Magazinrundschau

Abhängige brauchen Frustration

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.11.2008. Die amerikanischen Magazine - Nation, NYT, New Yorker - widmen sich diese Woche ausgiebig V.S. Naipaul. The Nation bespricht außerdem Roberto Bolanos nachgelassenen Roman "2666", der laut Economist geradezu ein Publikumserfolg ist. Die ungarischen Magazine fühlen den Puls des Kalten Krieges zwischen Ungarn und der Slowakei. Prospect sieht die Blase aller Blasen platzen. Jose Saramago outet sich in El Pais Semanal als begeisterter Blogger. Der Espresso staunt über einen total aufmüpfigen L'Osservatore Romano. In der Gazeta Wyborcza erklärt Dubravka Ugresic: Serbokroatisch - das ist modern. In der New York Times ruft Kevin Kelly das Zeitalter der Bildschirme aus.

The Nation (USA), 08.12.2008

Die Dezemberausgabe ist vor allem Büchern gewidmet. Marcela Valdes schreibt 15 spannende Seiten über Roberto Bolanos nachgelassenen Roman "2666" (den übrigens auch Jonathan Lethem kürzlich in der NYT feierte). Ein Teil des Romans handelt von einem Journalisten, der die Morde an jungen Frauen in der mexikanischen Stadt Juarez recherchiert. Die Morde gab es wirklich, und den Journalisten auch. Sein Name ist Sergio Gonzalez Rodriguez. Er hat Bolano mit vielen Informationen für "2666" beliefert. Valdes, die Gonzalez Rodriguez getroffen hat, erzählt, in welcher Form sie Eingang in den Roman gefunden haben. Und sie erzählt, wie seine Recherchen die Verstrickung von Politikern und Drogenmafia in die Morde vermuten ließ. Kurze Zeit später wurde er entführt: "Er hatte spät nachts ein Taxi im schicken Condesa Viertel angehalten, um nach Hause zu fahren. Das Taxi fuhr eine Weile und hielt dann an. Zwei bewaffnete Männer sprangen hinein. Sie befahlen Gonzalez Rodriguez, seine Augenn zu schließen und sich zwischen sie auf den Rücksitz zu setzen. Das Taxi fuhr weiter - der Fahrer war ein Komplize. Obwohl Gonzalez Rodriguez sich nicht wehrte, beschimpften ihn die Männer, verprügelten ihn mit Fäusten und ihren Pistolen und rammten ihm einen Eispickel ins Bein."

"Für die New Yorker Kritiker waren Schriftsteller Menschen; für Wood sind Menschen, und auch Schriftsteller, Ideen." William Deresiewicz setzt sich auf neun Seiten mit dem Star der amerikanischen Literaturkritik James Wood und dessen neuem Buch "How Fiction Works" auseinander. Bei allen Vorzügen Woods, die ausführlich gewürdigt werden - an die New Yorker Kritiker Edmund Wilson, Lionel Trilling (mehr hier und hier), Alfred Kazin, Irving Howe und Elizabeth Hardwick reicht er für Deresiewicz nicht heran. "Diese Kritiker interessierten sich für Literatur, weil sie sich für Politik, Kultur, das moralische und das gesellschaftliche Leben interessiert haben und dafür, wie diese sich gegenseitig entblößen. Ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellten sie die Literatur, weil sie ihre Fähigkeit erkannten, das Leben nicht nur zu repräsentieren, sondern, wie Matthew Arnold sagte, zu kritisieren - Fragen zu stellen, wo wir stehen und in welcher Beziehung unser Standpunkt zu dem Punkt steht, an dem wir stehen sollten. Sie waren keine Ästheten, sie waren, in weitestem Sinne, Intellektuelle."

