Essay

Aufruhr im Zwischenreich - Teil 2

Rezeptfreies für eine andere Ars moriendi Von Daniele Dell'Agli
01.10.2014. Die Frage, wie wir leben sollen, um sterben zu können, stellt sich neu mit der längeren Lebenserwartung. Für eine neue Ethik des Sterbens jenseits des Bündnisses zwischen einer reaktionären Religion, einer progressiven Apparatemedizin und einer untätigen Politik.
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III Szenenwechsel: Verzweiflung


Eine kleine Wohnung in Rom, Quartiere San Paolo. Eine alte Frau liegt im Bett, abgemagert bis aufs Skelett. Der Kopf gleicht mit eingefallenen Wangen, vorspringendem Gebiss und großen, aus tiefen Höhlen ins Leere starrenden Augen einem Totenschädel. Sie zuckt und krampft und röchelt, ruft mit einem kaum hörbaren Diskantstimmchen um Hilfe, schnappt dann wieder nach Luft, verzerrt das Gesicht. Seit Wochen verweigert sie jede Nahrung, Flüssigkeit wird ihr per Tropf zugeführt, gegen den sie sich ebenfalls, wenn auch vergeblich, zur Wehr gesetzt hat. Unmerkliches Kopfschütteln, kraftlose Versuche, den von Kanülenzugängen zerstochenen Unterarm wegzuziehen, hilflose Gesten des Widerstands. Sie ist nur noch augenblicksweise ansprechbar, meistens deliriert sie vor sich hin, kaum verständlich murmelt sie Namen längst Verstorbener. Mit Anfang sechzig verlor sie durch eine Retinitis Pigmentosa das Augenlicht, die letzten zwanzig Jahre wurde sie von einer Trigeminus-Neuralgie gemartert, die ihr das Hirn zerlöchert hat. Mit der Zeit ließ die Wirkung der starken Analgetika, selbst von Carbamazepin nach. Seit einem Jahr wird sie von ihrer Schwester versorgt, unterstützt von zwei Pflegerinnen, die sich morgens und abends abwechseln. Der Hausarzt kommt inzwischen täglich vorbei. Warum geben Sie ihr nicht endlich Morphin, Sie sehen doch, dass sie es nicht mehr aushält, sage ich zu ihm. Wenn ich das tue, antwortet er, dann ist sie bei ihrem prekären Gesamtzustand in wenigen Tagen tot. Na und, insistiere ich, sie hat durch die Nahrungsverweigerung schon lange signalisiert, dass man sie gehen lassen soll. - Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit, meint der Mediziner, da sie sich nicht klar äußern kann; und dass sie nichts mehr essen mag, kann auch den Ausstrahlungen des Trigeminus in den Kiefernbereich geschuldet sein. Ich kann es jedenfalls nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. - Stattdessen ordnet er 6x täglich 30 Minuten Sauerstoff an. Matt blinkt das Kreuzkettchen an seinem Hals. Natürlich hat meine Mutter als gläubige Katholikin keine Patientenverfügung aufgesetzt und nichts hätte ihr ferner gelegen, als jemanden um Sterbehilfe zu bitten. So quälte sie sich noch weitere zwei Wochen sinnlos, in ihrer Schmerzhölle eingeschlossen, ohne luziden Kontakt mit ihrer Umgebung, ehe sie im vergangenen Winter 88-jährig einsam (trotz regen Verwandtenbesuchs nicht erst am Ende) und verzweifelt (weil sie sich nicht gegen das wehren konnte, was mit ihr geschah) starb. In seiner vatikangenormten Trauerrede entblödete sich der Priester nicht, vom reinigenden Sinn des Martyriums am Lebensende zu salbadern.

Man wird einwenden, so etwas könne sich in Deutschland, zumal auf protestantischem Hoheitsgebiet nicht zutragen? Vorletztes Jahr starb ein Nachbar von mir am Stadtrand von Kassel 78-jährig an einem Kolon-Karzinom. In den letzten Wochen kam ein Palliativdienst der hiesigen Diakonie mehrmals täglich, um ihn mit alldem zu versorgen, was seine zwölf Jahre jüngere Frau nicht bewerkstelligen konnte. Ich habe noch seine geröchelten Schreie im Ohr, wann immer die Eingangstür geöffnet wurde. Er hat so darum gebettelt, Morphin zu kriegen, sagte mir seine Frau später, aber die meinten das würde ihn zu sehr schwächen. - Und wieder blinkten die Kettchen mit dem Foltersymbol an den Hälsen "professioneller" Helfer. Wie professionell solches Vorgehen wirklich ist, mag man daran ermessen, dass dem heutigen Stand medizinischen Wissens nach die Morphingabe keineswegs lebensverkürzend sein muss, wird sie nur richtig dosiert und nicht erst verabreicht, wenn die betreffende Person bereits in den letzten Zügen liegt. Dass Schmerzmedikamente das Bewusstsein des Patienten weitgehend ausschalten oder den Gesamtorganismus soweit schwächen, dass seine Lebensdauer verkürzt wird, stimmt nur für die terminale Palliativsedierung, die einem künstlichen Koma gleicht. Ansonsten gilt es als widerlegt, dass ihre Verabreichung einer indirekten Sterbehilfe gleichkommt. Hier fehle es immer noch an entsprechend ausgebildeten Schmerztherapeuten beziehungsweise an der Fortbildung der zuständigen Notfallmediziner, so die Einschätzung Michael de Ridders und Gian Domenico Borasios, Deutschlands profilierteste Streiter für einen Ausbau der Palliativmedizin.[16]

Mag sein. Aber wer garantiert, dass konfessionelle Überzeugungstäter je Gebrauch von einem Wissen machen werden, das ihrem mittelalterlichen Katechismus widerspricht? Noch immer klammern sich Ärzte an eine obsolete Standesethik, die Lebensverlängerung auf jeder organischen Schwundstufe mit Lebensrettung gleichsetzt; und noch immer geistert die Vorstellung vom Schmerz als Fegefeuer der sündigen Seele und angemessene Vorbereitung für ihren Auftritt vor dem Allmächtigen in den Köpfen gläubiger Christen herum. So wird in ganz Europa tagtäglich peinigende Sterbensverlängerung als Triumph wahlweise ärztlichen Könnens oder christlicher "Barmherzigkeit" gefeiert.

