Essay

Helle Tunnel, dunkle Lichtungen

Von Daniele Dell'Agli
13.11.2014. Assistenz am Lebensende praktizieren sie nach eigenen Ad-hoc-Regeln: Sterben lernen lässt sich auch im Kino. Für eine Sterbepädagogik im Namen der Entängstigung.
Dieser Text setzt den Essay "Aufruhr im Zwischenreich" (Teil1, Teil 2, Teil 3, Teil 4) fort. D.Red.
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Ein korpulenter Mann Ende fünfzig mit großem kahlrasierten Schädel in einem Liegestuhl auf der Veranda einer Landvilla. Der weitläufige Garten mit großen alten Bäumen grenzt an einem See. Wir wissen, er hat Lungenkrebs im Endstadium, er stirbt. "Es war mir eine große Freude, meine Zeit mit euch verbringen zu dürfen, meine Freunde. Und euer Lachen wird mich immer begleiten." Eben noch hatte er sich von seiner Tochter verabschiedet, die ihm von einem Segeltörn auf dem fernen Pazifik eine letzte Videobotschaft auf dem Laptop geschickt hatte. Dann wird die Spritze für den goldenen Schuss aufgezogen. Die Umstehenden - Freunde, Geliebte, Exfrau, künftige Schwiegertochter - treten näher, umarmen und küssen ihn, ziehen sich schweigend zurück. Die junge Frau, die ihn während seines rapiden Verfalls mit Heroin versorgt hatte, kommt mit mehreren Spritzen, er nennt sie "mein Schutzengel", lächelt sie an. Der Sohn setzt sich zu ihm, drückt seine Hand, blickt ihn fragend an. Er nickt ihr zu. Mit zitternden Händen drückt sie die Überdosis in den Infusionsschlauch. Der Mann schläft ein, wenige Sekunden lang flimmert Ines Orsini, das sexuelle Idol seiner Jugend, in Schwarzweiß vorüber, dann entspannen sich seine Gesichtszüge, der Sohn faltet ihm die Hände. Von unten sehen wir in steiler Aufsicht Baumwipfel, die sich knarrend zueinander neigen. Dann noch ein paar Sekunden wolkenverstopfter Himmel.

Soweit eine Kurzbeschreibung der ergreifenden Abschiedszene aus "Die Invasion der Barbaren" von Denys Arcand (2003). In gerafftem Tempo und elliptischer Erzählweise zeichnet der Film die letzten Wochen im Leben eines Geschichtsprofessors nach, dem eröffnet wird, dass er unheilbar krebskrank ist und bald sterben wird.


"Die Invasion der Barbaren" von Denys Arcand, Szenenbild.

Im Laufe von knapp hundert Minuten gelingt es dem Regisseur, mit dem Ensemble aus seinem Film "Der Untergang des Amerikanischen Imperiums" (1986) ein Vierteljahrhundert später eine ziemlich eigenwillige Bilanz der Hoffnungen und Enttäuschungen der 68er Generation und ihrer -Ismen zu ziehen; die Defizite des kanadischen Gesundheitssystems anzuprangern ebenso wie die Käuflichkeit noch der selbstverständlichsten Aufmerksamkeiten; die Entfremdung in einer Vater-Sohn-Beziehung schrittweise - nicht ohne Konflikte - wieder aufzuheben; ein Loblied auf die analgetische Wirkung des Heroins anzustimmen und zugleich eine süchtige Studentin wieder sozial zu integrieren; die unerschöpflichen Möglichkeiten eines Lebens und Sterbens ohne Segen, Rituale und Trost der Religionen zu feiern; vor allem aber eine unvergleichliche Hymne an die Freundschaft im Zeitalter ihrer telematischen Entwertung zu inszenieren, eine Freundschaft, die ihre härteste Bewährungsprobe, die Begleitung eines geliebten Menschen in den Tod, zu bestehen hat.


"Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest".
Friedrich Nietzsche

Der Spruch des Zarathustra mag auf den ersten Blick exaltiert klingen, oder auch zynisch, auf jeden Fall provoziert er. Zum Beispiel folgenden Gedanken: Wenn der Tod das einzig wirklich Alternativlose, Unvermeidliche im Leben ist: warum soll man daran verzweifeln? Sich davon betrüben, verängstigen, entsetzen lassen? Warum, salopp gesagt, nicht das Beste daraus machen? Verzweifeln sollte man über das, was rückblickend hätte vermieden oder anders entschieden werden können. Das nicht hätte sein müssen. Und darüber, dass Erleuchtungen dieser Art einem erst im Angesicht des Todes zuteil werden - wenn es zu spät ist. Umgekehrt genügte eine Vorwarnzeit, um sich Gewissheit zu verschaffen und den bösen Verdacht zu korrigieren, man hätte seine Chance nicht genutzt. Das ist die Ausgangssituation des Films von Denys Arcand. Entsprechend schwankt seine Grundstimmung zwischen Trauer und Heiterkeit, Beklemmung und Ausgelassenheit; das Elegische, das in thematisch verwandten Psychodramen ansonsten dominiert, bricht hier nur sporadisch durch, wenn Handlung und Zeitgefühl aussetzen, die Figuren verstummen und Streichersforzati mit der Ahnung des Unabwendbaren die beiden dramaturgischen Hauptlinien unterbrechen: die pragmatische Organisation erträglicher Umstände für den Schmerzgeplagten und die intensive Wieder- und Neubelebung der Beziehungen, die für sein verlöschendes Leben prägend waren. Über weite Strecken sorgt der Todeskandidat selbst in einer Mischung aus hilflosem Trotz und Galgenhumor für die tragikomische Note, etwa wenn er als historisch bewanderter Gelehrter wütend versucht, sich mit dem Grauen der Weltgeschichte gegen das Grauen seines bevorstehenden Endes zu wappnen. Um anschließend wieder untröstlich in den Abgrund zu blicken: "Aber dann bin ich weg. Verschwunden. Für immer." Bis zuletzt bangt der Zuschauer mit, ob der Protagonist es "schafft" - und Arcand ist grausam genug, diese Frage (mit Hilfe seines großartigen Hauptdarstellers Rémy Girard) offen zu lassen, auch wenn ihn seine Freunde und Kinder mit dem Gefühl verabschieden, doch irgendwie alles "richtig" gemacht zu haben.

So wird im letzten Akt das abgelegene Haus am See zum Schauplatz eines idiorythmischen Experiments1. Die Regie vermeidet alles Feierliche, Bekümmerte, Konventionsdiktierte. Die Mitglieder der kleinen verschworenen Gemeinschaft bekennen sich mehr denn je zur Extravaganz ihres Lebenswandels, aus der sie die Kraft schöpfen, auch im Schatten des herannahenden Todes stilsicher die Balance zwischen intimer Nähe und unaufhebbarer Fremdheit zu halten. Ausgerechnet diese intellektuell überdrehten Protagonisten - die der common sense prompt als "verkopft" denunzieren würde - finden mühelos die Gesten der Zuneigung, den Trost sinnlicher Genüsse, die das Unerträgliche verwandeln in dem Maße, wie sie es nicht mit transzendierenden Bedeutungen befrachten. "Das Fest ist Heidentum par excellence", notierte der späte Nietzsche: Die "Invasion der Barbaren" demonstriert die Richtigkeit dieser - für archaische Anlässe wie Erntedank oder Sonnenwende unumstrittenen - These auf dem Hoheitsgebiet der christlichen Innerlichkeit, dem letzten Abendmahl, das bei Arcand zum gedämpft euphorischen Reigen des Evozierens und Abschiednehmens von gemeinsamen Erinnerungen und Gefühlen wird. Die "Exzellenz" eines humanistischen, und das heißt ironisch überbotenen Heidentums erweist sich nicht zuletzt daran, dass es spielerisch und verspielt zugleich allen Versuchungen einer paganen Karnevalisierung des Todes widersteht, wie sie uns Petronius" mit dem (Nietzsche gut bekannten) "Gastmahl des Trimalchio" überliefert hat. Denn bei Arcand geht es weder um satirische noch gar um heroische Grenzüberschreitungen, sondern eher um Grenz-Unterschreitungen durch Indifferenz: seine Akteure ignorieren souverän die Existenz von Traditionen, Strafgesetzen oder medizinischen Prozeduren. Assistenz am Lebensende praktizieren sie nach eigenen Ad-hoc-Regeln.

Während die "barbarischen" Invasionen, die der Film anekdotisch zitiert - die von Selbstmordattentätern nach dem Vorbild von 9/11; der Bürokraten in das Gesundheitssystem; der Leinwandstars in die Fantasie der Zuschauer; der Drogen in den Blutkreislauf ausgepowerter Leistungssubjekte -, zum Hintergrundrauschen der offiziellen Welt- und Gesellschaftsgeschichte verblassen, gewinnt die handlungsführend ins Bild gesetzte "Invasion" deutlich an Konturen: als eine die Grenzen von Bluts- und Wahlverwandtschaft, von Familien- und Freundeskreis, Jung und Alt, Reich und Arm überwindende, transversale, molekulare, konvivialistische Unterwanderung systemkonformer Regelwerke und Verhaltenskorsette. Getragen wird sie von einer Gruppe Bohemiens, deren Zusammenschluss man frei nach Georges Bataille als eine "Gemeinschaft derer, die keine Gemeinschaft haben" charakterisieren könnte, ohne sie deshalb in die Nähe einer Geheimgesellschaft vom Typ des Acéphale zu rücken (kulturhistorisch würde sich eher eine Reminiszenz von Monte Verità ohne künstlerische Ambitionen anbieten).