Scott Sherman interessiert sich nicht die Bohne für Naipauls Sexualität und seine Beziehung zu Frauen (das Thema wird auf Seite zehn seiner zwölfseitigen Besprechung von Patrick Frenchs Naipaul-Biografie angesprochen). Auch hätte er gern mehr über Naipauls Bücher gelesen, aber alles in allem ist diese Biografie für ihn doch eine "eindrucksvolle Leistung". Am Schluss zitiert er Naipaul, der lange vor der Kundera-Affäre, 1994, erklärt hatte: "Das Leben eines Autors ist legitimer Gegenstand von Untersuchungen; und an der Wahrheit sollte nicht gespart werden."
Archiv: The Nation

New Yorker (USA), 01.12.2008

Wie gut der Kritiker James Wood ist, kann gleich hier überprüft werden. Noch immer unangepasst sei der "öffentliche Snob" und "Riesenlump", als der er sich ihm schon 1994 bei einem Interviewtermin präsentiert habe, schreibt er in seiner Besprechung der "außergewöhnlichen" Biografie von Patrick French über den Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul. In "The World Is What It Is" könne man viel erfahren über die zwei Seiten des zwar erfolgreichen, aber "sozial erfolgreichen, aber vorsätzlich freundlosen" Autors: "Diese beiden Seiten könnte man den Verwunder und den Verwundeten nennen."

Entzugskliniken in Hollywood funktionieren etwas anders als Einrichtungen für gewöhnliche Sterbliche, beschreibt Amanda Fortini in ihrer herrlich new-yorkerischen Reportage über die Zunahme so genannter Luxus Rehabs wie etwa Wonderland. Dort dürften die Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigen Handys und Computer benutzen, Schauspieler Drehtermine wahrnehmen und Musiker auf Tour gehen. Viele Spezialisten halten eine solche Behandlung für falsch: ",Abhängige brauchen Frustration, Grenzen und Struktur. Sie müssen lernen, diese Dinge auszuhalten?, erklärt Dr. Drew Pinsky, Leiter des angesehenen Entzugsprogramms im Las Encinas Hospital in Pasadena. (...) Und John MacDougall, Leiter der psychologischen Beratungsstelle im Hazelden, sagte mir: "Hier geht keiner raus - außer zur Beerdigung eines nahen Verwandten. Wir verlangen, dass man 28 Tage bleibt. Also, ich kann mich nur an einen einzigen Ausnahmefall in meinen vierzehn Jahren hier erinnern, und der musste ein Übereinkommen bei den Vereinten Nationen vorstellen."

Weiteres: John Cassidy porträtiert den Chef der amerikanischen Notenbank Ben Bernanke, der sich für seinen Kampf, das amerikanische Finanzsystem vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren, Radikalität verschrieben hat. Sasha Frere-Jones stellt den Musikproduzenten und DJ Steven Ellison alias Flying Lotus vor. Und David Denby sah im Kino Gus Van Sants Verfilmung der Lebensgeschichte des amerikanischen Politikers und Bürgerrechtlers der Schwulen- und Lesbenbewegung Harvey Milk "Milk" mit Sean Penn in der Hauptrolle und die Vampir-Romanze "Twilight" von Catherine Hardwicke. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "In Other Rooms, Other Wonders" von Daniyal Mueenuddin und Lyrik von Clive James und Stanley Moss.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 22.11.2008

Auf die Frage, weshalb sich die Beziehung zwischen der Slowakei und Ungarn gerade jetzt so verschlechtert hat, wo doch beide Länder Mitglieder der EU sind, antwortet der ungarische Schriftsteller slowakischer Herkunft, Pal Zavada im Interview mit Zsolt Zadori: "Erklärungen habe ich auch, nur verstehen kann ich es nicht. Auch dann nicht, wenn es offensichtlich ist, dass solche nationalen Gegensätze aus der Tiefe von historischen Ressentiments genährt werden, die bis heute nicht besprochen und aufgelöst wurden. Dies wird auch die EU nicht für uns auskurieren, vielmehr müssen sich beide Völker gemeinsam in ihrer Vergangenheitsbewältigung üben. Und beide sollten mit dem Bekenntnis der eigenen Sünden beginnen... "
Archiv: HVG