Indessen gibt es Anzeichen, dass "das Bündnis zwischen einer reaktionären Religion und einer progressiven Apparatemedizin..., die gemeinsam kaum mehr als ein höheres Krepieren zulassen"[17] den divergierenden Fliehkräften ihrer Entwicklung folgend, zu erodieren beginnt. Letztere führt schon aus der Logik wissenschaftlicher, zunehmend auch interdisziplinärer Diskurse heraus die ständische Verquickung von Berufsethos, Privatreligion und szientifisch basierter Arroganz ad absurdum. So darf als bemerkenswertester Fortschritt der Medizin unserer Zeit nicht ein diagnostisches oder therapeutisches, sondern ein pädagogisches Novum gefeiert werden: die Akkreditierung der Palliativmedizin als Pflichtfach im universitären Studium. Medizinische Sterbebegleitung - das hört sich marginal an, und die Gefahr ist keineswegs gebannt, dass der neue Studiengang auf Schmerzbehandlung reduziert und der Onkologie zugeschlagen wird, denn weder Ärzteschaft noch Politik scheinen für die Erkenntnis bereit (von den gebotenen Konsequenzen ganz zu schweigen), dass angesichts des zunehmenden Durchschnittsalters der Bevölkerung auch die altersbedingten Erkrankungen zunehmen, die Sterbephasen länger dauern und ihre humane Gestaltung die Möglichkeiten der herkömmlichen ärztlichen Versorgung bei weitem übersteigen. Palliative Care, der englische Terminus für die Aufgaben von Palliativmedizin und Hospizdiensten, umfasst denn auch weit mehr als die Linderung von Schmerzen, Atemnot oder Übelkeit terminal Erkrankter und vielleicht sind die zunftinternen Widerstände gegen eine zeitgemäße Ausweitung der Zuständigkeiten dieser neuen Disziplin auf gerade dieses "Mehr" zurückzuführen, das endlich auch die psychischen, sozialen und spirituellen Umstände des Sterbens anvisiert.

Eine Sterbepädagogik für Mediziner, das wäre, richtig verstanden, eine Revolution ärztlichen Bewusstseins, das wäre: Abschied vom "therapeutischen Aktionismus" (de Ridder) des nur irgend Machbaren, vom besinnungslosen Anschließen und Einschalten der Geräte, Ausdruck zumeist nur der eigenen Ohnmacht angesichts des unaufhaltsamen Organversagens am Lebensende. Lernen, den Tod eines Menschen, eines altersschwachen oder irreversibel verlöschenden, der Patient nur noch im etymologischen ("Erduldender, Erleidender"), nicht im diagnostischen Sinne ist, nicht als Niederlage einzustufen und alles zu unterlassen, was ein würdeloses Sterben unnötig verlängert. Behandlungen, die nicht dazu führen, dass der Patient das Krankenhaus verlassen kann, sollten abgebrochen werden, wird Michael de Ridder nicht müde, anzumahnen. dass nach wie vor fast jeder Zweite heute im Krankenhaus stirbt, an einem der ungeachtet vom Einsatz des Personals buchstäblich un-heimlichsten Orte auf diesem Planeten, ist ein Skandal. Kaum vorstellbar, was jene empfinden müssen, die - sofern überhaupt noch bei Bewusstsein - ihre letzten Tage im funktional-sterilen, unpersönlich abgezirkelten Ambiente eines Krankenzimmers verbringen müssen, von fremden Weißkitteln periodisch "eingestellt", vom Lärm maschineller Taktgeber ununterbrochen drangsaliert. Von Elisabeth Kübler-Ross" vielzitierten Sterbephasen dürfte unter solchen Umständen allenfalls schiere Verzweiflung übrig bleiben.

Verzweifeln könnte man auch an der Untätigkeit der Politik: selbst wenn es gelingt, das Studienfach Palliativmedizin autonom und flächendeckend zu etablieren, mangelt es an den nötigen Einrichtungen. Bislang werden aus Kostengründen nur Krebskranke im Endstadium von Palliativstationen und Hospizen aufgenommen - weil bei ihnen der Zeitraum bis zum Ableben (zwischen 3 Tagen und 3 Wochen) überschaubar und das heißt: bezahlbar bleibt. Patienten mit rheumatoider, neurodegenerativer oder kardiovaskulärer Symptomatik müssen jahrelang ambulant versorgt werden, womit nicht nur Angehörige chronisch überfordert sind; denn es fehlen in Deutschland an die 5.000 speziell ausgebildeten Schmerztherapeuten, die den hohen Analgetikabedarf kompetent und vor allem (strafrechtlich) unerschrocken zu handhaben wüssten. "Die Palliativmedizin und die Hospizarbeit auch auf diese Patientengruppen auszudehnen, ist die wichtigste Aufgabe der kommenden Jahre."(Borasio, op.cit. S. 183)

Palliativmedizin ist nichts für Feiglinge. Tagtäglich mit dem Ernstfall konfrontiert zu werden, erfordert Mut, eine belastbare Balance von Selbstbewusstsein und Demut und die Bereitschaft, sich im Grenzfall mit dem Patienten zu verbünden, sein Recht auf Selbstbestimmung mit oder ohne schriftliche Verfügung zu respektieren, statt den Losungen von Verbandsfunktionären die Nibelungentreue zu halten. "Von den Patienten lernen" (Borasio) heißt nicht zuletzt lernen, dass Sterbensverlängerung nichts mit Lebensrettung zu tun hat und der Arzt, nicht nur wenn es ans Sterben geht, es keineswegs immer besser weiß als der Patient. Ein philosophisches Parallelstudium könnte überdies helfen, Motivationsressourcen jenseits von Einkommen, Status oder wissenschaftlicher Reputation zu erschließen und Strategien zu entwickeln, sich die nötige Empathie nicht von der Eigendynamik der finalen Zerfallsprozesse verschleißen zu lassen. Dann hätte Borasios Vision eine Chance, dass "im Idealfall es der Palliativmedizin langfristig gelingen [könnte], sozusagen als ein gutartiges "trojanisches Pferd" die Ziele der Hospizbewegung in die gesamte Medizin einzubringen und damit die moderne Medizin patientennäher, multiprofessioneller, kommunikativer und reflektierter werden lassen." (S.182) Ob die mit einer solchen, zweifellos sympathischen Haltung einhergehende Kompetenzerweiterung der Medizin wirklich wünschenswert ist, werde ich in Kapitel IV diskutieren.

