Essay

Aufruhr im Zwischenreich - Teil 3

Rezeptfreies für eine andere Ars moriendi Von Daniele Dell'Agli
13.10.2014. Man kann nicht permanent die Persönlichkeitsrechte des Individuums als höchste Errungenschaft des Rechtsstaates feiern und ihm dann die Bestimmung der Art und Weise, wie er sein Leben beenden will, vorenthalten.
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V In Extremis


Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder!
Franz Kafka[29]

Die Frage nach dem selbstbestimmten Sterben, soviel ist inzwischen deutlich geworden, betrifft nicht nur die kleine Minderheit derjenigen, die bereits die Schwelle zum Nichtsein erreicht haben. Denn man kann die demografische Entwicklung nicht von einer sich verändernden Haltung zum Sterben und zum Tod abkoppeln. Will heißen: es gibt ein menschenwürdiges Alter nur ohne Angst vor dem Sterben. Dazu gehört essenziell die Gewissheit, selbst bestimmen zu können, wann es genug ist und über die Mittel zu verfügen, eine entsprechende Absicht in die Tat umzusetzen. Die thematische Fluchtlinie, die von der herrschenden medizinischen Totalkontrolle der Sterbeprozesse über ihre beginnende relative Entmachtung durch die Patientenverfügung bis zu einem anderen Verständnis und Gebrauch des Rechts auf Selbstbestimmung als den bislang klerikal oder sonst obrigkeitlich verordneten geführt hat, erreicht nunmehr die nächste Tabuzone, die mehr noch als alle bislang beleuchteten einer ideologischen Arena gleicht, die Problematik des Suizids.

Bislang wurde die absurde Diskussion darüber, wer überhaupt sterben darf, bevor "seine Zeit" gekommen ist (und er dabei auf fremde Hilfe angewiesen ist) - absurd deshalb, noch einmal sei es gesagt, weil die Medizin kein "natürliches" Sterben mehr zulässt und überdies den Zeitpunkt des physischen Sterbens immer weiter über den des psychischen und sozialen Todes hinauszögert - stets erfolgreich auf die wenigen Extremfälle reduziert, wo Patienten im terminalen Krebsstadium selbst mit Opioiden nicht mehr gegen die Schmerzen geholfen werden kann. Euthanasie-Befürworter argumentieren viel zu defensiv, wenn sie sich in dieses winzige Segment gerade noch geduldeter Ausnahmen (200 bis 300 jährlich) drängen lassen, deren Zahl dank sich bessernder palliativmedizinischer Versorgung ohnehin abnehmen wird.

Sie begeben sich damit auf das Glatteis jener Ewiggestrigen, die sich eine Sterbekultur überhaupt nur als lückenlose Medikalisierung und Verrechtlichung der Abläufe am Lebensende vorstellen können, und die dank politischer und korporativer Rückendeckung und gegen das Votum einer stets wachsenden Mehrheit der Gesellschaft und fast aller engagierten Intellektuellen bislang jede Liberalisierung verhindert haben.

Selbst die ansonsten honorig engagierte Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben sucht den kleinstmöglichen Nenner für einen Mainstreamkonsens, der da lauten soll: Sterbende und Schwerstkranke in den letzten Zügen ja, niemand sonst. Niemand sonst soll Zugang zu Pharmaka oder Dienstleistungen bekommen, mit deren Hilfe man sich gewalt- und schmerzlos von der Welt verabschieden kann. Und selbst bei Schwerstkranken, die noch nicht die versorgungsökonomisch erwünschte Schlussgerade von maximal zwei Wochen Restlaufzeit erreicht haben, wird hin- und her gefeilscht. Makaber nimmt sich dieser Stellungskrieg auch deshalb aus, weil die exponierten Sonderfälle offensichtlich dazu benutzt werden, von der wahren Dimensionen einer Problematik abzulenken, die sich künftig dramatisch verschärfen wird. Denn es gibt - nicht nur für Hochbetagte - genug andere Gründe als die notorisch angeführte Schmerzensangst, um zu einem selbst gewählten Zeitpunkt diese Welt zu verlassen.