Bekanntlich entzündeten Batailles Notizen zur Idee einer "negativen Gemeinschaft" (aus dem Jahr 1953) zeitversetzt eine obsessive und bis heute nicht abreißende Erkundung des Verhältnisses von communauté, communi(cati)on und communisme, die von Nancy über Blanchot bis zu Derrida (und Rancière, Badiou, Stiegler und...) die französische Philosophie umtreibt und in Agamben und Esposito auch zwei italienische Mitstreiter gefunden hat.2 Zentral für ihre Überlegungen ist durchweg das Verhältnis der Gemeinschaft zum Tod als dem Anderen, das sie allererst begründet, indem es die Grenzen des gemeinsam Teilbaren, des Mitseins und des Mitteilbaren erfahrbar macht. Nun erlaubt die Fokussierung auf einen ontologischen Bezug es zwar, elegant die Versuchungen einer Hypostasierung des Gemeinschaftsbegriffs zu vermeiden - wovor Jean-Luc Nancy wiederholt warnt mit Verweis auf den totalitären Gehalt jeder Verpflichtung auf ein ideologisches Projekt (auf ein "Werk" in französischer Diktion) - doch der Preis dafür ist eine Rhetorik des Aporetischen und Apophatischen, eine negative Hypostase des Undarstellbaren und Unkommunizierbaren, die mehr Fragen ausklammert, als praktisch politische Konkretisierungen verkraften könnten.

So schreibt Blanchot zum Beispiel: "Die Fremdheit dessen, was nicht gemeinsam sein kann, ist das, was diese Gemeinschaft begründet, ewig provisorisch und immer im Stich gelassen". Warum im Stich gelassen? Weil man das Sterben des Anderen nicht aufhalten konnte? Wer würde einen Vorwurf daraus machen? Und was vorher war, zählt nicht? "Öffnet" sich das Individuum tatsächlich erst durch den Tod des anderen beziehungsweise das Andere des Todes für die Gemeinschaft (der Freunde, der Liebenden, auf die auch Bataille seine communauté beschränkt wissen wollte), also wenn diese zugleich aufhört, physisch zu existieren? Die Gegenprobe darauf hat Michael Haneke in seinem letzen Film "Liebe" (2012) gemacht, der unsentimental zeigt, wie ein Schlaganfall die lebenslange Intimität eines Paares zerstört und das Versprechen des Füreinander-Seins nur dadurch eingelöst werden kann, dass der Ehemann seine nur noch verzweifelt verkümmernde leidensmüde Frau vorzeitig von ihren Qualen erlöst - was allerdings auch für ihn das Ende bedeutet.

Erst wenige Jahre zuvor hatte das Schicksal von André und Dorine Gorz das intellektuelle Frankreich - Hanekes Wahlheimat - bewegt. Das Paar schied nach fast sechzigjähriger Liebesgemeinschaft gemeinsam aus dem Leben, weil die Schmerzen und der physische Zerfall der an Arachnoiditis erkrankten Dorine das Maß alles Erträglichen überschritten hatten und - wie André Gorz in seinem Abschiedstext "Brief an D." ankündigt - keiner ohne den anderen weiterleben wollte. Diese aus Liebe begonnene und in Liebe beendete Geschichte lässt die Insistenz, mit der die Erfahrung des Sterbens als konstitutiv je nachdem für Gemeinschaftlichkeit (Blanchot, Nancy) oder für Alterität (Lévinas) geltend gemacht wird, als zirkelschlüssig erscheinen.3 Hier werden einfache psychogenetische Grundgesetze ignoriert und vorausgesetzt, was überhaupt erst begründet werden soll. Denn wer nicht in jungen Jahren sich als Freund bewähren musste und von den Turbulenzen der ersten Liebe verstört wurde, der wird sich auch angesichts des Todes Nahestehender im fortgeschrittenen Alter nicht für emphatische Gemeinschafts- oder Alteritätserfahrungen "öffnen".

Im Dunkeln bleibt ferner, was die "abwesende Gemeinschaft" (Bataille) vor der Erfahrung des Todes eines ihrer Mitglieder ist. Eine Streumenge zur Gemeinschaft Unfähiger? Und was ist mit jenen, die habituell und professionell um das Leben anderer kämpfen und oft genug ihren Tod verkraften müssen wie Notfallmediziner oder Chirurgen? Oder die berufsbedingt durch die Konfrontation mit dem Tod zusammengeschweißt werden wie militärischen Kampfeinheiten, Polizei oder Feuerwehr? Sollen ausgerechnet hoheitsrechtlich an der Leben-Tod-Grenze agierende korporative Verbände das Modell negativer Gemeinschaften abgeben?