Nichts fürchtet das Interessenkartell aus Ärztekammer, Pharmalobby, Gesundheitsministerium und Kirchenverbänden mehr als eine derartige Humanisierung des medizinischen Sektors, die ihre Hinterbühnenabsprachen zur lukrativen Abschöpfung des wachsenden Patientenmarkts schleichend, aber nachhaltig aushöhlen könnte. Doch sie werden diese "trojanische" Subversion ebensowenig aufhalten können wie die andere, für Besitzstandswahrer ungleich bedrohlichere, die im harmlosen Gewand der Placebo-Forschung sich anschickt, neoschamanistische Praktiken _ auf szientifisch gesichertem Niveau als Modelle einer Proto- oder Metamedizin einzuführen. Der Anteil der - bislang meist unbeabsichtigten - Placebo-Effekte am therapeutischen Erfolg wird in einschlägigen Studien auf bis zu 50 Prozent geschätzt und dürfte die Grenzen zwischen akademischer und Alternativmedizin _endgültig in beiden Richtungen passierbar machen. Es versteht sich darüber hinaus von selbst, dass eine derartige Transformation des Gesundheitssystems den hippokratischen Eid, hinter dem sich Ärzte immer noch gegenwartsfremd und erfahrungsphobisch verschanzen wie Moslems hinter den Worten des Propheten, nicht unberührt lassen wird. Was vor 2500 Jahren seine Gültigkeit hatte, muss nicht nur nicht, es kann heute nicht mehr verbindlich sein, betrachtet man die Fortschritte der Medizin und die Popularisierung ihrer Erkenntnisse in weiten Teilen der Bevölkerung. Schon gar nicht kann nach heutigem Wissensstand das Heilen von Krankheiten als berufliches Selbstverständnis etwa gegen das verpönte Sterbenlassen ins Spiel gebracht werden, wo sich herumgesprochen hat, dass die allermeisten Krankheiten überhaupt nicht "geheilt", sondern mehr oder weniger symptomatisch entschärft werden können. Gefragt ist vielmehr ein ärztlicher Eid auf der Höhe des technologischen wie biopharmakologischen Interventionismus; ein neues medizinisches Ethos, das Sterbenshilfe als letzten Akt der Lebenshilfe im Sinne einer Maieutik des Dahinscheidens, einer umgekehrten Hebammenkunst des In-den-Tod-Geleitens begreift - und mithin komplementär zur Geburtshilfe am Anfang der Lebensspanne. Früher noch als die sokratische Gedankenmaieutik, früher als die hippokratische Ethik begegnen in der griechischen Mythologie Figuren des Übergangs ins Reich der Toten, von Asklepios über Hermes und Psychopompos bis Chairon, allesamt wiederum Nachkommen des vorhochkulturellen Schamanismus, dessen Kenntnis Ärzte besser auf die heikle Aufgabe der Sterbenserleichterung vorbereiten könnte als jene christliche Karitas, von der immer weniger Todeskandidaten instrumentalisiert werden möchten.

Denn auf der anderen Seite der skizzierten Entwicklung bewährt sich das Christentum ungeachtet aller Nekrologe auf seine sinnorientierende Symbolkraft lebens- und sterbepraktisch als Inbegriff sadistischer Nächstenliebe. Mit seinem als Mitleid getarnten Paternalismus, der stets zu wissen glaubt, wie zumutbar oder unzumutbar, wie sinnvoll oder sinnlos das Leid des anderen ist; mit seiner als Gewissen etikettierten Gesinnungspriorität vor jeder konkreten, individuellen, unübertragbaren Erfahrung, Situation oder Geschichte. Dieselbe Religion, die seit zwei Jahrtausenden predigt, wie sündig, banal und letztlich verachtenswert die physische Existenz im Vergleich zur seelischen ist, besteht am Lebensende dogmatisch darauf, jede noch so jämmerliche Vitalfunktion mit Hilfe einer ebenso geist- wie seelenfernen Technologie aufrechtzuerhalten. Doch wen wundert das? Warum sollte eine Ideologie, die zig Generationen diktiert hat, wie man richtig zu leben hat, nicht auch anordnen, wie man verrecken soll? Und wen wundert es, dass zu einem Zeitpunkt, da reaktionäre Frömmigkeitsdirektiven kaum noch junge, gesunde, weltoffene Erdenbürger aufhorchen lassen, sich die Vertreter des moralisch korrekten Lebensschutzes skrupellos an die Schwächsten, Schwerstkranken und Sterbenden halten, um überhaupt noch einen Erfolgsnachweis ihrer Existenzberechtigung zu erbringen. Nirgends wird der selbstreferenzielle Charakter des psychischen Immunsystems "Religion" deutlicher: es schützt vor den Ängsten, die es selbst geschürt hat; es füllt jene Sinngräben auf, die es selbst geschaufelt hat. "Spirituelle Lebenssättigung" nennt man diese Kompensation für vermeidbare Pein im Fachjargon. Ein Mentalitätswandel hin zu einer humanen Sterbekultur müsste damit beginnen, dass man die - ohnehin vom Steuerzahler finanzierten - christlichen Hospize und Palliativstationen sowie die Intensivabteilungen in den entsprechenden Kliniken "religiösen Atheisten" (Ronald Dworkin) oder agnostischen Humanisten mit Grundkenntnissen in philosophischer Lebenskunst übergibt.[18] Für eine gewisse Übergangszeit müssten konfessionelle Betreiber verpflichtet werden, am Eingang ihrer Häuser Schilder anzubringen mit der Aufschrift: "Cavete Moribundi! Hier wird bis zum letzten Atemzug gelitten!"