Die Grundzüge eines zeitgemäßen Verständnisses suizidaler Selbstbestimmung hatte Ronald Dworkin bereits 1986 skizziert: "Die ethisch plausibelste Lösung scheint darin zu liegen, dass der Patient selbst die Priorität vorgibt. Zur Autonomie einer Person gehören nämlich auch die Fähigkeit und die Verpflichtung, die Grenzen dieser Autonomie festzulegen. Manch einem selbstbestimmt lebenden, zukunftsorientierten und kognitiv ausgerichteten Menschen mögen die im Laufe seines Lebens gewonnenen Überzeugungen, Grundsätze und Werthaltungen wichtiger sein als die im Zustand einer Demenz noch vorhandenen physisch-emotionalen Interessen"[30]. Da ethisch gegen diese Argumentation nichts sinnvoll eingewendet werden kann, wird gern juristisch auf einen angeblich bereits in der Verfassung verankerten Widerspruch zwischen dem Schutz des Lebens und der Autonomie der Person hingewiesen [GG Art...], der im Zweifelsfall immer zugunsten des umfassenderen Konzept des Lebens aufzulösen sei.

Akzeptiert man jedoch den Gedanken, dass das Sterben ein Teil des Lebens ist, dann muss dem Individuum seine Selbstbestimmung noch in extremis ("in extrema tegula" heißt es bei Seneca) zugestanden werden. Andernfalls würde man ihn auf die schiere physische Existenz reduzieren und, wie Klaus-Michael Kodalle gezeigt hat, im Namen einer theologisch korrupten Kategorie wie der "Heiligkeit des Lebens" und seiner Verklärung als "Geschenk Gottes" einer letztlich biologisierenden Ideologie zur "Tabuisierung der Selbsttötung in unserer Kultur" das Wort reden: "Wenn weder der Kollaps der Selbstkontrolle (unter unerträglichen Schmerzen) unterstellt werden kann, noch ein höheres Motiv der Entscheidung zum Tod Sinn verleiht, wenn also zweckfrei der Wunsch artikuliert wird, das Maß sei voll, dann revoltiert die Mitwelt und die Umwelt. Ein verquerer Biologismus mag da die Auffassung diktieren, das Leben sei doch allemal dem Tod vorzuziehen. Biologismus nenne ich diese Haltung deshalb, weil mit dieser "Logik" sich der Mensch auf jene Unmittelbarkeit des Lebens- und Überlebensdranges reduziert, der seiner animalischen Natur implementiert ist."[31]

Verfassungspolemisch gewendet: Man kann nicht permanent die Persönlichkeitsrechte des Individuums als höchste Errungenschaft des Rechtsstaates feiern und ihm dann die Bestimmung der Art und Weise, wie er sein Leben beenden will, vorenthalten. Man kann sich nicht permanent auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit der fdGO berufen und der Mehrheit der Bevölkerung, die der christlichen Jenseitsvertröstung nichts mehr abgewinnen kann, die Chance einer anderen Sinngebung verweigern. Man darf es auch gar nicht und tut es doch, gesetzeskonform und verfassungswidrig: während vor aller Augen massenmedial der Kult anomischer, skurriler oder sonst hypertroph individualisierter Lebensformen und Praktiken sogenannter Minderheiten zelebriert wird - was zu paradoxen Inklusionseffekten spätestens dann führt, wenn die Protagonisten der Abweichung anpassungseitel in die Kameras grinsen - ist es nach wie vor für Nichtmillionäre unmöglich, den letzten Lebensakt nach eigenem Gutdünken zu bestreiten. "Den meisten Sterbenden wird kulturell untersagt, für sich Standards der Identität und der Lebensqualität zu setzen und der soziopsychische Raum genommen... Eigenmächtige Gestaltungsversuche werden ignoriert, umgedeutet oder... zwangstherapiert."[32] Und dies nicht erst am Sterbelager. Die meisten gelehrten Einlassungen zu einer zeitgemäßen Ars moriendi verschweigen diesen entscheidenden Punkt: dass einer letzten Phase des Vergehens eine Ars senescendi, eine Kunst des Altwerdens und Abschiednehmens vorausgehen muss, wie sie etwa der Philosoph Wilhelm Schmid am Begriff der Gelassenheit in seinem gleichnamigen Vademecum entwickelt hat.[33]

Die sozialpolitischen Voraussetzungen für altersgerechte Milieus, in denen statt des sozialen Todes durch Marginalisierung, Nutzlosigkeit oder Depression zum Beispiel Gelassenheit (oder auch Neugier, Engagement) eingeübt werden könnte, kämen allerdings einer Revolution gleich: Umwandlung aller Altersheime in selbstverwaltete Wohn- oder Hausgemeinschaften, Auflösung aller Pflegeheime zugunsten einer flächendeckenden ambulanten Versorgung, großzügige finanzielle (und damit zeitliche) Ausstattung professioneller wie privater Zuwendung. Mit einem Bruchteil jener 2.500 Milliarden, die das skrupelloseste Prozent der Bevölkerung im vergangenen Jahrzehnt durch Spekulationen zu Lasten der Gemeinschaft an sich gerafft hat, wäre das zu bewerkstelligen.


