Sabrina Janesch

Sibir

Roman
Cover: Sibir
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783737101493
Gebunden, 352 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Furchterregend klingt das Wort, das der zehnjährige Josef Ambacher aufschnappt: Sibirien. Die Erwachsenen verwenden es für alles, was im fernen, fremden Osten liegt. Dorthin werden Hunderttausende deutscher Zivilisten - es ist das Jahr 1945 - von der Sowjetarmee verschleppt, unter ihnen auch Josef. Kasachstan ist das Ziel. Dort angekommen, findet er sich in einer harten, aber auch wundersamen, mythenvollen Welt wieder - und er lernt, sich gegen die Steppe und ihre Vorspiegelungen zu behaupten. Mühlheide, 1990: Josef Ambacher wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Woge von Aussiedlern die niedersächsische Kleinstadt erreicht. Seine Tochter Leila steht zwischen den Welten und muss vermitteln - und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst den Spuk der Geschichte zu begreifen und zu bannen versucht. Sabrina Janesch erzählt in leuchtenden Farben die Geschichte zweier Kindheiten, einmal in Zentralasien nach dem Zweiten Weltkrieg, einmal fünfzig Jahre später in Norddeutschland. Dabei spannt sie einen Bogen, der unbekannte, unerzählte Kapitel der deutsch-russischen Geschichte miteinander verbindet. Ein Roman über die Suche nach Heimat, die Geister der Vergangenheit und die Liebe, die sie zu besiegen vermag.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 13.05.2023

Rezensentin Katharina Granzin genießt den eigenwilligen Zauber, der in Sabrina Janeschs Roman scheinbar "absichtslos" entstehe. Er erzählt, eingebettet in eine Rahmenhandlung aus Perspektive der erwachsenen Leila, von deren Kindheit Anfang der neunziger Jahre in einem Dorf am Rande der Lüneburger Heide, und in einem zweiten Strang von der Kindheit ihres Vaters, der im Zuge der Deportation deutscher Zivilisten in die Sowjetunion zu Ende des Zweiten Weltkriegs in der kasachischen Steppe aufwuchs. Wie es dabei in Leilas Kindheitserinnerung an ein manisches Bauen von Unterkünften mit Essensvorräten und Revolvern um ein von den Eltern weitervererbtes "Gefühl der Unbehaustheit" geht, und wie in der Erzählung der Kindheit des Vaters trotz traumatischer Ereignisse wie dem Verlust von Bruder und Mutter sich ein gewisser Dingzauber, die magische Aufladung von Gegenständen, über das Erzählte legt, findet die Kritikerin einnehmend. Von magischem Realismus möchte sie nicht sprechen, lieber von einem Roman wie ein "fantasievolles Kinderspiel", das Leichtigkeit und Schwere miteinander vereint.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.2023

Rezensent Andreas Platthaus bewundert, dass Sabrina Janesch sich zum dritten Mal mit den Auswirkungen der Weltpolitik auf ihre polnische Familie im 20. Jahrhundert beschäftigt: Ungemein persönlich erzähle die Autorin über die ethnische Vertreibung und Verbannung. Dazu habe sich Janesch ein einzelnes Schicksal herausgegriffen: Den Deportationsweg des 1936 geborenen, deutschstämmigen Josef Ambacher aus Galizien nach Sibirien und nach dem Krieg in eine westdeutsche Stadt. Die Autorin, schreibt Platthaus, knüpfe dabei an die Geschichte ihres Vaters an und erzähle aus der Perspektive der Tochter. Fesselnd findet er den in zwei große Zeit-Kapitel unterteilten Roman, der 1990 endet. Obwohl das Buch angesichts der historischen Dimension recht schmal sei, habe es große inhaltliche Tiefe, findet der Rezensent. Ein "hinreißender Roman", auch angesichts der vielen aus der Ukraine geflüchteten Menschen.  
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 05.04.2023

