Essay

Du sollst mich töten

Von Gerbert van Loenen
30.07.2014. Die Diskussion über Sterbehilfe in den Niederlanden in den letzten dreißig Jahren zeigt, dass eine Grenze immer schwieriger zu finden ist: Wie weit reicht die Liberaliserung?
Die Niederlande haben sich zutiefst geändert seitdem die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung legalisiert worden sind. Die Art und Weise wie man Leid umgeht, und, wichtiger noch, die Art und Weise wie man mit leidenden Menschen umgeht, sind nicht mehr wie sie waren.

Dabei fing es so einfach an.

Die Debatte über aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid fing an mit Fällen von einwilligungsfähigen Menschen, die unter Schmerzen leiden und um aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid bitten. Das sind die klassischen Fälle.

Mit diesen "klassischen" Fällen beginnt jede Debatte über aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid. Früher in den Niederlanden. Und heute in Ländern, wo die aktive Sterbehilfe und der assistierte Selbstmord noch diskutiert werden, in Frankreich, in Dänemark und auch in Deutschland.

Es sind die Fälle, die man nachvollziehen kann, auch wenn man noch nicht so sehr von der Legalisierung überzeugt ist.

Die Autonomie des Menschen ist dabei in der öffentlichen Debatte ein wichtiges Argument für die Legalisierung: Ein Mensch, der leidet, muss selber entscheiden können, ob er sterben möchte. Autonomie ist ja wichtig in unserer westlichen Gesellschaft: Wir dürfen selber entscheiden, wo wir leben, was wir denken und wollen, wen wir heiraten. Dann erscheint es nur logisch, dass man auch selber entscheiden darf, wann man stirbt.

In den Niederlanden ist diese Debatte vorerst beendet. Ein Arzt darf einem Patienten, der schwer leidet und darum bittet zu sterben, Medikamente in tödlicher Dosis verabreichen mit der Absicht das Leben des Patienten zu beenden. Nimmt der Patient diese selber ein, dann handelt es sich um Beihilfe zum Suizid, spritzt der Arzt sie ein, dann handelt es sich um aktive Sterbehilfe. Beide sind nach dem Gesetz erlaubt.

Vopraussetzung für aktive Sterbehilfe ist an sich, dass der Patient ausdrücklich darum bittet. In den Niederlanden ist es aber nicht bei diesen klassischen Fällen - der Patient leidet und ist einwilligungsfähig - geblieben. Unmittelbar nachdem die Sterbehilfe Mitte der achtziger Jahre vom höchsten Gericht legalisiert worden war, fing die nächste Debatte an.

Einwilligungsunfähige Patienten zum Beispiel: Die leiden ja auch.

Wenn Onkel Harry um Sterbehilfe bitten darf, soll sein Neffe Gerhard doch nicht gezwungen werden, unter Schmerzen zu leiden, nur weil er geistig behindert ist? Wenn Tante Monika um Sterbehilfe bitten darf, soll ihre Nichte Katrin doch nicht gezwungen werden, unter Schmerzen zu leiden, nur weil Katrin ein Kind ist?

Die Idee, aktive Sterbehilfe auf Einwilligungsfähige beschränken zu können, hat sich als unrealistisch erwiesen.

Wenn man akzeptiert, das Leid unter Umständen gelindert werden darf, indem man das Leben des Patienten beendet, dann findet man nicht so leicht eine neue Grenze. In den Niederlanden jedenfalls sucht man sie immer noch, die neue Grenze.

Nach fast dreißig Jahren Erfahrung mit aktiver Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid in den Niederlanden ist das Fazit differenziert.

Es gibt die gesetzlich abgesicherte und gut kontrollierte Seite: Sterbehilfe auf Verlangen und - sehr selten - Beihilfe zum Suizid. Fast drei Prozent der Menschen die 2010 in den Niederlanden gestorben sind, starben nachdem der Arzt ihnen ein Medikament gegeben hatte mit der Absicht, das Leben zu beenden. Diese Fälle werden fast immer gemeldet. Gemeldete Fälle werden immer überprüft, und nur ganz selten gibt es da Unregelmäßigkeiten. Die große Mehrzahl betrifft Menschen, die an Krebs erkrankt sind, eine nur noch kurze Lebenserwartung haben und mit Hilfe des Hausarztes zu Hause sterben. Dies sind die schon erwähnten "klassischen Fälle", die gibt es wirklich und die lassen sich gut regulieren.