Ein weiteres prinzipielles Manko betrifft schließlich den als unüberbrückbar gesetzten Hiatus zwischen Leben und Tod, der im Zeitalter weitgespannter Übergänge mit verzögertem Umschlagspunkt seine Dramatik zu verlieren beginnt. Gerade die noch ungewohnte Chronifizierung eines Zwischenreichs der nicht mehr Lebenden und noch nicht Toten fordert vielmehr einen Gemeinschaftssinn, der nicht erst erwacht, wenn der Andere die Augen verdreht, vielmehr dieses alle Bindungen auflösende Ereignis antizipatorisch in Habitus und Selbstverständnis eines Kollektivs integriert.

Das ist der historisch neue Kontext, der es erlaubt, eine für die vielstimmige Communitas-Debatte ungleich brisantere Initialzündung aus der französischen Tradition in Erinnerung zu rufen, die aus verständlichen Gründen bislang überhört wurde: "Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienen verlernt. Sterben zu wissen, befreit uns von aller Unterwerfung, von allem Zwang." Diese Sätze schrieb Michel de Montaigne 1572 nieder4, zur gleichen Zeit, als Jean Bodin die Souveränität als Grundkategorie des Staatsrechts (und mit ihr das staatliche Gewaltmonopol) kodifizierte und ein halbes Jahrhundert bevor Thomas Hobbes die Autorität der Staatsmacht auf der Todesfurcht ihrer Untertanen gründete.

Die Zeit scheint gekommen, Montaignes aufrührerische Umdeutung eines zentralen Topos stoischer Lebenskunst in ihrer programmatischen Abgeklärtheit - ohne die wohlfeilen Missverständnisse sich an Todesmut berauschender Revolutionspathetiken - zu lesen. Wer die Todesangst überwindet, wird nämlich für jeden Dienst unbrauchbar, auch dem an der großen Sache, Idee, Religion. Erst die Überwindung der Todesangst setzt Energien einer "Lebens-Form"5 diesseits des Zugriffs rechtsstaatlicher Normierungen frei, Energien, deren Kollektivierung eine andere Art Gemeinschaft auf den Plan subpolitischer Gegenöffentlichkeit ruft: die Gemeinschaft derer, die nichts mehr zu verlieren haben.

Wer ab einem gewissen Alter die Kämpfe um Glück, Wohlstand und Anerkennung hinter sich gelassen hat; wer den Ballast seiner persönlichen Enttäuschungsgeschichte abgeworfen und nicht einmal mehr den Glauben an Gerechtigkeit, Frieden, Solidarität, Würde zu verlieren hat, der kann exemplarisch (mit erhöhtem Ansteckungspotenzial) per fas et nefas gegen Normierungswut und Zwangsegalisierung rebellieren. Und warum sollte das eine Prozent freidenkender Akademiker, Intellektueller und Künstler sich auf dem infantilen Stand der Restbevölkerung sedieren lassen, anstatt darauf zu setzen, dass ihr Lebens- und Sterbensstil allen anderen als Vorbild dient? Die "negative Gemeinschaft" fände demnach überall dort statt, wo, auf welcher operativen Ebene auch immer (Diskursgemeinschaften eingeschlossen) der Aufruhr im Zwischenreich und das Heer der Barbaren vergrößert wird - ganz wie bei Arcand, wo selbst die Krankenschwester, selbst der Polizist des Drogendezernats sich von den philanthropischen Exit-Lösungen anstecken lassen.

Dabei lässt dieser Film, um ein letztes Mal auf seine sozialphänomenologische Lektion zurückzukommen, keinen Zweifel daran, dass die Erhaltung der Menschenwürde im Alter und am Lebensende heutzutage nicht nur eine Frage von Mut, Bildung und den richtigen Kontakten, sondern zunächst und vor allem des Geldes ist. Es gibt kein selbstbestimmtes Sterben in Armut - ebensowenig wie ein selbstbestimmtes Leben.6

Und er wirft weitere beunruhigende Fragen auf: Was ist überhaupt ein "Angehöriger" und wie kann man sich mit Menschen befreunden oder wenigstens anfreunden, die man sich nicht ausgesucht hat (Vater, Mutter, Kinder, Geschwister)? Wer wird in Zukunft bei den Kinderlosen (ihrerseits meistens selber Einzelkinder) sein, die Freunde und Geliebte überlebt haben? Umgekehrt ist es keineswegs ausgemacht, dass ein festliches Ende mit großer Besetzung den Abschied von der Welt erleichtert und nicht vielmehr das einsame Verschwinden, das sich bereits abgekoppelt hat von der Gegenwart jener, von denen man sich nicht trennen und all dessen, was man nicht missen möchte.