Der Gedanke an den Suizid war ein Protest des Lebens. Welch ein Tod, nicht mehr sterben zu wollen.
Cesare Pavese[34]

Erich Loest, Mario Monicelli, Margot Werner, Gilles Deleuze - sie stehen für zahllose, weniger berühmte Namen von Hochbetagten oder Schwerstkranken, die ihrem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster ein Ende gesetzt haben. Bruno Bettelheim musste sich mit einer Plastiktüte ersticken, Wolfgang Herrndorf sich eine Kugel in den Kopf schießen; Claus Koch hörte auf zu essen und zu trinken, Ulrich Wildgruber ging angesichts drohender Demenz in die Nordsee, Gunter Sachs kam ihr mit der Pistole zuvor. Dass selbst Künstler und Intellektuelle denkbar unterschiedlichster Prägung sich gezwungen sehen, ihrem verlorenen Leben auf gewaltsame Art ein Ende zu bereiten, um einem würdelosen Siechtum zu entgehen, lässt tief blicken in die menschenverachtende Mentalität einer Politik, die sich weigert, "dem Willen zum eigenen Tod, zur Integration des eigenen Sterbens in die eigene subjektive Daseinsbestimmung und Daseinsgestaltung Respekt zu verschaffen."[35]

Eine solche Integration sieht Jean-Pierre Wils gelungen, wenn dem Menschen ein Sterben "im Einklang mit seinen eigenen Wertungen und Wünschen" ermöglicht wird im Sinne einer Würde und Souveränität, die sich beschreiben lässt als ein "Recht auf Kontinuität, auf einen Zusammenhang zwischen dem einstigen Leben und dessen letzter Phase, dem Sterben." (Ars moriendi, op.cit. S. 263f., Hervorhebungen von mir). Zu dieser Kontinuität gehöre die Möglichkeit, das vergangene Leben zu bilanzieren und in einer "ultimativen Verdichtung" zu vergegenwärtigen, wobei Wils außer Acht lässt, dass solche Bilanz die Konfrontation mit der peinlichsten aller Fragen, ob man aus diesem Leben, dieser einzigen Chance, die man hatte, etwas gemacht hat, beinhaltet und dass gerade solch eine Re-Vision in den meisten Fällen das Sterben nicht leichter macht.

Denn wer kann schon von sich sagen, er hätte nicht unter dem Niveau seiner Möglichkeiten gelebt (sofern man ehrlich genug ist, sich nicht mit Standardphrasen wie "Kinder in die Welt gesetzt, Haus gebaut, Pyramiden gesehen" zu begnügen). Und bei wem würde solche Einsicht nicht eher Verzweiflung als Gelassenheit auslösen? Gleichwohl ist sein Ansatz einer "Ethik der Angemessenheit" das vermutlich Beste, was derzeit Eingang finden könnte in die immer noch tabubeschwerten, interessenverzerrten und gesinnungsgeleiteten Debatten unserer Eliten. Dass die Würde von Sterbenden künftig daran erkennbar werden soll, "dass der Tod mit unserer Vorstellung davon übereinstimmt, wie wir gelebt haben möchten" (265): hinter diesem Stand sollte künftig kein Parlamentarier zurückfallen - oder sein Mandat zurückgeben.