IV Restleben - Im Sog der totalen Medizin

Aber du stirbst nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst
Montaigne

Wer einen kürzlich erschienen Sammelband mit Aufsätzen zu einer "neuen Kunst des Sterbens"[19] aufschlägt, wird gleich im Vorwort auf den herrschenden Minimalkonsens eingestimmt: es geht um die "Kultur der Medizin am Lebensende". Aha. Nicht dass dieses Thema nicht zentral wäre in der Diskussion. Aber von Überlegungen "auf der Suche nach neuen Sterbekulturen... jenseits der Grabenkämpfe zwischen Sterbehilfe-Befürwortern und -Gegnern" würden wir doch zumindest Zweifel erwarten, ob sie sich angemessen im Doppelkorsett von Medizinethik und Strafrecht darstellen lassen, in dem selbst Politiker und erst recht Philosophen seit Jahrzehnten nur den immergleichen Halbkreis von Argumenten und Gegenargumenten vollführen. Dass der Band gar von drei Medizinprofessoren herausgegeben wird, unterstreicht - ungeachtet der interdisziplinär gelehrten Exkurse zu ästhetischen, historischen oder soziologischen Aspekten - den Anspruch, das Neue an der Sterbekunst heute sei die unangefochten prioritäre Zuständigkeit der Medizin. Legitimieren muss sich dieser längst realitätsmächtige, und daher erst secunda facie denkwürdige Anspruch nicht, denn er beruht auf einer uneingestandenen Prämisse, die uns derart in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass sie - außerhalb von neoepikuräischen Konventikeln und buddhistischen Klöstern - nirgendwo mehr in Frage gestellt wird.

Gemeint ist die mentalitätsgeschichtlich folgenreiche Definition von Gesundheit, die in der Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO)1946 festgeschrieben wurde: "Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens [well-being] und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen." Von dieser Zustimmung heischenden Formulierung geht, ungeachtet massiver und bis heute nicht nachlassender Kritik eine doppelte Gefahr aus: Zum einen das Risiko, der Gesundheit gerade das Charakteristische, ihre Unauffälligkeit oder, wie Gadamer sagt,[20] ihre Verborgenheit zu nehmen, indem sie als etwas positiv Gesetztes objektiviert, zum Projekt erklärt und buchstäblich verfolgt wird. Da dieses Projekt sich andererseits an einem unerreichbaren Ideal orientiert, hat es darüber hinaus eine Kaskade einander überbietender Revisionen unserer Vorstellungen von Lebensqualität entfesselt, die als paradoxe Reaktion die Totalisierung medizinischer Zuständigkeiten und die Entwertung jedweden Qualitätsgedankens zur Folge hatte.

Wie konnte das passieren? Es liegt auf der Hand, dass wenn man den Gesundheitsbegriff derart maximalistisch überspannt, allenfalls noch Zwanzig- bis Vierzigjährige hin und wieder in den Genuss jenes Ausnahmezustands kommen, der als "vollständiges, geistiges und soziales Wohlbefinden" beworben wird. Jede Dysfunktion oder Beeinträchtigung dieser intrauterinen Utopie erscheint sogleich als Abwesenheit von Gesundheit - und somit als Krankheit. Da insbesondere die körperlichen Defizite mit den Jahren unaufhaltsam zunehmen, werden Alter und Sterben ganz im Sinne der WHO-Definition zu Synonymen für Krankheit. Verschärft wird diese semantische Engführung zusätzlich durch die in der letzten Jahrhunderthälfte enorm gestiegene Lebenserwartung.

Prinzipiell wird nun niemand etwas gegen eine Ausdehnung seiner Lebensspanne einwenden, wobei der Anteil der Medizin im Vergleich zu den nachhaltigeren Verbesserungen in Bildung, Ernährung, kommunaler Infrastruktur, Sicherheit an Arbeitsplatz und im Autoverkehr et cetera weit überschätzt wird; akademisch Gebildete zum Beispiel leben länger nicht primär, weil sie besser medizinisch versorgt werden, sondern dank eines höher entwickelten diätetischen und hygienischen Bewusstseins sowie einer generell geschärften autoökologischen Sensibilität. Andererseits nehmen mit dem Alter die Replikationsfehler bei der Zellerneuerung unabwendbar zu, degenerative Prozesse können verlangsamt aber nicht aufgehalten werden.

Zum Zweck ihrer über kurz oder lang vergeblichen Prävention setzt oft schon mit der Pränataldiagnostik, spätestens mit Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen, mit Gesundheitschecks, Belastungstests, Fitnessplänen und Screenings eine medizinische Langzeitkontrolle des Körpers ein, die mit den Jahren immer engmaschiger in die Lebensführung des zum Patienten umdefinierten Homo sapiens eingreift. "Präventive Gesundheitssicherung" sorgt fortan dafür, dass der virtuelle Hypochonder Gesundheit als potenzielles Kranksein schätzen lernt und sich so schon früh daran gewöhnt, Altern und Sterben irgendwann nur noch sub specie Krankheit zu betrachten. Die Salutogenese, die Gesundheit ohnehin nur als asymptotischen Wert kennt, wetteifert mit der Pathogenese um Anzahl und Aussagekraft von Indikatoren.