Eine "bunte und dichte Generationenerzählung" liest Cathrin Kahlweit mit Sabrina Janeschs Roman "Sibir". Die Autorin hat Autobiografisches in eine poetische Erzählung gepackt, geschrieben aus mehreren Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen, die sie "kunstvoll" zu verweben weiß, lobt die Rezensentin. Zum einen wird aus der Perspektive des Großvaters der Protagonisten Leila erzählt: Josef Ambacher wurde als Kind, wie auch der Vater der Autorin, aus dem Polen der Nachkriegszeit in ein sibirisches Arbeitslager verschleppt, berichtet Kahlweit. In den fünfziger Jahren darf die deutsch-polnische Familie in den (fiktiven) niedersächsischen Ort Mühlheide auswandern. Ab hier erzählt Tochter Leila, die das Fremdsein in Westdeutschland als Teenager erlebt. Die Autorin schafft es, sowohl das Trauma und die Entbehrungen authentisch zu beschreiben als auch "unterhaltsam" und berührend vom Leben der jugendlichen Leila zu erzählen, meint die Kritikerin. Janesch ist ein grandioser tragikomischer Roman gelungen, so Kahlweit.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 04.04.2023

Für Rezensentin Cornelia Geißler hat Sabrina Janesch in ihrem Roman einen "neuen, herausragenden" Weg gefunden, Geschichte zu erzählen. Geschildert wird das Geschehen aus der Perspektive von Leila, die die bewegte Vergangenheit ihres demenzkranken Vaters Josef Ambacher aufarbeiten will, um ihn und sich selbst besser verstehen zu können, so die Kritikerin. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die nach dem deutschen Überfall von den Nationalsozialisten annektierten polnischen Gebiete, das sogenannte Warthegau, wieder an Polen zurückfielen, wurden Teile der deutschen Bevölkerung als Arbeitskräfte nach Sibirien verschleppt, darunter der kleine Josef und seine Eltern, berichtet Geißler. Den extremen Lebensumständen in der Verbannung können sie entfliehen, als Russland 1955 zehntausend Kriegsgefangene nach Deutschland entlässt. Janesch zeichnet hier ein Bild der Geschichte anhand der Spuren, die sie bei den Menschen hinterlässt, betont die Kritikerin. "Geschmeidig" verbindet die Autorin die verschiedenen Zeitebenen und lässt die Vergangenheit in all ihren Facetten lebendig werden, schließt Geißler beeindruckt.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 02.03.2023

"Ein Deutschlandroman mit historischer Tiefe", lobt Rezensent Christoph Schröder dieses vielschichtige Porträt einer Aussiedlerfamilie, die sich 1955 in der Lüneburger Heide niedergelassen hat.  Es ist ihre eigene Familiengeschichte, die Autorin Sabrina Janesch hier erzählt, erfahren wir. Der Vater, Josef, war mit seiner Familie nach Kriegsende von den Russen aus dem polnischen Wartheland nach Kasachstan deportiert worden. Nach zehn Jahren konnte die Familie im Rahmen des Freilass-Abkommens nach Deutschland übersiedeln. Viel sprechen konnte Josef darüber nie, erfahren wir. Janesch reimt sich seine Geschichte aus ihren Recherchen und Andeutungen des Vaters zusammen. Diese Geschichte ist verwoben mit einer zweiten, die vom Leben in Deutschland erzählt, wo der Vater nie so recht angekommen zu sein scheint. Was nicht zuletzt auch an den Vorurteilen gegenüber den Aussiedlern lag, so Schröder. Die beiden Erzählebenen gibt es auch Stilebenen: "märchenhafte" und "unheimliche" Passagen blitzen auf, und doch bleibt der Roman ein realistischer, lobt der Kritiker. Dass Janesch auf modische Diskurse verzichtet und sich statt dessen literarischer Mittel bedient, um traumatische Erfahrungen zu beschreiben, rechnet er ihr hoch an.