Damit komme ich auf die Paradoxien der konkreten Ausgestaltung dieses ethischen Imperativs zurück. Auch Wils betont, "dass es Lebensbereiche gibt, in denen die Individualität des Handelnden wichtiger ist als seine Orientierung an allgemeine Handlungsnormen" (251) - etwa die Sexualität oder eben das Sterben. Die Kompatibilität individueller Ansprüche und allgemeingültiger Normen - das ethische und juristische Grundproblem von Sterbehilfe schlechthin, wie sich an den Leitlinien von Palliativ- und Hospizdiensten gezeigt hat - wird Wils zufolge dann möglich, wenn man den Selbstbestimmungsgedanken von überzogenen Erwartungen entlastet. Zwar habe die sinkende Akzeptanz für Kategorien wie "Schicksal", "Passivität" und "Unabänderlichkeit" bei gleichzeitiger moralischer Betonung von Autonomie die Sensibilität für Fragen der Sterbehilfe enorm geschärft (S. 39f.). Doch die Versehrtheit und Verletzlichkeit Sterbender und die daraus resultierenden Einschränkungen ihrer geistigen und physischen Bewegungsfreiheit sprechen dafür, "einen eher schwachen Begriff von Autonomie" zugrundezulegen. Das ist realistisch gedacht vom Standpunkt jener heute noch überwiegenden Mehrheit von Patienten, für die der Tod das Ende einer langen Leidensgeschichte bedeutet.

Doch schon heute ist die Unterstellung, Hochbetagte würden sich bis zuletzt am Leben klammern, nicht mehr durchgehend haltbar, mit der körperlichen Fitness lässt irgendwann auch der Lebenswille nach. Die fortwährende Optimierung medizinischer, diätetischer und kinesiologischer Mittel der Lebensverlängerung beginnt überdies die Vorstellungen eines natürlichen Todes zu verändern - "natürlich" im Sinne eines geduldig abzuwartenden Versagens aller Vitalfunktionen. Es ist abzusehen, dass künftige Sterbegenerationen jegliche Form heteronomen Sterbens ablehnen und eine selbstbestimmte Vorwegnahme der biologischen Deadline (gerade weil sie sich beliebig verschieben ließe) als den einzig menschenwürdigen Weg ansehen werden. Nicht unwahrscheinlich, dass in einer Gesellschaft von Hundertjährigen Kurse zur autohypnotischen Versenkung in eine Trance ohne Rückkehr sich größter Beliebtheit erfreuen werden.

Wenn Kindererziehung künftig nur noch ein Fünftel und Beruf nur ein Drittel der Lebenszeit beanspruchen, wird nicht nur der Familiensinn - entgegen der Fertilitätspropaganda öffentlich-rechtlicher TV-Serien - schwinden; es wird das Alter selbst zu einer ausgedehnten Phase neuer Anläufe, zuletzt der Rückschau, Konzentration aufs Wesentliche, Bilanzierung. Umso selbstverständlicher wird eines Tages, im Bewusstsein, wenigstens einen Teil der bemessenen Frist frei von Leistungszwang und Erfolgsdruck selbst gestaltet zu haben, der Plan reifen, aus freien Stücken, bevor es zu spät ist, ohne Reue oder Verzweiflung sich zu verabschieden. Andererseits werden sich mit zunehmendem Alter auch die Enttäuschungen, Verletzungen, Verluste häufen. Nicht jeder hat die Kraft, im letzten Lebensdrittel neu durchzustarten, jedenfalls nicht mit der Hypothek gescheiterter Anläufe, die alles, nur kein Gelingen beim nächsten Versuch verheißen. Wem das Schicksal übel mitgespielt, Pläne vereitelt, Teilhabe verweigert, Anerkennung oder Liebe verwehrt hat - und die Zahl derer, die erfahren müssen, in dieser Welt nicht willkommen zu sein, steigt proportional zum Selektionsdruck durch Verknappung beziehungsweise Ungleichverteilung von Chancen und Ressourcen -, dürfte im fortgeschrittenen Alter, wo an Rebellion schon energetisch nicht mehr zu denken ist, auch ohne onkologische Befunde dazu neigen, dem verdrießlichen Treiben vorzeitig ein Ende zu bereiten.

Doch selbst ein rückblickend erfülltes Leben mit erträglichen Altersgebrechen wird - einen gewissen Bildungsstand vorausgesetzt - nach drei Generationswechseln, einem Dutzend Sozialreformen und Finanzkrisen sowie ungezählten technologischen Innovationsschüben nicht davor gefeit sein, je länger desto häufiger Wiederholungen des Immergleichen zu gewärtigen und von den beharrenden Kräften des Weltgeschehens - von Gier, Eitelkeit und Neid, von Dummheit, Niedertracht und Ungerechtigkeit - irgendwann dermaßen angewidert sein, dass das vorzeitige Verlassen des Schmierentheaters zur unwiderstehlichen Versuchung wird.