Anders gesagt: Exemplarisch kann niemals das individuelle Sterben sein, sondern nur die Revolte gegen seine Normierung und gegen die Reglementierung der Lebensumstände im Alter. Und auch wenn es in Deutschland an einer Kultur des Misstrauens gegenüber staatlichen Autoritäten fehlt, so werden Auseinandersetzungen um Fragen der Selbstbestimmung schon wegen der demografischen Entwicklung an Umfang und Schärfe zunehmen. Angesichts der fatalen Zweikomponentenmischung aus juristisch-politischer Unbeweglichkeit und medizinischem Übereifer kommt den audiovisuellen Medien eine privilegierte Rolle bei der Stimulierung eines Mentalitätswandels als Vorbote (und Druckmittel) praktischer Veränderungen zu. Filme sind - wie sonst nur literarische Texte - dazu prädestiniert, breitenwirksam voranzutreiben und emotional zu verankern, was nach Jean-Pierre Wils Gebot einer Philosophie der Stunde ist: das reflexive Bewusstsein zu schulen gegen die anhaltend moralisierende Abwehr sich pluralisierender Umgangsformen mit Tod und Sterben. Denn "die ethischen Diskussionen über das Sterben sind nicht Ausdruck von Moralverlusten, wie immer wieder beschworen wird, als vielmehr die Folge gestiegener Sensibilitäten und das Ergebnis einer Personalisierung von Sterben und Tod. Eine solche Personalisierung führt unweigerlich zu einer wachsenden Pluralisierung der ethischen Überzeugungen."7


"Der größere Teil unserer tragischen Dramatik stellt nichts dar als eine Bemühung, die Dinge so umzustellen, daß der Tod ans Ende kommt."
Robert Musil (1922)

Im Folgenden werde ich anhand ausgewählter Beispiele aus der jüngeren Filmproduktion einige der Probleme und Herausforderungen diskutieren, mit denen filmische Annäherungen an das Sterben sich heute konfrontiert sehen.

Auf der Suche nach einem übergreifenden Erklärungsansatz für die allgegenwärtige Verseuchung der audiovisuellen Medien, auch der interaktiven, mit Bildern und Erzählungen von Mord und Totschlag samt genüsslicher Inspektion ihres leichenförmigem Resultats (quer durch alle Genres und meistens in Serie), kommt man um die Annahme nicht umhin, dass der nekrophile Gewaltvoyerismus einem anthropologischen Dispositiv entspricht, sich auf die Gefährdungen des Daseins einzustellen, einem Dispositiv, das zumindest in befriedeten und prosperierenden Weltgegenden leerläuft und sich Kompensationen sucht. Hinzu kommt, dass die ostentative Inszenierung des Todes als heteronom, durch den gewaltsamen und bösartigen Eingriff aus fremder Hand überfallartig hereinbrechendes Ereignis seine reale Kontingenz (seine Unerträglichkeit) genauso gut verdrängen hilft wie die medizinische Kontrolle und Verschiebung der Deadline.8

In dieser Situation ist es nicht leicht, gegen die permanente Fiktionalisierung des Ernstfalls narrative, dramaturgische und filmästhetische Mittel aufzubieten, um das factum brutum unserer Endlichkeit antifiktional zur Darstellung zu bringen. Es fehlt nicht an Filmemachern, die sich dieser Aufgabe einer Entzauberung des Todes stellen, und zwar indem sie ihren Blick semidokumentarisch auf die körperlichen, seelischen und sozialen Begleitumstände richten, die ihm vorausgehen. Eine veritable Perimortalästhetik zeichnet sich ab, deren Grundmuster anhand des episch langen, auf die siebte und achte Staffel (2001-02) von "Emergency Room" verteilten Abschied des an einem Glioblastom erkrankten Dr. Mark Greene durchgespielt werden.


Anthony Edwards als Dr. Greene in "Emergency Room".

Gelungen ist hier vor allem der Wechsel von Innen- und Außenansicht, von subjektiver Verzweiflung und Verlorenheit des Betroffenen (erschütternd präzise gespielt von Anthony Edwards) und der Spiegelung seiner Situation in den Augen der Kollegen, Freunde und Familienmitglieder; die Untrennbarkeit von beruflichem Alltag und privater Tragödie; die Kontrastierung der individuellen Ausnahmesituation des krebskranken Arztes mit der Routine seines Kampfes gegen die Leiden und Ängste der Patienten; die kleinen Stationen auf dem Weg zur Annahme des Todesurteils; das allmähliche Reifen der Entscheidung, auf einen medizinisch möglichen Zeitgewinn zu verzichten, um die verbleibende Zeit luzide, liebes- und genussfähig auszukosten; der Entschluss, am Ende sich ganz der Erziehung seiner Tochter, einem labilen drogengefährdeten Teenager, zu widmen, um etwas von der versäumten Zuwendung und Orientierung wiedergutzumachen - all das wird so raffiniert unprätenziös und so kunstvoll lebensnah erzählt, dass der Zuschauer sich dem Sog einer vom Ungeheuerlichen infizierten Normalität nicht entziehen kann.9