Nepszabadsag (Ungarn), 22.11.2008

"Das Elend des slowakischen und ungarischen Nationalismus hat in vielerlei Hinsicht den selben Ursprung", meint der in der Slowakei geborene ungarische Historiker Laszlo Szarka und sucht im Interview mit Gabor Miklos nach den Gründen des aktuellen Konflikts: "Hinter den primitiven, die Sensibilität des anderen außer Acht lassenden Vorurteilen stehen in beiden Ländern die im Kommunismus tabuisierten historischen Gegensätze und verbotenen Geschichten. Ich glaube nicht, dass wir heute in Ungarn oder in der Slowakei dem anderen vorwerfen müssten, er sei faschistisch. Es genügt, wenn wir die Ursachen dafür ergründen, wieso der neue Radikalismus, der alte und neue Nationalismus beziehungsweise der autoritäre Populismus derart zusammenfinden und sie solche Massen in ihren Bann ziehen konnten. Wer braucht - und wofür - eine Ungarische Garde anstelle eines wahrhaftigen, zum Handeln bewegenden Nationalgefühls und Patriotismus? Warum brauchen wir erneut Sündenböcke? (...) Ich glaube, dass im heutigen slowakisch-ungarischen Konflikt die Geschichte lediglich Schlagwörter für oberflächliche publizistische Erklärungen liefert, während die tieferen historischen Ursachen kaum erwähnt werden. Diese öffentlich zu diskutieren, ist unsere vordringliche Hausaufgabe, in die wir aber auch die Nachbarn mit einbeziehen müssen."
Archiv: Nepszabadsag

Magyar Narancs (Ungarn), 20.11.2008

Auch nach dem Treffen der beiden Regierungschefs am 15. November haben sich die Positionen im Konflikt zwischen Ungarn und der Slowakei kaum geändert. Die Wochenzeitung Magyar Narancs hat eine Erklärung dafür: "Dass wir mit keiner wirklichen Bewegung rechnen können, hat einen Grund: Die Interessen der slowakischen Regierung stimmen in dieser Geschichte nicht mit denen der ungarischen Regierung, sondern mit denen der ungarischen Faschisten überein. Fico kam nämlich nicht mit Lösungsvorschlägen [wie Gyurcsany], sondern mit Umfragewerten: seine Popularität sei in bester Ordnung, warum sollte er sich zurückhalten, und gerade in Sachen Nationalismus? Zumal er für dessen Schüren die Ungarn diesseits und jenseits der Grenze zur Hand hat. Von den ungarischen Faschisten bekommt er jede Hilfe für diese Politik."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Slowakei

Elet es Irodalom (Ungarn), 14.11.2008

Der Chefredakteur der Wochenzeitung kritisiert ein Argument, das sich die ungarische Seite - auch in Regierungskreisen - zunehmend zu eigen macht: der Rechtsradikalismus, in Ungarn eine Randerscheinung, sei in der Slowakei auf Regierungsebene präsent. Dieses Argument greife nicht. "Die ungarischen Rechtsextremen, sind, wenngleich nicht in der Regierung, aber auf kommunaler Ebene sehr wohl vertreten, und mit ihnen jene Ideologie, deren Teil der Nationalismus bildet. Die ungarische Legislative ist augenscheinlich unfähig, den sich auf nationalistischer Basis organisierenden, halbregularen, uniformierten und bereits die Landesgrenze überquerenden Truppen zu begegnen, in deren Ideologie die Revision der Grenzen eine zentrale Forderung darstellt. Was hat die ungarische Rechtsprechung, die ungarische Verwaltung erfolgreich dagegen unternommen? Praktisch gar nichts... "

Der Historiker und Politologe Daniel Hegedüs versucht, dem slowakisch-ungarischen Konflikt auch etwas Positives abzugewinnen: "Einen Gewinn wird dieser kleine slowakisch-ungarische Kalte Krieg bestimmt noch bringen: Die Erkenntnis, dass es an der Zeit ist, zunächst vor unserer eigenen Haustür zu kehren. Ein Ungarn, in dem der Einfluss der extremen Rechten auch für den internationalen Medienkonsumenten sichtbar zunimmt, in dem rassistische Gewalttaten gegen Roma an der Tagesordnung sind, in dem nationale Symbole anderer Staaten verbrennt und Ortstafeln in Sprachen der Minderheiten umgestürzt werden - solch einem Ungarn fehlt die moralische Grundlage, um gegenüber anderen Länder als Beschützer der Minderheitenrechte aufzutreten. Und ohne moralische Grundlage ist auch der politische Spielraum sehr klein.?