Kurz, "eine Pflicht, sein Leben bis zum Ende auszuhalten kann individualethisch nicht begründet werden" (Kodalle) und angesichts eines pandemischen taedium vitae wird es Zeit, über den Suizid neu und anders nachzudenken - beziehungsweise wieder stoisch - und seine mal theologisch, mal psychiatrisch begründeten Diffamierungen in die Archive autoritärer Menschenverwaltung zu verbannen; denn es zeichnet sich ab, dass die Semantik von Kategorien wie "Würde" und "Selbstbestimmung" sich nicht länger in ethischen Konnotationen erschöpft.

Zur Ästhetik des Altwerdens und Sterbens gehört der zunehmende Widerstand gegen die Zumutung, sich an jedem Fünkchen Leben, ganz gleich in welchem erbärmlichen Zustand, zu klammern. Insofern sollte man in den offensiver artikulierten Selbstbestimmungsansprüchen für das Lebensende weniger die Auswüchse eines hypertrophen Individualismus als vielmehr die letzte Konsequenz der Abkehr von einer - mit Foucault zu sprechen - Ethik des Gehorsams gegenüber Regelsystemen hin zu einem Essayismus der Daseinsgestaltung im Sinne einer Ästhetik der Existenz erkennen.[36] Vorrang der Ästhetik vor der Ethik bedeutet: Vorrang des Individuellen vor dem Allgemeinen, Gestaltung des nicht verallgemeinerbaren und insofern nicht normierbaren Rests von Individualität. Gestaltung sollte dabei trotz des mitschwingenden operativen Tonus nicht mit Aktionismus verwechselt werden. Am ehesten wird Souveränität im letzten Wartestand durch die Geste Bartlebys charakterisiert: "I would prefer not to" - Ich verzichte (auf eure Fürsorge, auf weitere Behandlungen, auf diese Welt). Ich habe genug gesehen und gehört, geschmeckt und gefühlt, geliebt und gearbeitet - es reicht.

Die ästhetische Perspektivierung des Sterbens jenseits oder besser diesseits ethischer, juristischer und medizinischer Zurichtungen ergibt sich nicht nur aus der Individualisierung der Lebensführung, sondern ebenso aus der bereits geschilderten Unmöglichkeit seiner politischen Repräsentation. Der Umstand, dass der je eigene Tod das für andere schlechthin nicht Nachvollziehbare und auf andere nicht Übertragbare ist, bedeutet, dass das Recht, in einem gewünschten Augenblick Schluss zu machen und der Modus der Ausführung dieses Entschlusses nicht von anderen - Politikern, Juristen, Ärzten, Klerikern - vertreten und für die betroffenen Individuen normiert werden kann. Weder dürfen diese genötigt werden, ihre Entscheidung zu begründen - etwa durch unerträgliche Schmerzen, Handicaps oder bevorstehenden Kontrollverlust; noch können sie im Gegenzug Hilfe bei der Durchführung ihres Vorhabens einfordern, nicht von einem Arzt und auch nicht von Freunden oder Angehörigen. Wo immer sie dennoch gewährt wird, dann aus Freundschaft oder Liebe.

Das bedeutet, dass die erwünschte Verkürzung einer unerwünschten Fortdauer des Lebens - ganz gleich in welchem Stadium physiologischen Zerfalls oder psychischer Zerrüttung - prinzipiell von jeglicher Strafverfolgung auszunehmen ist. Ebenso die Verschreibung, der Verkauf und Erwerb eines entsprechenden Sterbemittels, das geeignet ist, ohne Krämpfe, Atemnot oder Übelkeit den Tod im Schlaf herbeizuführen. Denn der Staat hat kein Recht, mich zu zwingen, von einer Brücke zu springen, von einem Zug überrollt zu werden, an einer doppelschlaufigen Schlinge zu würgen oder vierzig Schlaftabletten zu schlucken - und meine letzten Stunden alleine mit dieser Quälerei zu verbringen.

Eine kontrollierte (meldepflichtige) Freigabe von letalen Substanzen an Leidens- oder Lebensmüde fortgeschrittenen Alters hätte für Ärzte den unbestreitbaren Vorzug, von Gewissenskonflikten und unangenehmen Entscheidungen, gerade bei engeren persönlichen Beziehungen zum Patienten, entlastet zu werden. Ihre Ausnahmekompetenz im Umgang mit lebensverbessernden wie -verkürzenden Techniken würde trotzdem noch oft genug gefragt sein, zum einen in Fällen, da die sterbewillige Person bei klarem Bewusstsein nicht mehr in der Lage ist, selbst "Hand an sich zu legen".

