Magazinrundschau

Englishness ist eine Praxis

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
27.01.2014. In Elet es Irodalom protestieren 26 Historiker gegen ein geplantes Mahnmal, das an die deutsche Besatzung 1944 erinnern soll. Die LRB beobachtet anerkennend, wie sich die französischen Provinzstädte von Paris emanzipieren. Eurogamer erzählt, wie die Briten mit Monopoly den Zweiten Weltkrieg gewannen. Spiked überlegt, wann Pop das Zeitliche segnete. In der Paris Review erlebt David Cronenberg mit siebzig eine Verwandlung, wie sie Gregor Samsa auch nicht schlimmer widerfuhr. The New Republic lässt kein gutes Haar an Edward Snowden, Glenn Greenwald und Julian Assange.

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.01.2014

Drei Artikel setzen sich mit dem "Mahnmal der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944" (Entwurf) auseinander, das am 19. März in Budapest enthüllt werden soll. Für József Mélyi ist das Mahnmal, das den Erzengel Gabriel darstellt, der von einem Reichsadler niedergerungen wird, schon jetzt ein "Schandfleck". Schon die Planung - das Mahnmal wurde nicht ausgeschrieben, sondern ohne Diskussion beim Bildhauer Péter Párkányi in Auftrag gegeben - sei "lügnerisch und absurd. So wird auch die Skulptur selbst sein, die gegenüber dem sowjetischen Mahnmal stehen wird. Das sowjetische Mahnmal kann die Regierung weder schlucken noch ausspuken - darum stellte sie ihm zu Beginn ihrer Herrschaft die Figur von Ronald Reagan als absurden Mitbewohner gegenüber. ... Beim Überqueren des Platzes werden die Blicke nach unten gerichtet sein, damit der Zynismus, die Geschichtsverfälschung und die politische Profitgier uns nicht ins Gesicht schlagen."

Sechsundzwanzig ungarische Historiker protestieren in einem öffentlichen Brief gegen das Mahnmal: "Das Mahnmal verfälscht eine wichtige Periode unserer Geschichte und relativiert die Ereignisse des Holocaust. Nach der Beschreibung sollte das Mahnmal 'an alle Opfern erinnern'. Doch das Mahnmal basiert auf einer Verfälschung der Geschichte und kann somit seine Mission nicht erfüllen. Das Mahnmal zeigt die Opfer des Holocaust zusammen mit den kollaborierenden Tätern in Opfergemeinschaft und verunglimpft damit die Erinnerung an die Opfer. Am ungarischen Holocaust waren ungarische Ämter und Behörden aktiv beteiligt. Das Mahnmal schiebt die Verantwortung ausschließlich auf die Deutschen und auf die 'Pfeilkreuzlerküken' der deutschen Armee. In Wahrheit spielten die Pfeilkreuzler bei den Deportationen vom Sommer 1944 keine Rolle."

spiked (UK), 17.01.2014

Neil Davenport fragt sich nach der Lektüre von Bob Stanleys monumentaler Geschichte des Pop "Yeah Yeah Yeah: The Story of Modern Pop" mit dem Autor, wann genau und warum Pop das Zeitliche segnete: "Stanleys Schlüsselargument ist, dass das digitale Zeitalter die moderne Popära gekillt hat: 'Pop war nicht mehr so begehrenswert, Instant-Downloads verlangen keinen Einsatz und bringen eine geringere emotionale Bindung.' Ohne Zweifel hat der technologische Wandel die Reaktionen der Leute auf Pop verändert, aber die Ebbe des Pop schon in den Neunzigern zeigt, dass die tribale Seite, die lokalen Szenen und der Begierdefaktor schon verblassten, bevor die Downloads einen Klick entfernt lagen."
Archiv: spiked

