Im Kino

Amerikanisches Sentiment

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
17.09.2014. Ein tiefenentspannter Hans im Glück macht sich in Christian Mrasek und Jukka Schmidts relaxt improvisierten Film "Hans Dampf" auf nach Italien. Eine sentimentale Reise in die private Verfasstheit der USA unternimmt Gustav Deutschs "Shirley: Visions of Reality".


Wie der Hans aus dem Grimm"schen Märchen "Hans im Glück" hat der Kölner Hans aus dem Film "Hans Dampf" das Arbeitsleben schon hinter sich, wenn die Geschichte beginnt: Er hat soeben seinen Job gekündigt und trägt jetzt seine Abfindung in einer roten Stofftasche durch die Gegend. Seine Arbeit hatte etwas damit zu tun, meint er gereizt zu seinem offensichtlich nicht einsichtigen Vater am Telefon, Scheiße als Gold zu verkaufen. Dann beendet Hans das Gespräch, verschenkt sein iPhone an zwei Kinder, denen er auf der Straße begegnet (und die gleich neugierig ins Telefon hineinsprechen) und lässt sich im weiteren Verlauf des Films von nichts und niemand mehr reizen. Ab sofort nicht mehr erreichbar, macht er sich auf, reist von seiner Kölner Heimat in Richtung Italien. Nicht die Richtung, nicht den Sinn, aber die Struktur der Reise gibt das Grimm"sche Märchen vor: Erst gabelt Hans einen VW Bus auf, den tauscht er bald gegen einen Dreiradwagen ein, den wiederum gegen ein Schlauchboot und so weiter. Die rote Stofftasche samt Inhalt ist bald fort, dafür trägt Hans eine rote Pudelmütze durch die Gegend. Zwischendurch läuft schöne Musik: "Lass uns Drogen nehmen und rumfahren".

Christian Mrasek ("Die Quereinsteigerinnen") und Jukka Schmidt, die Regisseure dieses glücklich machenden Films, sind Teil der Kölner Gruppe, die Wikipedia als einen losen "Zusammenschluss unabhängiger Filmemacher" führt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kölner-Gruppe-Filmen hatte "Hans Dampf" letztes Jahr einen regulären Kinostart, einen so kleinen allerdings, dass nicht nur der Perlentaucher ihn übersehen hatte. Anfang des Monats ist er auf DVD erschienen, bei goodmovies.de. Eine schöne Veröffentlichung ist das schon aufgrund des making of, das sich unter den Extras findet und das man, was Tonfall und Humor angeht, kaum vom Hauptfilm unterscheiden kann. Nachvollziehen lässt sich da eine relaxte Form des Filmemachens jenseits der zwanghaften Professionalisierung, auf die heutzutage schon in Filmhochschulen so viel Wert gelegt wird; eine Form des Filmemachens, die trotzdem mehr sein will als bloße Amateurfilmerei nach Feierabend. Es scheint die Möglichkeit eines Kinos durch, das sich gar nicht mehr, weder positiv noch negativ, auf Arbeit bezieht, das stattdessen wie nebenbei aus dem Alltag, aus Freundschaftszusammenhängen, aus ungerichteten, versponnenen Gesprächen hervorgeht.



Das passt natürlich zur Geschichte: "Hans Dampf" ist ein improvisierter Film übers Improvisieren. Und zwar: über verschiedene Arten des Improvisierens. Hans selbst verwandelt sich, sobald er das iPhone los wird, in einen tiefenentspannten Drifter. Hauptdarsteller (und Debütant) Fabian Backhaus ist schon aufgrund seiner sanften, dialektgefärbten Stimme und einer Stimmmodulation, die einen gelegentlich eher an Gedichte (aber: an noch nicht abgeschlossene, noch im entstehen begriffene Gedichte) als an Alltagssprache denken lässt, eine Entdeckung. Sein Hans scheint immer mindestens so sehr zu sich selbst wie zu anderen zu sprechen.

Dass Reise und Film trotzdem nicht in Richtung Introspektion - und auch nicht in Richtung einer indifferenten Hippie-Glückseligkeit - führen, dafür sorgen die Menschen, denen Hans auf seinem Weg begegnet, und die allesamt, selbst wenn sie nur in einer Szene auftauchen, etwas Höchstpersönliches in den Film einbringen. (Allein wie der Film mit Dialekten arbeitet - da merkt man erst, welche Gewalt das glattgebügelte, auch im Kino allgegenwärtige Fernsehdeutsch der Sprache antut.) Gleich in Köln gabelt Hans die rothaarige Rose auf, die dann allerdings lieber bei seinem bärtigen Kumpel Ecki in dessen Badewanne turtelt. Seßhafte Improvisation, nichts für Hans. Später trifft er eine andere Frau, Fee; deren Darstellerin, Nina Schwabe, wurde von Klaus Lemke entdeckt, dementsprechend vital agiert sie auch in "Hans Dampf".

Den entscheidenden Widerstand, der den Film dauerhaft unter Spannung setzt, gabelt der Reisende vorher auf einer Parkbank auf: Mario Mentrups Django ist so etwas wie der Mr. Hyde zu Backhaus" Dr. Jekyll, einer, der zwar auch keinen Bock auf Erwerbsarbeit hat, der Improvisation jedoch nicht als Selbstzweck begreift, sondern als Werkzeug für die möglichst unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Immer auf 180, immer in Bewegung, in jedem Moment einem neuen Handlungsimpuls nachgebend, schwirrt er um Hans herum, versucht den VW Bus zu klauen, sitzt zeternd im Dreiradwagen. Einer wie er ist nicht vorgesehen in Grimm"schen Parabeln.