Umgekehrt fällt eine Bilanz einschlägiger Autorenfilme zwiespältig aus. Es zeigt sich nämlich, dass ambitionierter Stilwille dem Thema (seiner Analyse und ihrer Akzeptanz) nicht immer zugute kommt. Patrice Chéreau etwa forciert in "Sein Bruder" (2003) die Hässlichkeit des Krankenhausambientes und des von Krankheit und Operation geschundenen Körpers ebenso wie die fatalistische Grundhaltung der Protagonisten und die emotionale Impotenz der Familie, dass man den Silbernen Bären und die lobenden Kritiken für soviel Abschreckendes nur als kompensatorischen Masochismus (geschieht uns recht, wie er uns, die wir immer wegschauen, die Augen aufreißt) einstufen kann. Andere international renommierte Regisseure wie Pedro Almodovar ("Sprich mit ihr", 2002), Lone Scherfig ("Wilbur wants to kill himself", 2002) oder Jean Becker ("Tage oder Stunden", 2008) konstruieren tragikomische Parabeln um ihr Sujet, und selbst der nach einem dokumentierten Fall gedrehte "Mar adentro" von Alejandro Amenabar (2004) überfrachtet den Kampf eines Querschnittsgelähmten um das Recht sterben zu dürfen mit der Krebserkrankung seiner Anwältin (ganz zu schweigen von der Aufdringlichkeit der vom Regisseur selbst komponierten Musik).

Da ist man dankbar, wenn - am äußersten Ende möglicher Effektdramaturgie - Clint Eastwood in "Million Dollar Baby" (2004) das ganze Ausmaß der Perversion spüren lässt, einem vom Kopf abwärts gelähmten Menschen seinen Wunsch nach Erlösung zu verweigern beziehungsweise dessen Erfüllung anzuprangern. Oder wenn Valeria Golino in "Miele" (2013) die moralischen Konflikte einer professionellen Sterbehelferin direkt und schnörkellos angeht, auch wenn ihre spröde Ästhetik jede Teilnahme des Zuschauers vereitelt. Golinos Debutfilm ist bislang übrigens der einzige, der sich mit dem tabuisierten Euthanasiewunsch eines keineswegs todkranken, sondern schlicht lebensüberdrüssigen Menschen, in diesem Fall eines robusten Mittsiebzigers (den die Kritik prompt als "depressiv" glaubte abstempeln zu müssen) auseinandersetzt.10

Lea Pool wiederum überrascht in "La dernière fugue" (2010) mit der freimütigen Diskussion einer Familie an der Geburtstagstafel des Hausvaters darüber, wie man dem schwer an Parkinson Erkrankten am besten seinen Wunsch nach einem baldigen Ende seiner Quälerei erfüllen kann.

Nun geht es bei dieser Sichtung nicht darum, filmkritische Noten zu vergeben, sondern zu prüfen, ob sich die verantwortlich damit befassten - Macher wie Kritiker - bewusst sind, dass sie dabei sind, Maßstäbe für ein neues Genre zu setzen, dessen Regeln in einem entscheidenden Punkt von denen aller anderen Spielfilmproduktionen abweichen: Darstellungen menschlichen Sterbens, das nicht durch fremde Einwirkung (Unfall, Gewalt) herbeigeführt wird, sondern aufgrund der jedem Lebewesen inhärenten Begrenzung seiner Zellteilung (Krankheit, Alter), stattfindet, erreichen niemals den fiktionalen Status von möglichen Schicksalen und von Figuren, mit denen wir uns vorübergehend, probeweise und spielerisch identifizieren (worauf schließlich ihr Unterhaltungswert beruht); sie handeln vielmehr vom Schicksal, das uns alle früher oder später ereilen wird. Akteure eines Sterbedramas sind - ganz gleich ob frei erfunden oder realen Personen nachgebildet - immer virtuelle Stellvertreter der realen Geschichte jedes Zuschauers, dessen Unbewusstes nach Kräften daran arbeitet, Identifikationen mit ihnen zu vermeiden.