New Statesman (UK), 16.01.2014

Was Kafka im "Prozess" vorweggenommen hat, waren nicht die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, nicht Terror und Verfolgung, meint sein Biograf Reiner Stach in einem lesenswerten Essay (hier auf Deutsch), sondern der moderne Überwachungsstaat, der vor allem dank seiner willigen Helfer so glatt funktioniert: "Kafka beschrieb nicht nur, wie aus Menschen Opfer wurden, sondern zeigte auch, in welchem Maß die Macht auf die Komplizenschaft ihrer Opfer angewiesen ist. Das Phänomen geht über das Politische hinaus und berührt die Erkenntnise der Psychoanalyse. Wenn ein Sohn seinem Vater auch noch lange nach dessen Tod gehorcht, heißt dies, dass er die Knute, die ihn einst niederhielt, in die eigene Hand genommen hat... Für Kafka war das Problem nicht die Maschinerie, - die Bürokratie selbst ist nicht schuld, sie ist kein aktiver Agent. Die Schuld trifft uns."
Archiv: New Statesman

London Review of Books (UK), 23.01.2014

Perry Anderson beobachtet, wie die französischen Provinzstädte langsam aus dem Schatten des selbstgefälligen Paris heraustreten. Selbst das erzkatholische Nantes ist unter seinem Ex-Bürgermeister Jean-Marc Ayrault zu einer echten Kulturmetropole geworden: "Das Banausentum ist dem kulturellen Engagement europäischer Städte gewichen, in denen Konzerte, Festivals und Kolloquien das Image der Stadt fördern und Investitionen anziehen sollen. Was Nantes von anderen derartigen Programmen unterscheidet, ist der Raum, den es Filmen aus Afrika, Asien und Lateinamerika auf seinem Festival der drei Kontinente bot. Alle drei der aktuell besten chinesischen Regisseure - Hou Hsiao-Hsien, Jia Zhangke und Wang Bing - verdanken ihren Durchbruch den Erfolgen in Nantes, das mit Jacques Demy auch ihr eigenes Talent hervorgebracht hat."

Außerdem: Adam Mars-Jones bespricht die Roth-Biografie von Claudia Roth Pierpont. Ian Penman nimmt das Erscheinen dreier Biografien über Charlie Parker zum Anlass, einen eigenen biografischen Essay über den bewunderten Jazzmusiker zu schreiben. Barbara Newman liest eine englische Übersetzung der Briefe von Abelard und Heloise.

Liberation (Frankreich), 20.01.2014

Auch in Frankreich wird zur Zeit über Beihilfe zum Selbstmord diskutiert (die in Deutschland per Gesetz verboten werden soll). Libération bringt eine ziemlich erschütternde Betroffenengeschichte eines Angehörigen: Cédric Terzi erzählt, dass seine Mutter die Hilfe eine Schweizer Organisation beanspruchte und bekam, obwohl sie körperlich nicht krank war. Von ihm erwartete sie, dass er sie begleite, was er nicht über sich brachte: Mit diesem Wunsch "hat mich meine Mutter in ihr Vorhaben hineingezogen. Je mehr Zeit verging, desto weniger war ich fähig, ihr die Hilfe zu geben, die sie verlangte. Zugleich konnte ich dem Drama nicht einfach zuschauen, ohne etwas zu tun. Meine Verzweiflung war so groß, dass sie mir die Kraft gab, etwas zu tun, was ich mir nie vorstellen konnte. Ich habe an einen Richter geschrieben, damit er meine Mutter eine psychiatrische Behandlung auferlegt." Aber seine Mutter konnte ihren Plan verwirklichen - und die Familie schnitt ihn wegen seiner angeblich mangelnden Solidarität.
Archiv: Liberation
Stichwörter: Mutter

Eurogamer (USA), 12.01.2014

Christian Donlan erzählt in einer langen Reportage die Geschichte von Monopoly im Zweiten Weltkrieg. Insbesondere als Versteck für Fluchtwerkzeuge für die britischen Kriegsgefangenen der Deutschen diente das seit den 30ern enorm populäre Brettspiel, das sich diesen gewandelten Bedürfnissen auch äußerlich anpasste. Bis dahin wurden Spielbrett und Utensilien in separaten Verpackungen verkauft: "Obwohl das im Allgemeinen ausreichte, war es für den MI9 und seine Fluchtforscher ziemlich unnütz. Sie benötigten Boxen von ausreichender Größe, um ihre Tricksereien zu verbergen. Wohl auch aus diesem Grund wurde die schickere - und teurere - Deluxe-Ausgabe eingeführt. ... Die geschickten Techniker beim Hersteller Waddingtons schnitten präzise Öffnungen für die Werkzeuge in den Rand des Spielbretts, während ausländische Währungen unter dem Spielgeld versteckt wurde." Funktionierte tadellos.
Archiv: Eurogamer
Stichwörter: Kriegsgefangene