Prospect (UK), 01.12.2008

Als verrückteste aller Finanzblasen und dennoch als exemplarisch beschreibt Jonathan Ford in einem sehr lesenswerten Artikel die aktuelle Preisblase für zeitgenössische Kunst: "Diese Blase wird jeden Moment platzen. Sie zeigt alle Charakteristika der Südsee-Blase des Jahrs 1720 oder des Tulpen-Wahnsinns der 1630er. Sie ist die Blase aller Blasen, prekär thronend auf der Spitze anderer, bereits geplatzter Kredit-, Häuser- und Waren-Blasen und viel dramatischer inflationiert als diese. Während Häuser auf dem britischen Markt immerhin sechs Jahre brauchten, um ihre Preise am Beginn dieses Jahrhunderts zu verdoppeln, schaffte die zeitgenössische Kunst das in gerade mal einem Jahr, von 2006 auf 2007. (In derselben Zeit haben sich die Alten Meister um nur 7,6 Prozent verteuert und britische Aquarelle aus dem 17. bis 19. Jahrhundert haben sogar an Wert verloren.)"

Weitere Artikel: Mutig krönt Julian Gough die Dichterin Sarah Palin zur poeta laureata. David Goodhart stellt einerseits fest, dass die soziale Mobilität in Großbritannien gerne unterschätzt wird - dass die Gesellschaft allerdings am oberen wie am unteren Ende nach wie vor sehr unbeweglich ist. Toby Young schildert den Aufstieg des Celebritariats. Michael Lind fragt nach dem Abebben der ersten Euphorie nach der "Bedeutung von Obama".
Archiv: Prospect

Polityka (Polen), 21.11.2008

Zdzislaw Pietrasik holt in einem auch auf Deutsch zu lesenden Text zu einem Rundumschlag gegen das polnische Kino aus, das keine guten Filme mehr hervorbringe und auch die Zuschauer nicht erreiche: "Der polnische Zuschauer geht nicht mehr in polnische Filme. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass er nicht mehr glaubt, dass man noch interessant über etwas Wichtiges reden kann. Das gilt insbesondere für den erwachsenen, intellektuellen Zuschauer, der mit den besten Filmen des internationalen und nationalen Kinos aufgewachsen ist, den häufigen Besucher der alten Filmclubs und der alljährlichen Filmtage 'Konfrontationen'. Als Ergebnis werden sogar wertvolle Filme abgelehnt, wie die neue Arbeit von Skolimowski ("Cztery noce z Anna")oder der interessante Streifen über die Lustration von Michal Rosa ('Rysa'). Die Regisseure tragen heute die kollektive Verantwortung für die Sünden ihrer weniger talentierten Kollegen."
Archiv: Polityka

El Pais Semanal (Spanien), 23.11.2008

Der Schriftsteller Manuel Rivas unterhält sich mit dem Literaturnobelpreisträger und begeisterten Blogger Jose Saramago: "Sie könnten regelmäßig in jeder großen Tageszeitung schreiben - weshalb stattdessen ein Blog? Ist es der Wunsch nach Dissidenz?", fragt Rivas. Darauf Saramago: "Vielleicht ist es, als könnte man noch einmal ganz von vorne anfangen: Schreiben ohne jede Einschränkung. Die Zeitungen würden dafür bezahlen, natürlich. Aber sehen Sie, Obama hat gewonnen, ich freue mich darüber und setze mich hin und schreibe einen Artikel in meinem Blog, in dem ich unverblümt fordere, Guantanamo zu schließen und die Wirtschaftsblockade gegen Kuba aufzuheben. Und so zu allem, was mir gerade einfällt. Natürlich integriert einen am Ende das System. Im Grunde ist man bloß die Zierkirsche auf der Torte. Sie tolerieren dich, lachen über dich - immer dieser Saramago... Aber trotzdem gebe ich nicht auf: Ich fühle mich täglich mehr wie ein libertärer Kommunist. Drei Fragen müssen wir uns das ganze Leben lang stellen: Warum? Wofür? Für wen?"
Archiv: El Pais Semanal

