Essay

Der wohlverstandene Islam

Von Peter Mathews
14.11.2014. Zwei Anmerkungen zu Katajun Amirpurs Kampf gegen den "Islamischen Staat" mit theologischen Mitteln - und zum offenen Brief konservativer Islamgelehrter an den selbsternannten Kalifen von Bagdad.
1.

Während der Sprecher des Koordinationsrats der Muslime, Aiman Mayzek in einer Talkshow sagte, die Terroristen des sogenannten "Islamischen Staats" hätten mit dem Islam nichts zu tun und seien "eine große Gefahr für unsere Religion", erblicken islamische Theologen in den Kämpfern offenbar Dialogpartner.

120 Imame, Obermuftis, Professoren, Scheichs und Gelehrte aus der ganzen islamischen - vor allem arabischen - Welt wandten sich im September in einem offenen Brief an den Anführer der Terrormiliz "Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri, alias "Abu Bakr Al-Baghdadi""und die Kämpfer und Gefährten des selbsterklärten "Islamischen Staats" und erteilten ihnen eine theologische Unterweisung. Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur würdigte diesen Brief am 12. November 2014 in der NZZ als Beweis , dass sich selbst orthodoxe Islam-Gelehrte aus der Logik ihrer Religion heraus von der Gewalt des Islamismus zu distanzieren wissen.

Dieser Brief ist allerdings ein bizarres Dokument. In 24 ausführlich erläuterten Punkten erklären die Gelehrten auf über zwanzig eng bedruckten Seiten und mit fast hundert Koranversen gespickt unter anderem , dass man (Punkt 1 des Briefs) Fatwas nur verkünden soll, wenn es dadurch etwas zu lernen gibt; man (3) die Scharia nicht verballhornen soll, man (5) die Realität nicht außer acht lassen sollte; es verboten ist (7), Botschafter und Journalisten zu töten, dass Jesiden (11) als Leute der Schrift zu behandeln sind, man Menschen nicht zum Übertritt zum Islam (13) zwingen darf, dass Frauen (14) und Kinder (15) Rechte haben, Sklaverei (12) und Folter (17), das Töten Unschuldiger (6) verboten sind und der Djihad (8) nur ein Verteidigungskrieg ist.

Und dass der selbsternannte Kalif kein Kalif (22) ist (weil er nicht von allen Muslimen bestimmt wurde) und der IS dem Islam und den Muslimen schadet: "you have misinterpreted Islam into a religion of harshness, brutality, torture and murder. As elucidated, this is a great wrong and an offence to Islam, to Muslims and to the entire world."

Der selbsternannte Kalif hat laut dieser Rechtsgelehrten den Islam also "misinterpreted", falsch verstanden. Dass al-Baghdadi und seine Komplizen Mörder und Verbrecher sind, darüber kein Wort, sondern nur die Aufforderung, damit aufzuhören, zu bereuen und zum wohlverstandenen Islam zurückzukehren.


2.

Die Hamburger Islamwissenschaftlerin und Theologin Katajun Amirpur sieht in diesem Brief nicht nur einen großen Fortschritt, sondern gar den Beweis, dass die islamische Theologie auf dem Weg ist, eine moderne Auslegung des Koran zu finden, und so alle Kritiker Lügen straft.

Anders als den konservativen Gelehrten des offenen Briefs spricht sie zunächst sowohl Fundamentalisten als auch Kritikern des Islam das Recht ab, mit Koranversen für oder gegen den Islam zu argumentieren. Der Koran solle stets im Kontext zitiert werden: "Alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Der Fokus darf nicht auf einzelnen Fragmenten liegen. Hervor geht diese Methode aus der Schrift selbst, unter anderem aus dem folgenden Koranvers: "Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen" (Sure 2, 85)." Sowohl Islamkritiker als auch Amirpur nicht genehme Strömungen des Islam dürften dagegen gar nicht mitreden, denn: "das Verfahren, sich einzelne Verse aus dem Koran herauszupicken, um eine bereits vorgefasste These zu belegen, wie es einige Islamkritiker und die Fundamentalisten gleichermaßen praktizieren, ist aus islamisch-theologischer Sicht grotesk und ein Zeichen der Ignoranz."

Katajun Amirpur begibt sich damit in einen jener berüchtigten Zirkel, die Theologie zum Gegenteil von Wissenschaft machen: Den Islam kritisieren darf nur der, der nichts zu kritisieren hat. Koraninterpretation wird auf einen Kreis der Eingeweihten reduziert, so eine Art muslimischer "Brahmanen"-Kaste. Frau Amipur wäre dann so ein Koran-Brahmane.

Nichts gegen die Idee, den Koran und die Schriften im Sinn der Menschlichkeit und der Gleichberechtigung zu interpretieren. Anders - mit Ignoranz der Moderne und der Orientierung auf das Alte (salaf) würde der Islam auf Dauer zu einer dumpfen Religion von Verlierern werden. Nur kann man den sogenannten fortschrittlichen Muslimen nicht ersparen, dass sie sich an den philosophischen, rechtlichen und politischen Fortschritten der Menschheit orientieren.

Es ist ein absichtsvolles Missverständnis religiöser oder proreligiöser Autoren, die Auflösung der totalen Ansprüche von Religion allein aus einer angeblich reformerischen Dynamik der Religion selbst zu erwarten und nicht aus Grenzen, die ihr von einer pluralen und globalisierten Gesellschaft entgegengesetzt werden - und von der Geschichte, die auch ihren heiligen Text bedingt

Sehr lesenswert benennt Martin Spinnler-Stanisz in den Online-Kommentaren zu Amirpurs Artikel das Manipulative solcher theologischen Argumentation: "Katajun Amirpur möchte ich entgegnen, dass es meines Erachtens äußerst problematisch ist, sich auf exegetische Diskurse und Argumentationen einzulassen, soweit diese den Anspruch haben, Erklärungen für den weltlichen Bereich zu liefern. Denn damit verschafft man sogenannt "heiligen" Schriften eine Legitimation auch außerhalb des religiösen Bereichs... Die im angesprochenen Brief praktizierte Argumentation, die dem IS aus theologischer Sicht die Legitimation abspricht, impliziert eben auch, dass es die - korrekte - Auslegung von heiligen Texten ist, die darüber entscheidet, ob eine Handlung legitim ist."

Es ist noch kein Fortschritt, wenn islamische Theologen die Terroristen ermahnen: "Behandelt die Frauen gut" (Top 14 des Briefs) oder wenn eine Frau im Iran gehenkt, statt gesteinigt wird, weil sie sich gegen einen Vergewaltiger gewehrt hat.

Solange Muslime wie Behinderte behandelt werden, als wären sie Mündel, die für ihr Handeln und Denken nicht verantwortlich gemacht werden können und solange die fälligen Reformschritte nicht aus ihrer eigenen Auseinandersetzung auch mit der Kriminalgeschichte der Religion kommen, werden diese Schritte eben nicht kommen. Die Historisierung ist schmerzhaft, aber von dieser Denk- und Trauerarbeit wird sie niemand bewahren können. Aber natürlich: Politik ist schon zufrieden, wenn die Muslime auf der Straße für den Frieden beten.

Es ist eine Beleidigung des Verstands, wenn hohe Islamfunktionäre jenen, die angeblich mit dem Islam nichts zu tun haben, theologische Unterweisungen erteilen und eine Professorin vorschreiben will, wer mit, gegen und über den Koran argumentieren darf.

Peter Mathews