Die Gratwanderung, die solche Ausgangssituation verlangt, birgt Risiken, denen viele Regisseure instinktiv ausweichen. Das belegt der überproportional hohe Anteil von Sterbefilmen mit jung und unheilbar, fast immer an Krebs erkrankten Protagonisten, denen nur noch eine kurze Frist gegönnt ist.11 Das ist dramaturgisch reizvoll wegen des extremen Gefälles zwischen gesundem und verfallendem Leben, weil das Siechtum im Zeitraffer verläuft, die Dramatik des Sterbens und die Tragik des zu früh abgebrochenen Lebens hochverdichtet in Szene gesetzt werden können. Das entschärft aber auch die anlässlich von Chéreaus "Sein Bruder" bereits angesprochene Gefahr, die Grenze des Erträglichen auszuloten und unwillentlich zu überschreiten, denn die Zuschauer können Distanz zum dargestellten Unheil (hier eine äußerst seltene Trombozytopathie) wahren.

Andreas Dresen hat in "Halt auf freier Strecke" (2011) einen anderen Weg gewählt. Wieder ist es ein Gehirntumor, der einen Mann aus der Mitte seines Lebens reißt. Sein Leidensweg wird mit dokumentarischer Akribie und peinlicher Detailgenauigkeit nachgezeichnet, wobei es Dresen durchaus gelingt, seinen drastischen Realismus von voyeuristischen Versuchungen freizuhalten. Trotzdem fragt man sich am Ende, warum sich jemand diesen Zumutungen aussetzen soll. Seine Antwort12, dass dies schließlich das Leben sei, das ja - verkörpert durch die Tochter - weitergeht, bleibt unbefriedigend. Drei von hunderttausend Menschen erkranken an Glioblastomen, nicht alle müssen innerhalb weniger Monate daran sterben. So ist das Leben nicht. Und auch das Sterben nicht so qualvoll.

Sowohl Arcand als auch das Team von "Emergency Room"13 haben das verfrühte Sterben ihrer Protagonisten klar als Ausnahme geschildert, die das gesamte Umfeld und mit ihm die Zuschauer umso fassungsloser teilnehmen lässt. Sie haben nicht versucht, einen potenziellen, aber ziemlich unwahrscheinlichen Fall als virtuellen, alle Menschen betreffenden darzustellen. Dresen, der sich dezidiert davon absetzt (bis hin zur Tochter am Sterbebett reichen die Parallelen), suggeriert seinem Publikum (schon durch die ausgesuchte Durchschnittlichkeit der Dekors, des Ambientes, der Einbeziehung realer Ärzte und Krankenschwestern), er würde den Normalfall zeigen - womit er dann doch in die Abschreckungsfalle gerät. Trotz des transzendierenden Schlusstableaus möchte man den deprimierenden Gesamteindruck schnell wieder loswerden. Deprimierend nicht zuletzt wegen des von Anbeginn erloschenen Lebenswillens des Hauptdarstellers (Milan Peschel), der nicht einen Moment lang die doch naheliegende Frage erwägt, warum er die entsetzliche Quälerei solange durchstehen soll. Sein hilfloser Gleichmut dem Martyrium gegenüber kann niemandem ein nachahmenswertes Modell sein.

"Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß er nicht wie bisher, mehr von seinen Gedanken an seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit selber. Ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig!"
Friedrich Nietzsche


Aus diesen summarischen Filmkommentaren lässt sich unschwer die zentrale Kategorie einer Sterbepädagogik der Zukunft gewinnen: Entängstigung. Die apotropäische Intention durchzieht zwar bereits die Briefe Senecas an Lucillus, doch erst in unseren Tagen erlebt die einst aristokratisch kultivierte Ars moriendi ihre Demokratisierung, da der schier endlos verzögerte Prozess des Sterbens "zu einem konstitutiven, um nicht zu sagen vitalen Bestandteil ihres Lebens wird... Das Todesbewusstsein bemächtigt sich einer langen Phase des Lebens und übertüncht alle Stimmungen, Handlungen und Geschehnisse mit dem dunklen Firnis des Endes."14 Einschlägige Filme müssen sich daher daran messen lassen, inwieweit sie diesen Firnis als Grundierung oder als Versiegelung benutzen. Für das Programm einer Domestizierung der Todesangst hat Norbert Elias 1981 die bündigste Formulierung gegeben: "Schrecklich sind oft die kollektiven und individuellen Fantasien, die den Tod umgeben. Sie zu entgiften, ihnen die einfache Realität des endlichen Lebens gegenüberzustellen, ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt."15

Die Entängstigung des Sterbens ist das notwendige Komplement zur Entzauberung der medialen Todesfiktionen. Paradoxerweise verlangt gerade der genaue Blick auf die Vorgänge am Lebensende nach einem ästhetischen Konzept, was anstelle der Fiktionen, die bislang die Schreckensfantasien alimentierten, treten soll. Denn durch die Verlagerung der Ängste vom Abstraktum des Todes auf die Empirie des Sterbens fällt den dokumentarischen (nichtmanipulativen) Realitätssuggestionen des Films "nolens volens" die Aufgabe zu, falsche Vorstellungen oder Erwartungen ebenso zu korrigieren wie Widerstand gegen empörende Zustände zu wecken - Empörung ist übrigens ein probates Mittel gegen Angst und für die Mobilisierung von Eigeninitiative -; oder gleich alternative Szenarien der notfalls illegalen Gestaltung eines würdigen Abgangs zu entwerfen.

