Hoover Hager Lassnig" Werke von drei stilistisch sehr unterschiedlichen, aber thematisch verwandten Künstlerinnen zeigt. Maria Lassnig hat sich noch mit fast 80 Jahren mit dem Thema Mutterschaft auseinandergesetzt: "Der vermeintliche Säugling ist allerdings ein kleines Männchen, das Anzug trägt, Geheimratsecken hat und in Wahrheit einen einstigen Liebhaber der Malerin darstellt. In dem anderen Werk erscheint sie als hockende grüne Gestalt mit gnomenhaft verzerrten Gesichtszügen, und man weiß nicht, ob das abstrakte Objekt, das zwischen ihren Schenkeln schwebt, aus ihr herauskommt oder dorthin zurückwill. Mit einem Neugeborenen hat es jedenfalls nur die blassrosa Farbe gemein. Beide Male drückt die Darstellung des eigenen Ichs auch die Trauer der Braut und Mutter aus, die die international erfolgreiche Künstlerin nie gewesen ist." Die Werke von Maria Lassnig, Nan Hoover und Anneliese Hager aber "verbindet mehr als nur biografische Analogien. Das eigene Ich ist bei ihnen weder Studienobjekt noch Denkmal, sondern Symbol für einen harten, am Ende aber erfolgreich ausgefochtenen Kampf."

Harald Schulz, Mistral, 1998


Den Mistral-Wind an der Côte d'Azur konnte Harald Schulz als DDR-Künstler erst nach der Wende kennenlernen, trotzdem wirkt sein gleichnamiges Bild, das in der Ausstellung "Brennen musst du, wenn du atmen willst" in der Galerie Art Cru hängt, auf Ingeborg Ruthe (FR) "so, als käme dieser unbändig tosende Wind ganz tief aus ihm selber, als habe er all die Landschaften, wechselnden Wetterlagen in sich. Als wäre er mit seinen Farbtöpfen im Sturzflug auf die Leinwände aufgetroffen und hätte dann mit Pinseln, Spachteln und beiden Händen in einem dionysischen und zugleich existenziellen körperlichen Akt alle Lust und allen Schmerz des Daseins, alle Schönheit, aber auch Vergänglichkeit des Irdischen auf die Bildgründe gepackt." Schulz war während seines Studiums an der Kunsthochschule Weißensee "der einzige Student der Institution, der ein Studium in Abstrakter Malerei absolvieren durfte. Obwohl er damit überhaupt nicht den ideologischen Erwartungen der Kulturpolitik der Honecker-Ära entsprach", erzählt Ruthe noch.

Katharina Grosse, "Warum drei Töne kein Dreieck bilden", 2023, Albertina Wien. Foto: Sandro E.E. Zanzinger


Katharina Grosse erobert sich ihre Ausstellungsräume mit ihren raumgreifenden Farbinstallationen, so auch bei ihrer Ausstellung "Warum drei Töne kein Dreieck bilden" in der Wiener Albertina, berichtet Nicola Kuhn im Tagesspiegel: "Der komplett weiße Raum - der dunkle Boden wurde eigens mit weißer Kunststofffolie bedeckt - flimmert in Gelb, Rot, Grün, Violett, das in weiten Bahnen mit der an einem verlängerten Arm befestigten Spritzpistole auf riesige Leinwände gesprayt wurde. Die farbigen Streifen setzen sich über den Bildrand hinaus auf einer ebenfalls weißen Folie fort, die an den Wänden den Untergrund bildet. Keine Grenze nirgends." Eigentlich toll, findet Kuhn, sie wird aber den galligen Geschmack davon nicht los, dass Grosse den viel diskutierten offenen Brief unterschrieben hat, "der am 19. Oktober in Artforum und auf der Plattform e-flux 'die Befreiung Palästinas' forderte, aber keine Worte für die Opfer der Hamas fand." So bleibt für die Kritikerin nicht nur Farbspektakel, sondern auch "eine sehr konkrete Turbulenz, welche gerade die gesamte Kunstwelt erfasst und ihre eigentlich durch Freiheit und Toleranz charakterisierten Räume zunehmend verkleinert".

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Unextractable" in der Kunsthalle Mainz, die sich afrikanischer Kunst widmet, die als Reaktion auf den Kolonialismus entstanden ist (FAZ), die Schau "Un naranja que se oscurece" von Manuel Romero in der Galerie Filiale (FAZ) und die Kunst-und-Dinner-Experience "The Glow" von Stephan Hentschel und Ralf Schmerberg in der Berliner Mahalla (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst

Literatur

Jon Fosse hat in Stockholm seine Nobelpreisrede gehalten, die die SZ dokumentiert. Der norwegische Schriftsteller meditiert darin viel über das eigene Werk: "Das Wichtigste im Leben kann nicht gesagt, kann nur geschrieben werden, um ein bekanntes Wort von Jacques Derrida ein wenig abzuändern. Ich versuchte also, die stumme Sprache zu Wort kommen zu lassen. Und in der Dramatik konnte ich diese stumme Sprache, das Schweigen, auf eine ganz andere Art nutzen als in Prosa oder Lyrik. In meiner Dramatik ist das Wort 'Pause' ohne jeden Zweifel das wichtigste und meistgebrauchte Wort." Hier die englische Übersetzung der auf Norwegisch gehaltenen Rede und hier der Festakt in seiner ganzen Pracht auf Youtube:



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Der Verleger und Autor Michael Krüger wird 80 Jahre alt. Mit Willi Winkler spricht er in der SZ über alte Zeiten und damals ausgefochtene Grabenkämpfe: "Wenn wir bei Klaus Wagenbach saßen und diskutierten, was wir in unsere Zeitschrift Tintenfisch aufnehmen sollten, gingen wir die Autoren nach dem Alphabet durch. Das fing immer mit Ilse Aichinger an, die ich liebte. Da kamen dann irgendwelche schweren Jungs vorbei, die in der Küche das 'Sozialistische Jahrbuch' redigierten. ... Die lachten und sagten: 'Ihr habt wohl einen Knall. Wir machen Weltrevolution und ihr macht euch über sowas Gedanken. Ihr müsst euch entscheiden.' ... Revolution war mir nicht geheuer. Ich habe mich der Literatur höflich genähert." Die späteren Brandstifter wie Andreas Baader und Gudrun Ensslin "waren ohne jeden Witz oder Ironie, das machte sie mir schon mal verdächtig. Ernst Jünger nahm einen Stein in die Hand und erklärte damit die Welt. Bei denen war es ein Begriff, den sie in die Hand nahmen." Außerdem hat Gerrit Bartels für den Tagesspiegel mit Krüger gesprochen, Andrea Köhler liest für die NZZ Krügers neuen Erinnerungsband.

Besprochen werden unter anderem Clarice Lispectors "'Wofür ich mein Leben gebe' Kolumnen 1946 - 1977" (Tsp), Amir Gudarzis "Das Ende ist nah" (Intellectures), Anne Carsons und Christian Steinbachers "If Not, Winter / fehlst du, ist Winter: Fragmente der Sappho" (Standard), Bertrand Badious Bildbiografie über Paul Celan (FR) und Peter Sloterdijks "Zeilen und Tage III" mit Notizen aus den Jahren 2013-2016 (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Szene aus "The First Slam Dunk" von Takehiko Inoue


Takehiko Inoues "The First Slam Dunk" ist einer der erfolgreichsten japanischen Animationsfilme und handelt von - Basketball, genau wie die ebenfalls von Inoue stammende Manga-Vorlage, die in den Neunzigern ihrerseits alle Rekorde brach. Und der Film haut auch wirklich um, wie Valerie Dirk im Standard nur bekräftigen kann: "Herausragend ist das Zusammenspiel aus innovativer Animationsarbeit, zackiger Montage und dem zwischen packenden Rock- und japanischen Popsongs changierenden Musikscore. Dafür gab es denn auch ein Millionenpublikum und zahlreiche Preise, unter anderen den japanischen Oscar für den besten Animationsfilm. Und das in dem Jahr, in dem Anime-Giganten wie Makoto Shinkai ('Suzume') und Hayao Miyazaki ('Der Junge und der Reiher') ihre neuen Filme vorstellten. Ein Volltreffer!" Einen "aufregenden Anime" sah auch Axel Timo Purr von Artechock: "Es ist die Seele des Sports, die spürbar, die sichtbar wird und das, was Sport am Ende auch immer sein kann - eine Kulturtechnik, die kranke Seelen zu gesunden Menschen formt, die sich damit nicht nicht mehr nur individuell, sondern auch als Mannschaft artikulieren können."

Weitere Artikel: Carolin Ströbele wünscht sich auf Zeit Online, dass der Hype um Hollywood am verträumtesten dreinblickendenden Wuschelkopf Timothée Chalamet endlich mal aufhört. Anna Bitter schreibt auf Artechock über die Filme von Pia Frankenberg, die derzeit mit einer Kinotour und einer DVD-Box wiederentdeckt werden. Dunja Bialas berichtet auf Artechock vom Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Für Artechock resümiert Jakob Gerstmayer das 42. Filmschoolfest München. Elke Eckert legt den Münchner Artechock-Lesern eine Gina-Lollobrigida-Hommage im Circolo Cento Fiori ans Herz. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Kim Basinger zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Molly Manning Walkers "How to Have Sex" (Tsp, Artechock, mehr dazu hier), Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (Welt, Artechock, unsere Kritik), Bradley Coopers "Maestro" über Leonard Bernstein (Artechock, unsere Kritik), Hans Jürgen Syberbergs "Demminer Gesänge" (Artechock), Matt Johnsons "BlackBerry" (Artechock), die Serie "Boom Boom Bruno" (taz, FAZ, Zeit Online) und Til Schweigers "Das Beste kommt noch" (Welt).
Archiv: Film