Times Literary Supplement (UK), 24.11.2008

Angus Trumble, Kurator am Yale Center for British Art in New Haven, Connecticut, hat mit großem Vergnügen den informationsreichen Parfümführer von Luca Turin und Tania Sanchez gelesen. Sein Text beginnt jedoch mit einer Klage. "Warum werden große Parfüme nicht ernst genommen? Während der Kulturbetrieb sich durchaus ernsthaft mit Zweigen der Literatur, Architektur und Musik auseinandersetzt, muss ich erst noch einen Kurator finden, der sich einen Weg zum Parfümverkaufsstand bahnt, weil er zum Beispiel Joy sucht, Henri Almeras Meisterwerk für Jean Patou, das, wenn es ein Gemälde wäre, neben Matisses fast zeitgleich enstandener 'Gelben Odaliske' in Philadelphia hängen würde."

Außerdem: Der Labor-Politiker Denis MacShane hat ein Buch über den neuen Antisemitismus geschrieben, "Globalising Hatred", das Christopher Hitchens ziemlich überzeugend findet: "Es gibt ein Gefühl, dass jede Infragestellung dessen was man als jüdische Macht bezeichnet, aufregender und möglicherweise tabubrechender ist" als zum Beispiel eine Kritik an Pakistan.

Rue89 (Frankreich), 22.11.2008

Wer hat die Romane des kongolesischen Schriftstellers und Dramatikers Sony Labou Tansi geschrieben? Hatte er Ghostwriter? Dieser Frage geht Barry Saidou Alceny von der westafrikanischen Tageszeitung L'Observateur Paalga nach. Argwohn habe es schon lange gegeben, nun stelle das Buch "Sony Labou Tansi, ecrivain de la honte et des rives magiques du Kongo" des Dozenten und Forschers Jean-Michel Devesa klar, was es damit auf sich hat: Offenbar haben Lektoren seines Verlags Seuil stark in die Texte eingegriffen. "Verbesserungen unter dem Vorwand, dass Sony Labou Tansis Texte etwas Lifting benötigten, um vom Lektorat akzeptiert zu werden. (...) Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass andere Sony Labou Tansi beim Umschreiben seiner Bücher geholfen haben sollten, wäre das eher bedauerlich als tadelnswert. Welcher junge Autor hätte die Entschlossenheit, kleine Variationen abzulehnen, wenn dies der Preis für die Veröffentlichung seines ersten Romans ist?" Endgültige Klärung werde es geben, sobald der Forschung Tansis Manuskripte und Notizbücher zur Verfügung stünden und damit eine "wahrhaft 'genetische' Kritik" möglich werde.
Archiv: Rue89
Stichwörter: Kongo, Lektor, Rue89, Sony, Ghostwriter