Für die juristische Absicherung der hier infrage kommenden aktiven Sterbehilfe hat Michael de Ridder die ebenso einfache wie überzeugende Lösung vorgeschlagen, zwischen mentaler und motorischer Tatherrschaft zu unterscheiden und im Fall versagender Motorik für den letzten Akt die "mentale Tatherrschaft" des Sterbewilligen als ausschlaggebend anzuerkennen, statt dessen Helfer, wie bislang, widersinnig wegen einer "Tatherrschaft" anzuklagen, die man nur "motorisch" und demnach subaltern (und also keine "Herrschaft") nennen kann. Zum anderen wird es auch künftig auf das ärztliche Urteil ankommen in all den Streitfällen, wo keine Patientenverfügung vorliegt, das soziale und psychische Leben der Patienten auch ohne infauste Prognose - etwa bei Wachkoma - irreversibel verloren ist und über einen Abbruch von Behandlungen oder funktionserhaltenden Maßnahmen entschieden werden muss.

Doch es gibt ein gewichtigeres Argument für die kontrollierte Freigabe von Sterbemitteln, eines, ohne dem jede Ästhetik einer Ars moriendi der Zukunft zum Scheitern verurteilt wäre. Am Ende seines großen Essays Du mußt dein Leben ändern skizziert Peter Sloterdijk fünf Übungen zur "asketischen Suspension der Entfremdung". In der letzten geht es darum, "den Tod... aus der Sphäre des abstrakten und fatalen Müssens in die des persönlichen Könnens (zu) übersetzen.... Die Umwandlung des Müssens ins Können setzt einen starken Kontinuumgedanken voraus, der die Leben-Tod-Grenze überspannt." (op.cit.) Es liegt auf der Hand, dass diese Umwandlung von Zerfall in Übergang eine Bejahung des Unabänderlichen voraussetzt, wie sie am ehesten der Freiheit entspringt, gegebenenfalls dem Müssen durch ein Können zuvorkommen zu können. Paradox ausgedrückt: wenn ich mich sterben lassen kann, dann kann ich auch tot sein. Vorausgesetzt, ich kann verhindern, dass die Prozesslogik der Selbstauflösung die luzide Wahrnehmung dessen, was mit mir passiert, überwältigt. Sich sterben lassen bedeutet thanatopraktisch: sich nicht gewaltsam, abrupt oder qualvoll zu töten, sondern hinweg- oder, je nach Erwartung, hinüberzugleiten.

Lebens(kunst)praktisch bedeutet das Wissen um diese Möglichkeit nichts anderes als die Integration des Sterbens in das letzte Kapitel, mag dieses ein paar Tage oder viele Jahre umfassen. Die Möglichkeit, sterben zu können, das Sterben im Potentialis vor sich zu haben, heißt dem Tod den Schrecken des factum brutum zu nehmen, das alle Realität zunichte macht, mit anderen Worten: doch noch Zukunft zu haben. Denn wenn ich mich - wenn es soweit ist, eines Tages - sterben lassen kann, dann kann ich auch weiterleben bis zu jenem Tag, dann kann ich dieses Weiterleben mit all meinen Vermögen und Begabungen - und muss nicht dem Ende depressiv entgegensiechen.

Die Sterbepille in Reichweite zu wissen für den Tag, von dem man nicht hofft, dass er kommt, entfaltet demnach schon viel früher ihre paradoxen Wirkungen. Als nachhaltiger und nebenwirkungsfreier Stimmungsaufheller vermag sie ungeahnte Initiativkräfte freizusetzen, aus einer abgeklärten Distanz gegenüber eventuellen Schrecknissen des Endes noch so manches Projekt zu wagen, am besten solche, die nach dem eigenen Ableben fortgeführt werden und so jenes "Kontinuum" antizipieren, welches die eigene Existenz in den großen - gesellschaftlichen, historischen, universellen - Zusammenhang integriert..