Dass Arztpraxen, ratternde Aufzeichnungsröhren und Laborbefunde zu den wichtigsten Schauplätzen und begleitenden Eckdaten seiner sich beschleunigenden Zerfallsstadien werden, nimmt er nach dieser Vorschule genauso schicksalsergeben hin, wie dass die gestiegene Lebenserwartung sich auf eine gesteigerte Alarmbereitschaft in Erwartung der jeweils nächsten morbiditätsverheißenden Symptome reduziert. In dem Maße wie altersbedingt das Ziel des "vollständigen Wohlbefindens" in unerreichbare Ferne rückt, schrumpft das verlängerte Leben auf Maßnahmen zur Lebensverlängerung, bleibt das schiere Quantum auf Erden noch verbrachter Zeit als einzige "Qualität" übrig, die, mit höchster Priorität versehen, medizinisch um jeden Preis zu realisieren ist. So wird die "Leitwissenschaft zur Lebenssicherung" zum zentralen Bezugspunkt aller Aktivitäten in der letzten Lebensphase - mag diese drei Wochen oder dreißig Jahre währen.

Das Statistische Bundesamt führt die 852.000 Todesfälle im Jahr 2013 ursächlich auf "Krankheiten" der Kreislaufsysteme, der Atmungsorgane, des Verdauungsapparats, des Nervensystems sowie der "bösartigen Neubildungen" (Krebs) zurück. Das liest sich so, als ob menschliches Dahinscheiden begründungsbedürftig wäre und die Verstorbenen ohne diese lästigen und zufällig tödlichen Begleiterscheinungen ihres Lebenswandels gar nicht hätten sterben müssen. "Aber du stirbst nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst": Wer diesem Satz Montaignes zustimmt, kann nicht umhin, die nächste Systemfrage zu stellen: Wollen wir uns wirklich damit abfinden, dass Altwerden und Sterben zusehends zur Domäne von Disease-Managern und Versicherungsjuristen, von Fürsorgeethikern und Angstmoralisten, von Präventologen und High-Tech-Performern (die Statistiker nicht zu vergessen) werden? Sind die jetzt schon schier grenzenlosen Machtbefugnisse und Zuständigkeiten des medizinisch-industriellen Betreuungskomplexes nicht Ausdruck einer schleichenden, aber politisch gewollten Entmündigung von Senioren (und tendenziell schon von Middle-Agern) zu Objekten "lebenssichernder" Verwaltung?

Wodurch wird eine Gesellschaft derart sediert, dass sie sich diesen Irrsinn gefallen lässt? Die pragmatische Auskunft: "Weil wir länger leben, sind wir länger krank und siechend", täuscht mit ihrem fatalistischen Grundton darüber hinweg, dass sie selbst Produkt einer Langzeitkonditionierung durch die biomedizinisch dominierte Sprachregelung ist. Klaus Feldmann bringt es in aller gebotenen Schärfe auf den Punkt:

"Ferner wird durch den beschleunigten medizinisch-technischen Wandel permanent die Hoffnung auf potenzielle Unsterblichkeit genährt, das heißt es wird immer schwieriger, eine endgültig optionslose physische Sterbesituation zu definieren. Durch die medizinisch und juristisch gestützte Todesideologie (Postulat: Es gibt nur den medizinisch definierten physischen Tod.) werden die kulturell und sozialstrukturell entstehenden Formen des sozialen und psychischen Sterbens in kritischen von Experten kontrollierten Situationen in die Peripherie abgedrängt."[21]

Darum noch einmal: Wer will das? Und was kann unter Bedingungen zunehmenden Angewiesenseins auf fremde Hilfe überhaupt "Wille" heißen? Rollen wir den Faden vom Ende her auf. Ein engagiertes und dank abschreckender Fallbeispiele aus der Praxis des Notfallmediziners beklemmendes Plädoyer für die Humanisierung des Sterbevollzugs trägt den Titel Wie wollen wir sterben? Michael de Ridder spielt damit auf den berüchtigten Klassiker der Perimortalliteratur der neunziger Jahre Wie wir sterben von Sherwin B. Nuland an, der als erster das ganze Ausmaß des trostlosen Krepierens in Krankenhäusern öffentlich machte.[22] De Ridder wendet das Konstativum des Amerikaners in eine Frage, deren Appellcharakter dank des suggestiven Personalpronomens keinen Zweifel daran lässt, dass künftig jeder aufgefordert ist, sich ihr zu stellen. Denn der auf dreihundert Seiten in immer neuen Varianten vorgeführte makabre Reigen heteronomer Eingriffe, die das unaufhebbar individuelle und einsame Abschiednehmen von der Welt normativ, administrativ und autoritär regulieren, legt nur einen Schluss nahe: die Menschen lassen sich diese Behandlung gefallen, weil sie, trivial daran zu erinnern, nicht sterben wollen. Also tun sie nichts dafür, dieses Ungewollte in eigene Regie zu nehmen, und wenn das Unvermeidliche sich nicht mehr verleugnen oder verdrängen lässt, ist es zu spät, sind sie den wohlmeinenden oder karitativen, profitsüchtigen oder systemischen Übergriffen ihrer neuen ungewollten Umgebung hilflos ausgeliefert.

Mutatis mutandis gilt dieses Verhalten nicht erst im Angesicht der letzten Deadline, sondern bereits für das ungewollte Älterwerden und allgemein für die ungeliebte Beschäftigung mit der Endlichkeit. Die immanente Paradoxie der Frage, wie wir sterben wollen, wo wir es doch müssen und von wollen demnach keine Rede sein kann, löst sich auf, wenn man sie als Negativfolie jener anderen Grundfrage liest, deren Antwort erst Rückschlüsse auf den modus moriendi erlauben würde: Wie wollen wir denn eigentlich leben? Diffus ahnt jeder, dass die Art wie wir leben eines Tages bestimmen wird, wie wir sterben und ob wir das, was wir nicht wollen - und von dem zu behaupten, dass wir es müssen, immer noch ein Tun, eine Tatherrschaft, unterstellt, wozu die meisten nach wie vor nicht fähig sind -, ob wir also dieses Aufhören zu können vermögen. Von allen Umwegen, auf denen man sich der Beantwortung der Frage nach Art und Weise unserer Lebensführung nähern kann, ist dies sicher der zielstrebigste. Denn er führt zu der unausgetragenen und alle Altersstufen betreffenden zentralen Ambivalenzerfahrung unserer Gegenwart: dem Schwanken zwischen der Gier nach Lebensquantität und der Sehnsucht nach Lebensqualität.