Tygodnik Powszechny (Polen), 23.11.2008

"Die polnischen Stadtoberhäupter mögen ausländische Juden sehr. Schlimmer ist es, einen Juden vor Ort zu haben - tot oder lebendig". Elzbieta Jaskiewicz beschreibt, wie im ostpolnischen Städtchen Bilgoraj bei Bauarbeiten Überreste eines alten jüdischen Friedhofs gefunden wurden. Obwohl Denkmäler der Grabkultur dokumentiert sind, und seit einigen Jahren eine "Stiftung zum Schutz des Jüdischen Erbes" (FODZ) in Polen arbeitet, tut sich die lokale Verwaltung oft schwer, die Erinnerung an jüdische Geschichte vor bedrohte Investitionen zu stellen. "Die Friedhofsfrage ist ein moralisches Problem, darin sind sich alle einig. Nur dass nicht alle den Lösungsvorschlägen zustimmen. 'Wenn polnische Gräber in Wilna oder Lemberg umgepflügt würden, würde ich mich auch aufregen. Nur werden diese entweder von der polnischen Minderheit oder unserer Regierung gepflegt', sagt der Bürgermeister. 'Diese Denkart: Wir geben den Juden den Friedhof zurück, und sie pflegen ihn oder zahlen noch dafür, muss sich ändern. In Polen gibt es 9 jüdische Gemeinden und 1.200 Friedhöfe, von den Massengräbern des Holocaust ganz zu schweigen', entgegnet eine Vertreterin von FODZ."

Nur online nachzulesen: Letzte Woche starb einer der bekanntesten polnischen Comiczeichner Janusz Christa (hier ein englisches Porträt). Mit der Serie der Abenteuer von "Kajko und Kokosz" schuf er den polnischen Asterix, schreibt Marcin Turkot. Obwohl der Autor die Realität eines slawischen Dorfes darstellt, das sich der Eroberung durch Raubritter (die "eine Mischung zwischen Kreuzrittern und der kommunistischen Miliz" darstellen) widersetzt, sind Anknüpfungen an die sozialistische Realität kaum übersehbar. "Es verwundert, dass die Zensoren eine so offene Parodie des Systems zugelassen haben. Vielleicht haben sie den Comic, als etwas für Kinder und nur für Kinder geschaffenes, ignoriert. Vielleicht haben sie ihn nicht einmal gelesen", schreibt Turkot. Ein Beispiel: die Raubritter haben sich verpflichtet, die Bauzeit einer Kriegsmaschine um 100 Prozent zu kürzen, und haben die Verpflichtung um 200 Prozent überschritten.

ADN cultura (Argentinien), 22.11.2008

"Das Internet ist eine tickende Zeitbombe." Juan Cruz, Schriftsteller, Journalist, Blogger und Mitherausgeber der spanischen Tageszeitung El Pais, sieht "den Journalismus in Flammen stehen, weil fast alle glauben, das Internet sei ein Medium und nicht bloß ein Material - aber das Internet ist das Gleiche wie ein Kugelschreiber: Man muss damit umgehen können. Im Internet herrscht ein grauenvolles Durcheinander, in dem wir Journalisten für Ordnung sorgen müssen. Nach der Verleihung des Nobelpreises an Jean-Marie Gustave Le Clezio, hieß es im Internet, Le Clezio sei gestorben. Eines Tages werden wir feststellen, dass es den Journalismus, der seine Informationen stets mit drei Quellen abglich, nicht mehr gibt, und dass das Internet ihn zerstört hat. Bis heute weiß niemand, wie man Nachrichten, die im Internet kursieren, verifizieren soll. Manche Leute machen sich deshalb ernsthafte Sorgen."
Archiv: ADN cultura