Wenn es Django nach mehreren erfolglosen Versuchen doch noch gelingt sich abzuseilen, hat man kurzfristig Sorgen, dass der Film an Dampf verlieren könnte; glücklicherweise klingt er dann doch sehr angenehm aus, mit einer Sexszene, auf die man schon eine ganze Weile gewartet hat, und mit einem Playback-Musikvideo zu einem ganz besonders schönen Celentano-Song: Pay, Pay, Pay.

Lukas Foerster

Hans Dampf - Deutschland 2013 - Regie: Christian Mrasek, Jukka Schmidt - Darsteller: Florian Backhaus, Mario Mentrup, Nina Schwabe, Cécile Marmier, Jacques Palminger - Laufzeit: 92 Minuten.

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Zwölfmal der 28. August in den USA, in Orten mit assoziativ aufgeladenen Namen: Pacific Palisades, Cape Cod, Albany. Zwölfmal der 28. August, von 1932 bis 1963. Und, am Ende, einmal der 29. August. Jeder dieser Tage beginnt mit Radioeinspielungen: der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, Vietnam. Hitler, Kennedy, Martin Luther King. Trotzdem: Weiter als Gustav Deutsch es in diesem eigenartigen und faszinierenden Film tut, kann man sich vom so nahegelegten dokumentarischen Ansatz kaum entfernen. "Shirley: Visions of Reality" ist ein Film in 13 tableaux vivants, akribisch nachgestellt, belebt, variiert auf der Grundlage von 13 Gemälden des Malers Edward Hopper. Er unternimmt eine Forschungsreise nicht so sehr in die amerikanische Geschichte, als in ihr Sentiment, durch die emotional-melancholische, hochartifizielle Darstellung von Hoppers Meisterwerken hindurch.

Ein Eindringen, Durchdringen, vage werden steht schon am Anfang, im Rahmen, der selbst auch wieder der eines Hopper-Bildes ist. Im Szenario von "Chair Car" beginnt eine junge Frau, in einem Buch von Emily Dickinson zu lesen. Auf dem Cover ist ein Hopper-Gemälde abgebildet. Die Kamera zoomt auf das Buch, auf das Gemälde im Gemälde, das die folgenden Gemälde rahmen wird, das Bild beginnt zu verschwimmen. Der Filmtitel wird lesbar, er steigt aus einem Raum des Schwindelgefühls auf und eröffnet gleichzeitig einen Raum, der an der Oberfläche klar und flächig erscheint. Ein genauerer Blick auf die unterschiedlichen Ebenen von Repräsentationen und die sich unaufhörlich gegenseitig überkreuzenden Bruchstellen hingegen kann den Schwindel nur vertiefen.



"Visionen der Realität", was genau meint das? Zuallererst einmal, dass die Realität, wo auch immer man sie verorten zu können glaubt - in den sich historisch gebenden Radioschnipseln? Wohl kaum -, bestenfalls die zweite Geige spielt. Auch wenn der Verweis auf konkrete historische Ereignisse anderes andeutet, geht es nicht um einen künstlerisch kommentierten Nachvollzug der US-Geschichte des mittleren Drittels des 20. Jahrhunderts. Eher ist es so, dass diese Ereignisse einen Resonanzboden für die emotionale Verfasstheit der Protagonistin Shirley bieten, die wiederum paradox skizziert ist: einerseits ist sie stets in intimen, melancholischen Voice-overs präsent, die eine individuelle Geschichte erzählen. Auf der anderen Seite bleibt sie abstrakt, wird sogar umso abstrakter, je mehr wir von ihrer Geschichte erfahren. Sie bleibt so flächig, so irreal wie die Hopper-Szenarien, in die Gustav Deutsch sie hineinstellt. Ihre Geschichte ist am Ende mehr eine allgemeine als wirklich die ihre - sie ist so persönlich wie exemplarisch zu verstehen; mit Shirley unternehmen wir eine sentimentale Reise in die private Verfasstheit der USA über drei Jahrzehnte hinweg. Drei Jahrzehnte voller prägender Erfahrungen für das nordamerikanische Bewusstsein.

Eine besondere Rolle spielt, für dieses Bewusstsein und für "Shirley: Visions of Reality", das Kino, das aus einer jeden amerikanischen (Traum-)Biografie der drei Jahrzehnte, die der Film nachvollzieht, nicht wegzudenken ist. Gleich zwei Kinoszenen gibt es. Einmal, inmitten der Großen Depression, sieht man Shirley als Platzanweiserin in einem Kino stehen. Und jeden einzelnen Dialog leise mitsprechen. Auch das ist eine Vision der Realität. Gustav Deutschs Film hat verstanden: Wer ein Leben zu den Zeiten und unter den Bedingungen des Kinos erzählen will, der muss dieses Leben stets auch als eine Kinogeschichte erzählen. Wer von uns wäre schließlich nicht mindestens ebenso sehr in Hollywood aufgewachsen wie an dem Ort, in den wir zufällig hineingeboren wurden?



Zum Ende von "Shirley: Visions of Reality" gibt es eine zweite Kinoszene, diesmal hören wir nur den Filmton. Es wird französisch gesprochen, die Nouvelle Vague ist da. Viel ist passiert, zwischen den Bildern. Das Allerschönste an Gustav Deutschs Film ist vielleicht, dass er es nicht nötig hat, uns das allzu deutlich zu zeigen oder zu erklären. Wir verstehen es auch so. Weil das amerikanische Sentiment, das im Zentrum von Hoppers Schaffen steht, längst auch das unsere ist.

Jochen Werner


Shirley: Visions of Reality - Österreich 2013 - Regie: Gustav Deutsch - Darsteller: Stefanie Cumming, Christoph Bach, Florentín Groll, Elfriede Irrall, Tom Hanslmaier - Laufzeit: 92 Minuten.