Die nächste Systemfrage lautet also: Warum wird, wenn es ums Altwerden und Sterben geht, nur noch über Lebensquantität geredet - statt über selbstbestimmte Lebensgestaltung - und über Lebensqualität nur im Zusammenhang mit der richtigen medikamentösen Einstellung? Um nicht öffentlich darüber nachzudenken, was ein gutes Leben wäre, ohne das es doch kein annehmbares Sterben gäbe? Diese Diskussion - sie müsste in der Öffentlichkeit, den Universitäten und den Parlamenten gleichermaßen geführt werden - würde thematisch viel weiter ausgreifen als das kleinkarierte Paragraphengeklöppel der Bedenkenträger in Kommissionen, Ausschüssen, Ethikräten. Sie würde der Medizin die usurpierte Deutungshoheit in materiam entreißen, die gerade noch ein Schachern um Pflegestufen und Betreuungsvollmacht, Komastadien und Bauchsonde, Hirntoddiagnostik und Patientenverfügungen konzediert.

Sie würde die halbjährlich nach oben korrigierten Zahlen der Lebenserwartungsstatistiken als das entlarven, was sie sind: Rekorde, mithin Fetische der Leistungsgesellschaft; und die alles entscheidende, mittlerweile unter Psychiatrieverdacht gestellte Frage ins Zentrum stellen: Warum und wozu man denn überhaupt immer länger leben soll. Auf der Suche nach Antworten scheinen zunächst folgende Feststellungen konsensfähig: 1. Das Alter kann ein Leben nach dem Leben oder ein Leben vor dem Tod sein - in jedem Fall ist es eine Lebensform und keine Krankenakte. 2. Die Persönlichkeitsrechte von Individuen stehen nicht zur Disposition, wenn ihre Angewiesenheit auf fremde Hilfe im Alter zunimmt. 3. Menschen mit einer Lebenserwartung von künftig neunzig oder hundert Jahren werden mehr und anderes brauchen als clevere Finanzierungspläne und effizientes Versorgungsmanagement.

Die Frage, wie wir leben sollen, um sterben zu können, stellt sich neu, seitdem der Tod einerseits hinausgezögert wird durch die steigende Lebenserwartung, andererseits jedoch für immer mehr Menschen einen absoluten Endpunkt markiert, hinter dem keine wie immer geartete Fortsetzung, und sei es als Hoffnung auf ein Weiterleben im Jenseits aufscheint. Und diese Frage wird solange keine befriedigende Antwort erfahren, wie wir uns um eine qualitative Bestimmung des Wertes eines Lebens - und damit seiner Würde und seiner "Menschenrechte" drücken. Solange wir unterm Diktat moralischer Korrektheit dabei bleiben zu propagieren, dass jeder ungefiederte Zweibeiner ein lebenswertes und menschenwürdiges Dasein fristet, bis sein Hirntod festgestellt wird - solange wird ein großer und stetig wachsender Prozentsatz der Bevölkerung seine letzten Wochen, Monate und Jahre unter Bedingungen verbringen, die jeder Selbstbestimmung und jeder Würde Hohn sprechen. Das soll kein Plädoyer fürs Abschalten hunderttausender Geräte sein, ohne die ebenso viele Menschen längst eines friedlichen und schnellen Todes gestorben wären. Dafür ist es juristisch und moralisch zu spät, auch wenn es keiner Ethik gelingen wird, lebensverlängernde Maßnahmen um ihrer selbst willen zu rechtfertigen.

Aber eine künftige Sterbekultur wird sich nicht um die Diskussion drücken können, warum Menschen solange leben müssen, bis sie nicht einmal mehr von selbst sterben können? Wer sich je ernsthaft Gedanken um Sinn und Wert menschlichen Lebens macht, sollte nicht länger durch implizite Diskurstabus, verbandsinterne Maulkörbe oder vorauseilende Selbstzensur davon abgehalten werden, den einzig möglichen Schluss zu ziehen, dass es schändlich und würdelos ist, wochen-, monate- oder jahrelang kraftlos, freudlos, lustlos, hilflos, verwirrt und sediert oder festgeschnallt, zwangsernährt, zwangsbeatmet, von Druckgeschwüren geplagt beziehungsweise gelähmt und in jedem Fall immer sabbernd vor sich hin zu vegetieren. Erst recht, wenn man auf sieben, acht oder neun Jahrzehnte wenn nicht durchgängig erfüllten, so doch bewegten Lebens zurückblicken kann.

Umgekehrt heißt dies: je länger Menschen künftig leben, desto höher werden sie die Vorzüge physischer und geistiger Aktivität schätzen und desto geringer wird ihre Bereitschaft sein, aussichtslose, fremdbestimmte Notlagen um ihrer selbst oder sozialkonformer Durchhaltedirektiven willen zu verlängern. Im wachsenden Interesse an Patientenverfügungen (jeder Dritte über sechzig hat mittlerweile eine verfasst, jeder Zweite über fünfzig plant eine) nimmt die Ahnung wehrhafte Gestalt an, dass die existenziell relevante Qualität der letzten Lebensphase gerade darin bestehen könnte, nicht zum Objekt von Dienstleistungen zur Linderung oder Kompensation physischer, sozialer oder psychischer Defizite zu verkümmern. Die nicht unbegründete Angst vor Abhängigkeit - von Angehörigen, Betreuern, Pflegern, Ärzten, Anwälten, Richtern - findet sich durch die mittlerweile wöchentlich einander überbietenden Skandale über die Zustände in Altenheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern sowie über den Missbrauch von Betreuungsvollmachten vollauf bestätigt. Dabei birgt die in Vorausverfügungen zum Ausdruck kommende Wertschätzung selbstbestimmten Lebens noch über die Grenzen bewusster eigener Einflussnahme hinaus zumindest in Deutschland eine psychohistorische Pointe, die "klerikalen Paternalismus"[23] ebenso wie medizinischen, juristischen und politischen in den Schatten just jener verbrecherischen Vergangenheit rückt, mit der konservative "Lebensschützer" gerne Sterbehilfeorganisationen assoziiert wissen möchten.