Espresso (Italien), 21.11.2008

Sandro Magister ist erstaunt über die wertkonservative Konkurrenz nebenan, den L'Osservatore Romano. Die Zeitung des Vatikans entwickelt sich zwar nicht gerade zum Dissidentenblatt, aber seit Giovanni Maria Vian vor gut einem Jahr das Ruder übernommen hat, segelt der L'Osservatore auch mal gegen den Strom. Zum Beispiel in Sachen Tod. "Den man heutzutage üblicherweise nicht mehr daran festmacht, ob das Herz aufgehört hat zu schlagen, sondern ob sämtliche Gehirnfunktionen erloschen sind. Diese Abmachung, die 1968 in Harvard getroffen wurde, hat beträchtliche Auswirkungen auf die Praxis, denn sie erlaubt Organtransplantationen bei schlagendem Herz. Aber es handelt sich eben um eine bloße Vereinbarung. Sie ist streitbar und es wird auch über sie gestritten. Am 2. September veröffentlichte der L'Osservatore Romano auf der ersten Seite einen Kommentar von Lucetta Scaraffia, die im Endeffekt die Debatte darüber neu eröffnete, wann das Leben zu Ende ist und damit die Legitimität von heute üblichen Organtransplantionen in Frage stellte. Der Artikel löste ein Erdbeben aus. Vor allem innerhalb der Kirche. Die vorherrschende Linie im Vatikan war bis dato, Organtransplantationen zu billigen, wenn zuvor das Hirnversagen festgestellt wurde. In der Kurie erhob sich ein Proteststurm gegen den L'Osservatore Romano. Schließlich war ja bald eine Tagung über Organtransplantationen angesetzt, und es gab Druck, dass der Papst bei dieser Gelegenheit die Debatte beenden könnte, indem er den Gehirntod als Kriterium bekräftigt. Aber Benedikt XVI. äußerte sich am 7. November etwas anders." Er sagte, man solle sehr vorsichtig sein, den Tod eines Menschen zu verkünden, und stützte damit die Quertreiber im Osservatore.
Archiv: Espresso

Gazeta Wyborcza (Polen), 22.11.2008

Eine quasi gesamtjugoslawische Autorenschar hat die Gazeta Wyborcza zu einem Gespräch versammelt: Mileta Prodanovic, Bora Cosic, David Albahari, Dubravka Ugresic und Nenad Velickovic unterhalten sich über die Rolle der Schriftsteller und der Sprache in den Balkanländern. Dubravka Ugresic erklärt zum Beispiel, warum sie immer noch Serbokroatisch spricht - und nicht Kroatisch, Serbisch oder Bosnisch: "Schreiben wir in einer Sprache der Vergangenheit? Ich würde eher sagen, in einer Sprache der Zukunft. Die Idee einer reinen Sprache ist alt und verstaubt. Sie stammt wie das Konzept der Nation aus dem 19. Jahrhundert. Heute dagegen mischen sich die Sprachen. Zum Beispiel werden die Polen, denen ich im Flugzug nach Dublin begegnet bin, in Irland einige Wörter aufschnappen, die sie wiederum in ihre Sprache einbringen. Überall auf der Welt sprechen die jungen Leute in gemischten Sprachen. In Amerika ist es Spanglisch. Deswegen ist unser Serbokroatisch oder Kroatischserbisch nur scheinbar rückwärts gewandt, es ist eine durch und durch moderne Sprache."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 21.11.2008

Sehr erstaunlich findet der Economist den Hype, der sich in den USA in diesem Jahr um die englische Übersetzung von Roberto Bolanos nachgelassenem Roman "2666" entwickelt hat: "'2666' ist ein mysteriöses, überwältigend ehrgeiziges Werk, das in sich fünf Romane über miteinander kaum verbundene Gegenstände verknüpft. Der vierte und längste katalogisiert die vielen Morde in einer fiktiven nord-mexikanischen Stadt namens Santa Theresa. Obwohl das Buch eine oft frustrierende Lektüre ist, ist die bisherige Reaktion der Kritik begeistert (Nation, NYT, Slate, Newsweek, Village Voice). Time hat '2666' zum besten Buch des Jahres erklärt. Innerhalb weniger Tage hat der Verlag Farrar, Straus und Giroux (FSG) eine zweite Auflage herausgebracht, was die Zahl der gedruckten Exemplare auf 75.000 erhöht. 'Es ist etwas ganz Besonderes. Es ist seltsam. Den kommerziellen Erfolg begreife ich im Grund nicht', meint Lorin Stein, der zuständige Lektor bei FSG. In einer Zeit, in der die Buchverkäufe stagnieren und weniger als vier Prozent der in den USA veröffentlichten Romane aus anderen Sprachen übersetzt ist, scheint der Erfolg eines Autors, dessen Bücher dafür bekannt sind, chaotisch, schwierig und intellektuell zu sein, ganz außerordentlich bemerkenswert."