Frontline (Indien), 10.01.2014

Der Filmwissenschaftler und Publizist M.K. Raghavendra versucht am Bollywood-Kino den Wandel der indischen Gesellschaft und ihrer Werte abzulesen. Bedenklich erscheint ihm, dass die ethische Orientierung zunehmend zugunsten von Geschichten aufgegeben wird, die persönliche Bereicherung - durchaus auch mit kriminellen Mitteln - propagieren: "Der wirtschaftliche Aufschwung in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ließ anglophone Inder in die Städte streben und bescherte ihnen höhere Löhne und größere Zahlungskraft. Der wachsende Wohlstand in den Metropolen schlägt sich im Film in einem klaren Bruch nieder. Hatte sich das Hindi-Kino einst mit den Armen, insbesondere den Bauern, identifiziert, erscheinen sie nun als geeigneter Gegenstand für ethnografische Studien. In dem Maß, wie sich der Fokus auf das persönliche Fortkommen verschiebt, kann Bollywood nicht mehr die moralische Rolle spielen, die es bis dato innehatte."

Auch Sashi Kumar beschreibt Veränderung im Bollywood-Kino, jedoch auf technischer Ebene: Mit der Schließung des Prasad Colour Lab, Indiens größtem kommerziellen Filmentwicklungslabor, sieht er das Ende des analogen Produktionsprozesses besiegelt.
Archiv: Frontline
Stichwörter: Bollywood

Bookforum (USA), 01.01.2014

Die Aktivistin und Filmemacherin Astra Taylor bekommt beim Lesen von Brad Stones Biografie über Jeff Bezos Gänsehaut. Höchst beunruhigend findet sie nicht nur Bezos eindimensionale Erfolgsfixierung, sondern auch die Zukunftsvision, die Stone in seinem Buch entwirft: "Der Autor lässt keinen Zweifel, dass Amazon den Buchmarkt komplett dominieren, die ganz großen Autoren publizieren und jeden Zentimeter der Verlagsindustrie kontrollieren will … Stones Kapitel über Bezos' angespanntes Verhältnis zu Verlagen ist eine provokante Fallstudie, die Amazons Weg vom potenziellen Retter im Kampf gegen Großbuchhändler zum schrecklichen Feind nachvollzieht. Führungskräfte aus Amazons Buchgeschäft verließen das Unternehmen, weil sie die skrupellosen Vertragsverhandlungen nicht mehr ertrugen. Das Tauziehen mit kleinen Verlagen über den digitalen Zugang zu ihren Backlists firmierte intern unter dem vielsagenden Namen 'Gazelle-Projekt'."

Außerdem: Jim Newell erfährt bei Malcom Gladwell ("David and Goliath") wofür eine ordentliche Lese- und Rechtschreibschwäche gut sein kann oder der frühe Verlust eines Elternteils und wieso die Gesellschaft Außenseiter braucht: Die Kompensation treibt uns zu Höchstleistungen an. Und exklusiv online stellt Jeremy Lybarger die neue Burroughs-Biografie von Barry Miles vor, die weitgehend ohne Hyperbel auskommt. Bei dem Leben keine Kleinigkeit.
Archiv: Bookforum