Allen Apologeten des Betreuungswesens und generell heteronomer Verwaltung von Kranken und Alten sei hierzu die Lektüre des entsprechenden Lemma in Dolf Sternbergers "Wörterbuch des Unmenschen" von 1957 empfohlen, das unverjährt einen Höhepunkt mentalitätsgeschichtlicher Sprachkritik markiert. Sternberger untersucht darin den tendenziösen Bedeutungswandel vertrauter, traditionell positiv besetzter Begriffe unter nationalsozialistischer Redaktion. So wurde auf der Suche nach einem transitivisch agierenden Zeitwort zur gewöhnlich mit dem Dativ assoziierten Treue das Betreuen kreiert, das die auf Beherrschung seines Gegenstands ausgerichtete Aktivität sowohl betont als auch kaschiert, um einer Reihe von Verfügungspraktiken im Dritten Reich die nötige Akzeptanz zu sichern. Das reichte von der "NSV, die Mutter und Kind betreute" bis hin zur Gestapo, die bekanntlich Juden "betreute". Sternberger resümiert: "Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand - der Betreute - Dank schuldet."[24]

Den Beigeschmack der Entrechtung ist der Begriff bis heute nicht losgeworden, zumal es im Betreuungsrecht zu viele Spielräume für eine faktische Entmündigung des Objekts solcher "Maßnahmen" gibt. Das Misstrauen potenziell oder real davon Betroffener steht dabei im krassen Gegensatz zu den massenmedial wirksamen Kampagnen zur Seligpreisung der Betreuungskultur bei gleichzeitiger Diffamierung nach Hilfe suchender Sterbewilliger. Da klingt es wie Hohn in den Ohren der "Bedürftigen", wenn die AlfA (Aktion Lebensrecht für Alle) "Mehr menschliche Zuwendung statt Sterbemittel" skandiert oder gar "Solidarität statt Selbsttötung". Oder wenn ein Ex-Minister in vollendeter Selbstgerechtigkeit die Meinung verbreitet, wer sich fürsorglich begleitet fühlt, kommt gar nicht erst auf den Gedanken, Hand an sich zu legen.[25] Klar: wenn jeder sich aussuchen könnte, wer einen begleitet, an welchem Ort, unter welchen Bedingungen und mit welcher Schmerztherapie, dann - gäbe es sicher weniger Suizide aus Altersarmut.

Blieben noch jene Beratungsresistenten, die sich partout nicht infantilisieren lassen wollen. Mit ihnen tun sich auch Hospizdienste und Palliativstationen schwer, wenn sie ihre Arbeit, wie Matthias Kamann eindringlich analysiert, "als eine Art Abwehrzauber gegen die Sünde der Sterbehilfe" missverstehen: "Palliativmedizin und Hospize müssen gut sein, weil jene Suizid-Assistenz böse ist, gegen die sie sich angeblich richten. Dass diese Logik verquer ist, bemerkt man spätestens dann, wenn man wenn bedenkt, dass zumindest Alterssuizide weniger aus Angst vor dem reinen Sterbeprozess als vielmehr aus Furcht vor der Heimphase verübt werden. Wer im Kampf gegen Alterssuizide die Palliativmedizin ausbauen will, verhält sich wie jemand, der Grundschülern die Angst vor der Schule nehmen will, indem er sich vornimmt, die Abiturfeier möglichst festlich zu gestalten."[26]

Inwieweit der Übergang vom offen autoritären Paternalismus der Bevormundung zum flexibler würgenden Maternalismus der Betreuung heute als Teil der schleichenden Feminisierung der Gesellschaft betrachtet werden muss, kann in diesem Kontext nicht näher untersucht werden. Es muss sich noch herumsprechen, dass gesteigerter Harmoniebedarf und Konsensdruck im Konfliktfall oft kontraproduktiv und auf künstlerische und wissenschaftliche Produktivität (Neugier, Innovation, Experimentierlust) in jedem Fall entropisch wirkt. Entscheidend ist, dass allein schon die intensive Beschäftigung mit dem Thema Patientenverfügung eine neue Generation von Sterbekandidaten hervorzubringen beginnt, denen keine noch so spitzfindige Fürsorgeethik wird einreden können, sie seien verwirrt, depressiv oder einfach nur falsch informiert, wenn sie es ablehnen, im Alter Menschen ausgeliefert zu sein (Krankenpflegern, Ärzten, Betreuern, nicht zuletzt Verwandten), deren Nähe sie freiwillig nie gesucht hätten; oder denen es davor graust, nach Unterstellung eines angeblich unbedingten Lebenswillens als Dreivierteltote technopharmakologisch am Sterben gehalten zu werden wie Versuchskaninchen, die ihr Datensoll noch nicht erfüllt haben.

Zur verfassungsrechtlichen Seite dieses auch institutionell folgenreich erstarkenden Selbstbewusstseins hat der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Klaus Kutzer klargestellt: "Es entspricht der auf die Garantie von Freiheitsrechten des Bürgers hin ausgerichteten Konzeption unserer Verfassung, den grundrechtlichen Anspruch des Kranken auf Selbstbestimmung höher zu bewerten, als eine Befugnis des Staates, ihn zu seinem angeblich eigenen Schutz einer Fremdbestimmung durch den Arzt, ein Gericht oder einen amtlich bestellten Betreuer zu unterwerfen."[27] Die Frage ist nur, wie lange noch die Politik und sich sonst für zuständig haltende Interessengruppen eine Entwicklung zu sabotieren gedenken, die mit der gestiegenen Lebenserwartung insbesondere gut Ausgebildeter zwangsläufig die Gestaltung des Rechts auf Selbstbestimmung immer weiter von obrigkeitskonformen Vorgaben entfernen wird.