Wolfgang Herrndorf war sie nicht vergönnt, die friedlich-entspannte Lösung, gleichwohl gelang es ihm, nach seinem medizinischen Todesurteil (Glioblastom) noch zwei Romane und ein Journal zu schreiben, und zwar dank der "Beruhigung", eine 9mm-Magnum griffbereit zu wissen: "Die mittlerweile gelöste Frage der Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe!... Aber tagelang durch verrauchte Neuköllner Hinterhofwohnungen laufen zu müssen und mit Leuten zu sprechen, die nicht sagen wollen, wie sie heißen, nur um Gewissheit zu haben - das ist eines zivilisierten mitteleuropäischen Staates nicht würdig."[37]. Es geht eben nicht, wie immer unterstellt, ums Exekutieren eines Fatums, nie ums bloße Umsetzen eines verbrieften Rechts. Es geht, wie viele Autoren, zuletzt auch Silvia Bovenschen (in einem 3sat-Interview) geltend machen, um eine Option, gegebenenfalls Art und Zeitpunkt des Sterbens selbst bestimmen zu dürfen, mehr nicht.

Ob ich von dieser Lizenz Gebrauch machen werde, ist fraglich und hängt von vielen anderen Faktoren ab, wie die Erfahrungen aus Oregon zeigen, wo ein Drittel der tödlich Erkrankten, die ein Sterbemittel auf Rezept von der Apotheke bekommen haben, nicht von der Möglichkeit vorzeitiger Lebensbeendigung Gebrauch machen, ihre Intention nicht mehr unbeirrt verfolgen, sobald der Beschaffungsdruck und die mit ihm verbundene Ungewissheit über das finale Szenario weicht. Durch die Entkriminalisierung der Euthanasie-Optionen verzeichnete im übrigen auch in Oregon - wie zuvor in Belgien und den Niederlanden - der Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung einen deutlichen Aufschwung.

Als Nebeneffekt des legalen, unter bestimmten Auflagen beschränkten Zugangs zu Euthanasie-Mixturen würden schließlich auch ausländische Sterbehilfeorganisationen überflüssig werden, einheimische könnten sich auf Beratung und Beschaffung spezialisieren für den Fall, dass Ärzte oder Apotheker diese Aufgabe nicht übernehmen wollen. Der Zwang, ins Schweizer Exil zu gehen, um an einem anonymen, schmucklosen Ort in Begleitung fremder Menschen zu einem ungewollt frühen Zeitpunkt zu sterben, würde entfallen.

Ungewollt ist der selbstgewählte Zeitpunkt, weil die Sterbekandidaten nicht nur ihre schwindenden Energien für die Organisation des von Dignitas angebotenen Service aufwenden, sondern sich so frühzeitig auf die Reise machen müssen, dass sie am Ende noch den Giftbecher selber halten können. Und im Gegensatz zu Touristen reisen zumindest ehemalige Normalverdiener nicht auf den Klingenstock-Gipfel, um ihr Leben mit spektakulären Veduten der Schweizer Seenlandschaft auszuhauchen. Die staatlich sanktionierte Vertreibung, die den Tatbestand einer erzwungenen Lebensverkürzung um Wochen oder Monate erfüllt, "Sterbetourismus" zu taufen, konnte nur habituellen Zynikern der christlichen Fraktion einfallen. Notabene: Derselbe Staat, der gnadenlos jeden Krankenpfleger lebenslänglich wegen Mordes hinter Gittern bringt, der seinen moribunden Patienten auch nur ein paar Tage des sinnlosen Vegetierens erspart, verkürzt seinerseits das Leben von Sterbewilligen um Wochen oder Monate, indem er sie zwingt, noch bei kräftiger Konstitution eine Reise ins Ausland zu unternehmen. Wie soll man das nennen? Systematischer Missbrauch des Tötungsmonopols?


Exkurs: Sprachregelungen

Den Deutschen mag die notwendige Balance zwischen Empathie und Distanz in rebus mortis schwerer fallen als anderen Sprachgemeinschaften, da sie den Tod nur als Substantivierung von "töten" kennen und schon deshalb sich nicht vorstellen können, dass jemand, der sich mit der Hilfe anderer sterben lässt, keineswegs von diesen "getötet" wird in dem gewaltsamen und fremdbestimmten Sinn, der diesem Wort anhaftet. Im Englischen ist death so wie in den romanischen Sprachen mort, morte, muerte der Endzustand des Sterbens (to die, morire, mourir, morir) und nicht das Resultat einer Tötung.