Es gibt aber auch die nicht oder nur halbwegs regulierte Sterbehilfe ohne Verlangen, die nicht-freiwillige Sterbehilfe. Gesetzlich basiert sie auf dem Prinzip der höheren Gewalt: ein Arzt in einer Notlage darf unter Umständen machen, was er normalerweise nicht darf, das Leben seines Patienten beenden ohne Bitte um Sterbehilfe.
Im Jahr 2010 gab es etwa 300 Fälle von Sterbehilfe ohne Verlangen, in der Vergangenheit waren es bis zu tausend Fällen pro Jahr. Das wissen wir auf Grund von anonymen Befragungen unter Ärzten. Es handelt sich um eine Hochrechnung.

Was sind das für Fälle?

Ganz genau weiß man das nicht, weil sie nur selten gemeldet werden. Eine Minderheit dieser Fälle betrifft jedenfalls behinderte Neugeborene, Cas zum Beispiel, ein Baby mit Spina Bifida, dessen Leben vor zehn Jahren im Groninger Universitätskrankenhaus UMCG vom Arzt beendet wurde. Er hätte leben und vermutlich gut sechzig Jahre alt werden können. Sein Vater erinnerte sich an seine damaligen Überlegungen: "Sechzig Jahre mit all den Schmerzen, mit der Bettlägerigkeit und den Einschränkungen. Zuhause wäre das nicht zu machen, er müsste in ein Pflegeheim, und dort könnten wir nur ein oder ein paar Mal die Woche vorbeikommen."

Die Eltern fragten sich, ob sie selbst ein solches Leben aushalten wollten und erkannten, dass das nicht der Fall war. "Nein, das würden wir nicht aushalten, dann dürfen wir das auch nicht von unserem Kind verlangen", entschieden der Vater und seine damalige Frau. "Es war eine unmögliche Entscheidung, und wir haben das kleinere Übel gewählt." Anfang des Jahrhunderts hat es in den Niederlanden tatsächlich einige Dutzende von Fällen gegeben wo Ärzte meldeten, dass sie das Leben Neugeborener mit Spina Bifida beendet hatten.

In den Medien gibt es oft Debatten über Leben, das von Krankheit oder Behinderung gezeichnet ist. Dann steht in den Niederlanden heutzutage immer die Frage im Haus: ist das noch "menschenwürdiges Leben"? Ist der Tod da keine Erlösung und wenn ja, kann man den irgendwie herbeiführen? Und sei es mit aktiver Sterbehilfe, sei es mit Nicht-Behandlung, zum Beispiel einer Infektion?

Die Argumentation, die in den Niederlanden dazu führt, dass man unter Umständen auch unverlangt das Leben von schwerstbehinderten oder schwerkranken Menschen beendet, ist ausgesprochen humanistisch. Das Ideal ist, dass jeder sich entwickeln darf, dass jeder sich bildet, das jeder morgen mehr kann als heute.

Aber es gibt Menschen, die sich nicht bilden können, die so schwer krank oder behindert sind, dass man sie nur pflegen kann. Und dann reagieren wir in den Niederlanden ratlos.

Oder wie eine Mutter es im niederländischen Fernsehen sagte, als sie über ihr schwerbehindertes Kind sprach: "Es weiß nichts, es kann nichts, es ist eigentlich nichts." Dieses Kind wird wohl an der nächsten Infektion sterben. Die Mutter hat das Heim, in dem ihre Tochter lebt, angewiesen, auf medizinische Behandlung zu verzichten: keine Antibiotika fur die behinderte Tochter. Was dabei auffällt, ist womöglich nicht, dass diese verzweifelte Mutter das sagt. Was auffällt, ist, dass es keinen Aufschrei gibt als eine Mutter dies entscheidet. Nicht in Holland.