Es mutet paradox an, aber wenn es ums Sterben geht, also um etwas, das für gewöhnlich niemand will, jeder muss und die wenigsten können, ist von Willensfreiheit so oft die Rede wie sonst nie. Die Paradoxie lässt sich auflösen: wenn ich schon zu etwas gezwungen werde, was ich auf keinen Fall will, dann möchte ich wenigstens die Umstände bestimmen, unter denen dies geschieht. Dass dieses Bestimmen nur begrenzt möglich ist, weiß jeder, der den Alltag mit krankheitsbedingten Behinderungen bewältigen musste, also ab einem gewissen Alter faktisch jeder. Insofern zielt die Kritik des konservativen Ressentiments gegen postmodern abgeklärte Lebensentwürfe, sie würden Autonomie und Selbstbestimmung überschätzen, ins Leere. Einen bigotten Zungenschlag bekommt der Vorwurf gar in einer neuen Version des ansonsten für Ärzte reservierten Topos "sich als Herr über Leben und Tod aufspielen", wenn er an Sterbehelfer und Verfasser von Patientenverfügungen weitergereicht wird: das Pochen auf Autonomie stünde für einen Willen, über Unverfügbares zu verfügen. Aus der Machtposition jener, die faktisch - nämlich juristisch und medizinisch - über das Leben und Sterben anderer verfügen, und das nicht nur gelegentlich auf der Intensivstation, sondern tagtäglich am Operationstisch, bei der Medikamentenverschreibung und nicht selten schon bei der Diagnose nimmt sich das wieder wie eine klassische Projektion aus, genauer: eine Top-down-Projektion!

Grundsätzlich ist mit Klaus-Michael Kodalle außerdem festzuhalten, dass jeder Mensch in einem sozialen Netz mit wechselseitigen Abhängigkeiten agiert; dass aber "zur Autonomie gehört, dass man für sich selber die Frage klärt, inwieweit man sich eigentlich in eine dauerhafte Abhängigkeit Dritter als Pflegebedürftiger begeben will." Ich füge hinzu: einseitige Abhängigkeit von Menschen, die man sich je nach sozialen Status gar nicht aussuchen kann und ab einem bestimmten Stadium der Krankheit oder Bedürftigkeit ohnehin nicht. Kodalle bezeichnet die kursierende Definition von Selbstbestimmung höflich als "trickreich", man könnte sie auch taktisch-verlogen nennen: "Beschworen wird die schlechthin angstfreie selbstbestimmte Entscheidung - und dann wird paternalistisch dekretiert, dass der Mensch in Todesangst doch gar nicht zur Selbstbestimmung fähig sei!... Ich behaupte: in allen wichtigen Entscheidungen des Lebens haben starke Gefühle die Reinheit der "Selbstbestimmung" eingefärbt, ja eingeschränkt!... Selbstbestimmung ist das Ideal, das um der Würde des Menschen willen immer zu unterstellen ist, aber im realen Leben kommt es natürlich stets nur in eingeschränkter Gestalt vor - geprägt von Vorurteilen, Affekten, ideologischen Vormeinungen, den Ansichten der anderen."[28]

Daniele Dell"Agli

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Fortsetzung folgt

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[16] Michael de Ridder, op.cit.; Gian Domenico Borasio: Über das Sterben, München 2013. Zu einem neuen Medizinverständnis allgemein: Klaus Michael Meyer-Abich, Was es bedeutet, gesund zu sein. München 2010. David B. Morris, Krankheit und Kultur. München 2000.

[17] Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt/M 2009, S. 665ff.

[18] Eine Studie der University of Berkeley (California) hat 2011 ergeben, dass Atheisten generell spontaner und unvoreingenommener helfen als Konfessionelle, die den Grad ihrer Zuwendung offenbar von der Botmäßigkeit der Betroffenen abhängig machen.

[19] Daniel Schäfer, Christof Müller-Busch, Andreas Frewer (Hg.): Perspektiven zum Sterben. Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova? Stuttgart 2012.

[20] Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt/M 1993.

[21] Klaus Feldmann, Aktive Sterbehilfe - Soziologische Analysen, op.cit. (online), S. 6.

[22] Die von Nulans Buch seinerzeit in den USA ausgelösten Debatten haben unübersehbar die narrativen und dramaturgischen Zumutungen der 1994 gestarteten Serie Emergency Room (die von Michael Crichton schon in den 70er Jahren konzipiert worden war) beflügelt..

[23] Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. München 2011.

[24] Sternberger, Storz, Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg 1957. NSV steht für "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt".

[25] Die Debatte zwischen Franz Müntefering und Udo Reiter in der Süddeutschen Zeitung kann man online nachlesen: http://www.sueddeutsche.de/leben/debatte-um-sterbehilfe-gefaehrliche-melodie-1.1854960

[26] Matthias Kamann, Todeskämpfe. Bielefeld 2009, S. 70. Auch Klaus Feldmann beschreibt die Quadratur des Kreises als missglückt: "Die Hospiz- und Palliativbewegungen und -gruppen haben eine kollektive Ars moriendi enwickelt, die offiziell das Individuum ins Zentrum stellt... Von der sterbenden Person wird in Krankenhäusern, Heimen und auch in stationären Hospizen normgerechtes Verhalten erwartet, das letztlich durch medizinische und pflegerische Maßnahmen abgesichert wird. - fremdbestimmte Selbstbestimmung." In: Ars moriendi im 21. Jahrhundert. In: Erna Nairz-Wirth (Hg).: Aus der Bildungsgeschichte lernen. Wien 2010, S. 179, 182.

[27] Klaus Kutzer, Rede zur Begründung des Gesetzesentwurfs von Justizministerin Zypries (2006): http://www.dissidentenfunk.de/archiv/s0602/t03/print

[28] Klaus-Michael Kodalle: Über Suizid, "Tötung auf Verlangen", Aktive Sterbehilfe. In ders. (Hg.): Grundprobleme bürgerlicher Freiheit heute. Würzburg 2007, S. 137.