Nur vor dem Hintergrund dieser sprachgeschichtlichen Tragik konnte ein Begriffsungetüm wie "Selbstmord" sich durchsetzen, ein Widerspruch in sich, das schleunigst aus dem deutschen Vokabular gestrichen und durch das international übliche Suizid ersetzt werden sollte, das dem Selbst je nach Kontext Mord, Totschlag oder schlicht Tötung assoziiert. Wobei dann immer noch das semantische Gefälle zwischen sui und selbst bleibt, also zwischen grammatischem und psychomentalem Reflexivum, das bekanntlich von der deutschen Bewusstseinsphilosophie zum geronnenen, beziehungsfähigen Doppelgänger des Ich potenziert wurde (man erahnt den Unterschied, wenn man Selbsttötung korrekt als Autozid zurückübersetzt). Diese Hypothek wirkt spätestens beim "Selbstmordattentäter" irreführend, ein Begriff, der ironischerweise unterstellt, es sei nach religiöser Gehirnwäsche ein noch irgend reflexionsfähiges Subjekt am Werk.

Suizid ist auch dem "Freitod" vorzuziehen, der eine Freiheit von Zwängen suggeriert, die kaum je gegeben ist und überdies die Realität seiner Ausführung beschönigt, solange Menschen vom sogenannten Rechtsstaat gezwungen werden, sich auf äußerst brutale Weise umzubringen. Und schließlich wird nur vor dem Hintergrund einer handlungslastigen Semantik der Todesinduktion verständlich, dass sich immer noch Stellungnahmen zum Thema finden, darunter gar philosophisch geschulte, in denen unterstellt wird, wer einem anderen Menschen auf dessen Wunsch das Sterben ermögliche, würde die Grenze zwischen Selbst- und Fremdtötung aufheben, insofern Schuld auf sich laden und müsse die strafrechtlichen Konsequenzen tragen.

"Schuld", ebenfalls ein deutscher Sonderweg, diesmal der begrifflichen Ämterhäufung und Verquickung ethischer, juridischer und finanzieller Aspekte: guilt, blame, fault, due, culpability und debt in einem Wort - eine Allzweckwaffe, die als Pathosvokabel in keinem deutschen Kulturkampf fehlen darf. Nichts eignet sich besser, die Kontingenz des Daseins zu leugnen, das Risiko, mit dem alles Lebendige behaftet ist zu verdrängen, als schuldhafte Verursacher zu suchen und anzuklagen - selbst dort, wo sich allenfalls eine unglückliche oder tragische Verkettung nicht vermeidbarer Umstände nachweisen lässt. Das Gegenteil ist hier der Fall: Ein größerer Liebesdienst ist nicht denkbar, als jemandem auf dessen Wunsch den Tod zu geben. Wer einen Menschen vor einem Ende in Schmerz und Würdelosigkeit oder auch in Verzweiflung und Sinnlosigkeit rettet, möchte man die berühmte Talmud-Sentenz variieren, der rettet stellvertretend die ganze Welt.

Fortsetzung folgt

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[29] Auf dem Sterbebett zu seinem Freund und Arzt Robert Klopstock.

[30] Zit. bei Klaus Feldmann, Sterben, Sterbehilfe, Töten, Suizid (online S. 137).

[31] Ein Tabu bröckelt, op.cit., S. 17.

[32] Klaus Feldmann, Kultivierung des Suizids im Zeitalter der Medikalisierung. In: Caroline von Robertson-Trotha (Hg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Baden-Baden 2008, S. 180.

[33] Wilhelm Schmid, Gelassenheit. Berlin 2014. dass Gelassenheit eine notwendige, aber nicht hinreichende Ressource im Umgang mit den Zumutungen des Alters ist, kann man von den impressionistischen Miniaturen lernen, mit denen Silvia Bovenschen das Beklemmende des Themas auflöst, ohne es zu verschweigen: Älter Werden. Frankfurt/M 2006. Ohne alteuropäische Abgründe plaudert sich Sherwin B. Nulans Muntermacher durchs Thema: Die Kunst zu altern. München 2009.

[34] Das Handwerk des Lebens, 1. Januar 1950. (verschd. Ausgaben, Übersetzung von mir korr.)

[35] Klaus-Michael Kodalle, op.cit., S. 20.

[36] Michel Foucault, Ästhetik der Existenz. Frankfurt/M 2007.

[37] Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur. Berlin 2013, S. 79, 75.