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Auf dem Tisch eine Welt ausbreiten

02.07.2023. Kleiner Gruß an die große polnische Dichterin Wisława Szymborska, die heute hundert Jahre alt geworden wäre.
Wisława Szymborska, 2009. Foto: Mariusz Kubik, unter CC-Lizenz


Hundert wäre sie heute geworden. Am 2. Juli 1923 wurde sie in Prowent geboren, die Grande Dame der Welt-Poesie. Eine Stimme, die kaum Ihresgleichen hat in ihren Geistesblitzen, ihrem Humor und ihrer Gelassenheit. Die Zeitungen weltweit sind heute voll mit Hommagen und Gedichten. Denn sie sprach zu uns allen, zu den Dichtern, den Ingenieurinnen, den Kellnern wie den Philosophinnen. Und 1957 zu dem Schneemenschen Yeti.

Yeti, nicht nur Verbrechen
sind bei uns möglich.
Yeti, nicht alle Worte
sind ein Todesurteil.

beschwört sie ihn und sich und uns. Und später im gleichen Gedicht:

Yeti, wir haben Shakespeare.
Yeti, wir spielen Geige.
Yeti, und wenn es dunkelt,
zünden wir Lichter an.
            dt. Karl Dedecius

Ein lakonischer Zustandsbericht, verzweifelt, hoffnungsträchtig. Soweit haben wir es LSO gebracht in unserem ach so zivilisierten Europa: Verbrechen, Todesurteile, Shakespeare und die Geige.

Was verbindet uns, fragen alle ihre Gedichte. Was verbindet uns in diesen mörderischen Unzeiten, in denen wir leben? Vielleicht die Seele, oder der Schrecken ob eines überraschenden Wiedersehens,  oder die glückliche Liebe.

Schreiben bedeutete ihr: "auf dem Tisch eine Welt ausbreiten / - nicht von dieser Welt", so auch in dem Gedicht

Das Schreiben eines Lebenslaufs

Was ist zu tun?
Ein Antrag ist einzureichen,
dazu ein Lebenslauf.

Ungeachtet der Länge des Lebens
hat der Lebenslauf kurz zu sein.

Geboten sind Bündigkeit und eine Auswahl von Fakten.
Die Landschaften sind durch Anschriften zu ersetzen,
labile Erinnerungen durch konstante Daten.

Von allen Lieben genügt die eheliche,
nur die geborenen Kinder zählen.

Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.
Reisen, nur die ins Ausland.
Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.
Preise, ohne wofür.

Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen
und dich von weitem gemieden.

Umgehe mit Schweigen Hunde, Katzen und Vögel,
den Erinnerungskleinkram, Freunde und Träume.

Es gilt der Preis, nicht der Wert,
der Titel, nicht dessen Inhalt,
die Schuhgröße, und nicht wo
der Mensch, für den man dich hält, hingeht

Dazu eine Fotografie mit entblößtem Ohr.
Wichtig ist seine Form, nicht, was es hört.
Was es hört?
Das Knirschen des Papierwolfs.
            dt. Karl Dedecius

Wisława Szymborska starb am 1. 2.  2012 in Krakau, wo sie seit vielen Jahrzehnten lebte.

***

Rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag erschien im Suhrkamp Verlag: "Gesammelte Gedichte", hg. von Renate Schmidgall, aus dem Polnischen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall. Im April bereits erschien im Schöffling Verlag: Marta Kijowska, "Nichts kommt zweimal vor, Wisława Szymborska. Eine Biografie".
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