Wir haben wohl die Gelassenheit verloren, die uns ermöglicht zu akzeptieren, dass es Leben gibt, das uns sinnlos vorkommt. Gerade ein aktivistisches, humanistisches Menschenbild stachelt die Sterbehilfedebatte an: das Leben muss sinnvoll sein und wenn nicht, dann müssen wir was tun.

Und noch ist die Debatte nicht am Ende.

Im Moment gibt es Bestrebungen, das Sterbehilfegesetz weiter zu lockern. So gibt es Senioren, die zwar nicht krank, aber das Leben leid sind und sterben möchten. Über 100.000 Niederländer haben eine Gesetzesinitiative unterschrieben die in diesen Fällen Beihilfe zum Suizid legalisieren soll. Eine Kommission untersucht jetzt im Auftrag der Gesundheitsministerin und des Justizministers, ob das Gesetz in diesem Sinne erweitert werden muss, damit lebensmüde Senioren Beihilfe zum Suizid erhalten können.

Dann gibt es die Frage, ob auch Kinder um Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid bitten dürfen. Die Belgier haben das möglich gemacht für Kinder, die so reif sind, dass sie auch unter 18 als einwilligungsfähig betrachtet werden können.

Auch gibt es Menschen, die an Alzheimer erkranken, und wegen der Krankheit einwilligungsunfähig werden. Nach dem Gesetz können sie um Sterbehilfe bitten, wenn sie im voraus eine Verfügung aufstellen. Bis vor einigen Jahren gab es nur Fälle aktiver Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung bei Alzheimerpatienten, die noch einwilligungsfähig waren, also am Anfang der Erkrankung, damit sie die Verfügung auch am letzten Tag ihres Lebens nochmal bestätigen konnten. Inzwischen hat es aber auch Fälle gegeben, wo Patienten Sterbehilfe erhielten, die schon so krank waren, dass sie nicht ohne weiteres den eigenen Wunsch um aktive Sterbehilfe wiederholen konnten. Sie waren sich also nicht unbedingt mehr ihres eigenen Wunsches bewusst, als dieser erfüllt wurde.

Dann gibt es noch einige Einzelfälle, die vor kurzem Aufsehen erregten. So gab es eine Patientin, die wegen schweren Tinnitus aktive Sterbehilfe erhalten hat. Oder einen 63-jährigen Beamten, der vereinsamt war und sich kein Leben als Rentner vorstellen könnte.

Ihm ist von der "Levenseindekliniek" aktive Sterbehilfe geleistet worden, einer Initiative der Sterbehilfebewegung, wo Patienten, die vom eigenen Arzt nicht die erbetene Hilfe bekommen, eine zweite Chance erhalten. Diese Lebensendeklinik verfügt über mobile Teams, damit Patienten, die sterben möchten, zu Hause betreut werden. Die Lebensendeklinik arbeiteit übrigens strikt nach dem Gesetz und ist bis jetzt nur einmal von einer Kontrollkommission für aktive Sterbehilfe kritisiert worden.

Ein langer Weg ist in den letzten dreißig Jahren zurückgelegt worden: von einwilligungsfähigen und Schmerzpatienten bis zu Patienten mit Ohrensausen, einsamen Menschen oder behinderten Babies.

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid haben Entwicklungen in Gang gesetzt, die wir nicht vorhergesehen hatten, als wir anfingen. Die alte Grenze, "Du sollst nicht töten", ist aufgegeben, eine neue Grenze noch nicht gefunden.

Gerbert van Loenen

Der Text ist auch in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse erschienen. Zum Thema des Buches kam Gerbert van Loenen auch durch eigene Betroffenheit: Sein Partner war in den letzten Jahren vor seinem Tod durch eine Hirnverletzung schwerstbehindert. Jüngst hat er auch in Deutschland ein Buch zu dem Thema publiziert: "Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zu Fremdbestimmung führt." Übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas und Bärbel Jänicke, Mabuse-Verlag, 250 S., 19,90 Euro.