In weiteren Artikeln geht es um die aussterbende Profession der Schreiber in Mexiko City, das neue Museum für Islamische Kunst (Website) in Qatar und die Zukunft von MTV im Internet-Zeitalter. Besprochen werden unter anderem Daniel Johnsons Studie über das enge Verhältnis von Schach und Kaltem Krieg und Frederic Spotts' Untersuchung (Verlags-Website) über französische Künstler und Intellektuelle unter der Nazi-Besetzung.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.11.2008

"Gewagt" nennt der Nouvel Obs das neue Buch des in Nizza lehrenden Philosophieprofessors Abdennour Bidar "L'Islam sans soumission - Pour un existentialisme musulman" (Islam ohne Unterwerfung - Für einen muslimischen Existenzialismus), da der Begriff Islam gemeinhin doch mit Unterwerfung übersetzt werde. Im Gespräch erläutert Bidar: "Es stimmt, gemäß eines verbreiteten a priori sind Islam und Unterwerfung quasi ein Pleonasmus. Mit meinem Titel wollte ich zeigen, dass es eine Möglichkeit gibt, den Islam anders zu verstehen, im Sinne einer Freiheit des Bewusstseins, einer praktischen Freiheit, wie sie bereits in den Verhaltensänderungen vieler Muslime sichtbar ist, besonders in Europa. Nur hat diese Freiheit nie wirkliche Anerkennung gefunden, sondern lediglich eine stille Akzeptanz in bestimmten Milieus. Weil im Islam keine echte Freiheitskultur bezüglich der Religion gibt. Die Frage des Abtrünnigwerdens veranschaulicht das am tragischsten."

New York Times (USA), 23.11.2008

Das Zeitalter des Buchs geht zu Ende, meint Wired-Gründer Kevin Kelly. Bildschirme lösen das Buch ab. Wir verwandeln uns von Lesern in Seher. Aber wie soll man die Flut der Bilder ordnen und benutzen? Es müssten Instrumente entwickelt werden, die ähnlich wie Stichwortverzeichnisse und deep links bestimmte Filmbilder verknüpfen können: "Bis jetzt gibt es noch keine entsprechenden 'Leser'-Tools für Bilder, die die Masse benutzen könnte. (...) Bei Filmen haben wir noch kein Äquivalent für den Hyperlink. Mit wahrer Bildschirmbeherrschung wäre ich in der Lage, spezielle Elemente einer Einstellung zu zitieren. Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Historiker, der sich für orientalische Kleidung interessiert und ich möchte auf einen Fez verweisen, den jemand in dem Film 'Casablanca' trägt. Es sollte mir möglich sein, auf den Fez selbst zu verweisen (nicht auf den Kopf, der ihn trägt), indem ich auf das Bild verlinke, das sich zwischen vielen Einstellung 'bewegt', so wie ich ganz leicht auf den Hinweis auf einen Fez in einem Text verlinken kann."

Wie bringt man in Zeiten des Internets und einer zersplitterten Öffentlichkeit noch Werbung an den Mann? Jack Hitt stellt drei Werbern, Benjamin Palmer, Lars Bastholm und Robert Rasmussen, zwei Aufgaben. Erstens: eine Firma, die funktionale Kleidung für Farmer herstellt, sucht ein neues Publikum. Wie erreicht sie das? Zweitens: Die Nachrichtensendung von CBS, "Evening News With Katie Couric" soll vermarktet werden. Die Antworten - es geht immer um Digitalisierung - sind irre!

Charles Isherwood empfiehlt in der Book Review Ethan Morddens flott geschriebene Ziegfeld-Biografie. Und George Packer schreibt sichtlich beeindruckt über Patrick Frenchs Naipaul-Biografie: "French stellt Naipauls gequälte Sexualität ins Zentrum von dessen kreativen Schaffen, im Detail ans Licht gebracht durch verschiedene Quellen, darunter vor allem Naipaul selbst, ohne jemals in Voyeurismus abzugleiten oder in das, was Joyce Carol Oates einmal 'Pathografie' genannt hat."
Archiv: New York Times