Guardian (UK), 17.01.2014

Der britische Autor Will Self lässt in einem ellenlangen Essay seinen Gedanken zur Englishness und ihrem Wandel in den letzten zwanzig Jahren freien Lauf: "Englishness ist eine Praxis - eine Art, an Dinge heranzugehen - und zugleich eine Art, etwas ins Englische umzuwandeln, was es bisher nicht war - Shish Kebab, Zwiebel-Bhajji, Ackee und gesalzenen Fisch. Das Problem der Englishness besteht darin, dass sie mitunter zu viel ist und zu unterschiedslos, das ist nicht gesund für einen alternden Nationalcharakter. Fish and Chips (ein gutes Beispiel für englische Praxis: belgische Pommes, gemischt mit aschkenasischem Bratfisch) wurde traditionell in Zeitungspapier eingewickelt; aber es entspringt nicht meiner Parteilichkeit als Journalist, dass ich glaube, die Engländer hätten besser daran getan, das Essen loszuwerden und die Verpackung zu behalten. Zumindest hätte ich gewünscht, das sie das getan hätten, wäre ihr großer und leidenschaftlicher Glaube an die Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Presse - wie so vieles, das bis ins Mark Englisch ist - nicht ein Mythos."
Archiv: Guardian

Le Monde (Frankreich), 24.01.2014

Überaus düster sind die Perspektiven, die der ukrainische Autor Andrej Kurkow nach der Verabschiedung von Sondergesetzen für sein Land in Le Monde ausmalt: "Zu den Gesetzen, die der Präsident am 16. Januar dekretiert hat, gehört die amtliche Aufhebung parlamentarischer Immunität. Der Status des Abgeordneten kann in einem Federstrich in den Status des 'einfachen Bürger' verwandelt werden. Wenn die Ereignisse sich in den nächsten Tagen fortsetzen wie bisher, könnte im Westen des Landes ein Partisanenkrieg gegen die aktuelle Regierung und die machthabende Partei ausbrechen. Der ukrainsiche Staat könnte zuammenbrechen. Für Russland wäre es ein Vergnügen, den Süden und Osten dann zu seinem Protektorat zu erklären."
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Kurkow, Andrej, Immunität

New Republic (USA), 19.01.2014

Wenn man in der Sache kein Argument hat, muss man die Personen angreifen. Sean Wilentz, Historiker in Princeton, traktiert in der Titelgeschichte Edward Snowden, Glenn Greenwald und Julian Assange mit dem Argument, dass sie gar nicht an die Demokratie glauben, und versucht ihren wirklichen politischen Ideen auf die Spur zu kommen: "Das Ergebnis ist keine klar definierte Doktrin oder Philosophie, sondern so etwas wie ein politischer Impuls, den man mit einem Begriff Richard Hofstadters als paranoiden Libertarismus beschreiben kann... In Wirklichkeit hassen sie den modernen freiheitlichen Staat, und sie wollen ihn verletzen." Der Artikel wird heftig diskutiert und hat annähernd 300 Kommentare.
Archiv: New Republic

Paris Review (USA), 17.01.2014

"Ich erwachte kürzlich eines Morgens und fand mich in einen 70jährigen Mann verwandelt", beginnt der kanadische Filmregisseur David Cronenberg sein von der Paris Review dokumentiertes Vorwort zu einer englischen Neuübersetzung von Kafkas "Die Verwandlung". Aber lässt sich Kafkas Erzählung wirklich ohne weiteres als Allegorie auf das menschliche Altern verstehen? "Gewiss, einen Geburtstag sieht man schon von Weitem, und wenn er eintritt, sollte das keinem Schock gleichkommen. Und wie einem jeder wohlwollende Freund sagen wird, ist 70 auch nur eine Zahl. ... Die zwei Szenarien, Gregors und meines, scheinen so unterschiedlich, dass man sich fragen könnte, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, beide zu vergleichen. Ich aber sage: Die Quelle der Transformation ist dieselbe. Wir beide erwachten in einem Zustand erzwungenen Bewusstseins dessen, was wir wirklich sind. Und dieses Bewusstsein ist grundlegend und unumkehrbar. In beiden Fällen entpuppt sich die Wahnvorstellung als neue, vorgeschriebene Realität. Und das Leben geht nicht weiter wie bisher."
Archiv: Paris Review
Stichwörter: Cronenberg, David, Wir Beide