Bühne

Das Flex-Ensemble mit Tom Pearson und - unverkennbar - Calder


Der Multimedia-Künstler und Choreograf Tom Pearson und das Flex-Ensemble schaffen mit ihrer Show "Calder Moves" im Sprengel-Museum Hannover einen immersiven Begegnungsraum zwischen der Kunst von Alexander Calder, und Musik und Tanz des Ensembles. Was Immersion dabei genau bedeutet, erklärt Pearson im taz-Interview mit Alexander Diehl: "'immersiv' ist schon sehr zum Buzzword verkommen. Es gibt aber doch ein ganzes Spektrum an interaktiven Möglichkeiten bis hin zur Immersion; ich verstehe darunter die vollständige Kontrolle über einen gewidmeten und rigoros gestalteten Raum. 'Calder Moves' liegt da irgendwo in der Mitte. Der Saal ist halböffentlich und wir verändern ihn auch nicht - aber wir antworten ihm. Insofern ist das Projekt ortsspezifisch, bezogen auf Umgebung und Architektur. Calders Kunst stellt aber auch einen Bezugsrahmen bereit: Das Ganze ist inspiriert von 'Calders' Mobiles', mit denen es sich zugleich ja ganz konkret den Saal teilt. Noch immersiver dürfte die Idee sein, ein Ritual zu erschaffen, an dem das Publikum teilnehmen kann; der Versuch, ihm Wege zu eröffnen, eine noch intimere Beziehung zur Musik einzugehen: durch den Klang, durch eigene Bewegung und durch den direkten Kontakt zu den Aufführenden."

Weiteres: Das Schauspielhaus Zürich bekommt mit der Saison 2025/26 ein neues Intendantenduo, meldet dlf Kultur: Pinar Karabulut und Rafael Sanchez lösen Ulrich Khuon ab.
Archiv: Bühne

Musik

SZ-Kritiker Harald Eggebrecht kann über die Aufnahmen des Geigers Frank Peter Zimmermann von Johann Sebastian Bachs "Sei Soli" nur staunen: "Die C-Dur-Sonate hebt mit einem Adagio an, das sich langsam, ja fast zäh aus einer einfachen Schwingfigur zu immer größeren Distanzen und akkordischer Fülle aufbaut. ... Wie schon bei der Ciaccona aus der d-Moll-Partita spannt Zimmermann den großen Bogen organisch ohne falsches Gewicht oder Forte-Pathos. Umso größer das Staunen und die Bewunderung für den Auf- und Ausbau des Riesensatzes. Danach das luftigste Largo, das sich denken lässt, eine Oase reinen melodischen Violinglücks. Das finale Allegro assai bietet Frank Peter Zimmermann mit so ausgearbeiteter rhythmischer Klarheit und dabei geigerischer Brillanz, dass nur atemlose Spannung und Begeisterung über solches stupendes Violinspiel bleibt."

"Melodien schmelzen wie das Wachs einer brennenden Kerze", schreibt Julian Weber in der taz nach dem Hören von Andrew Peklers neuem Album. Der sonst im Bereich der experimentellen elektronischen Musik tätige Künstler hat für "SG: For Lovers Only/Rain Suite" seine Gitarre aus dem Schrank geholt, diese zart gezupft und das Ergebnis mit Effektgeräten sanft bearbeitet - eine Feier des Ephemeren: "Das beiläufige Loopen schafft in Peklers Songs das Stimmungsvolle und Hypnotische. Vibrato verzerrt seine Gitarre nicht nur, es kreiert Wolkenbilder und Sandburgen. Flüchtige Kunstwerke, im nächsten Moment wieder verschwunden. Oder waren sie gar nicht da?" Doch sollte man dies "nicht mit neuer Innerlichkeit oder Naturwüchsigkeit verwechseln. Nur weil sie schaumgebremst daherkommt, schmort diese Gitarre noch lange nicht im eigenen Saft. Im Gegenteil, ihr Dasein beruht auf der simplen Erkenntnis, dass Peklers Musik zu den Dingen gehört, die das Selbst erweitern. Stratosphären-Boogie, der möglichst weit, in möglichst viele Richtungen gleichzeitig ausschwärmt und sich, sobald er losgelassen, nicht mehr einfangen lässt." Wir hören rein:



Außerdem: Ulrich Gutmair spricht für die taz mit der auf Farsi singenden, israelischen Künstlerin Liraz, deren iranische Fans sich heute zum großen Teil mit Israel solidarisieren. Timo Posselt porträtiert für Zeit Online Bryce Dessner, der bei The National spielt und Songs für Taylor Swift komponiert. Die Musikkritiker des Standard werfen einen Blick ins Programm der Mozartwoche. Melanie Haack plaudert für die Welt mit Sean Dowdell über das Comeback seiner Band Grey Daze. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreiben Niklas Bender und Markus Kuhn über "The Body of an American" des kürzlich verstorbenen Shane MacGowan.

Besprochen wird Züri Wests neues Album "Loch dür Zyt" (TA, NZZ). Außerdem kürt Pitchfork die besten Alben des Jahres - auf der Nummer Eins: "SOS" von SZA.

Archiv: Musik