Ausgerechnet der ARD-"Tatort" hat sich mit zwei für die Krimireihe atypischen Beiträgen auf das Thema selbstbestimmtes Sterben eingelassen: komödiantisch aufgedreht in der Münchner Folge "Nicht jugendfrei" (2004, Regie Thomas Jauch), wo ein grandioses Senioren-Ensemble (Dietmar Schönherr, Horst Sachtleben und Eva Pflug) vor keinem Trickdiebstahl und keinem Betrug zurückschreckt, um sich die notwendigen Drogen zur Linderung ihrer Altersbeschwerden und für ein stilgerechtes Entschlafen (im Kino, die Erde aus dem Weltall gesehen) zu besorgen. Elegisch und sehr bewegend in den Stuttgarter "Altlasten" (2009, Regie Eoin Moore), wo sich ein mutmaßliches Verbrechen am Ende als der nur halb gelungene Doppelsuizid eines alten Ehepaars (Bibiana Zeller, Dieter Schaad) erweist, das angesichts zunehmender Demenz nicht warten wollte, bis die Krankheit beide füreinander unkenntlich macht. Zwei originelle und - für das Format - mutige Angriffe auf die offizielle Sterbemoral, die beide Optionen von Rechts wegen verbietet.

Zu der Angst vor dem fremdbestimmten Siechtum an Schläuchen und Drähten kommt die vor der Einsamkeit am Ende, "wenn ein Mensch... fühlen muss, dass er - obwohl noch am Leben - kaum noch Bedeutung für die umgebenden Menschen besitzt" (Elias). Rainer Kaufmann hat in gleich zwei - denkbar verschiedenen - Filmen die Bedeutung der richtigen Gesellschaft für ein würdiges Sterben sondiert. In "Marias letzte Reise" wehrt sich eine hochbetagte Frau (Monika Bleibtreu) trotz ihrer terminalen Krebserkrankung energisch gegen ein untätiges Warten auf den Tod im Krankenhaus und die Bevormundung durch Krankenschwester und Chefarzt. "Daheim" will sie schon deshalb sterben, weil sie sich von Dingen und der Landschaft ihres Lebens verabschieden und noch manchen Konflikt zwischen ihren Söhnen schlichten will. Als Gegenmodell zu dieser familiären Konstellation erleben wir in "Blaubeerblau" (2011) wie ein Architekt, der bei seiner beruflichen Inspektion eines Hospizgebäudes einem einst verhassten Schulkameraden begegnet, zum späten Freund und Sterbebegleiter des an Krebs Erkrankten wird, dem nur noch seine Schwester geblieben ist. Hier wächst diese verzagte, vom kauzigen Understatement David Striesows getragene Persönlichkeit in die Anforderungen der Ausnahmesituation hinein, die ihn, den Überlebenden, verändert zurücklässt.

Ungleich radikaler dezentriert Michael Klier in "Alter und Schönheit" (2009) die in der Regel auf den Todeskandidaten fokussierte Aufmerksamkeit, an dessen Stelle hier der ratlose Aktionismus dreier Männer und einer Frau gilt, die einem Freund seine letzten Wünsche zu erfüllen versuchen. Kliers minimalistische Absage an das deutsche Psychodrama verzichtet darauf, unscheinbare Charaktere unter dem Druck der Umstände groß aufspielen zu lassen; seine Akteure sind vielmehr saturierte Mittfünfziger, deren Erfolgsroutinen angesichts der irritierenden Situation aufbrechen und ein sympathisches Schlingern am Rand des bürgerlich Sittsamen freigeben. In der Freundschaftskür am Sterbebett markiert dieser Film einen subversiven Kontrapunkt zur stets drohenden kontrafaktischen Familialisierung des Genres.


"Zur Landebahn" - Szenenbild aus Michael Kliers "Alter und Schönheit" .

Eine Strategie, die beide Zielsetzungen - die fiktionskritische und die antiphobische - verklammert, könnte sich die Allerweltsweisheit zunutze machen, derzufolge die Realität nie hält, was die Fantasie verspricht. Was in jungen Jahren lediglich die sexuelle Enttäuschung des zu lange hingehaltenen Verliebten umschreibt und später, zur bitteren Lebensbilanz verallgemeinert, veritable Sinnkrisen auszulösen vermag -: auf Schreckensfantasien übertragen kann sie umgekehrt beruhigend wirken; sie dürfte nur bei den Wenigen, die sich glücklich schätzen, beides - Fantasie und Realität - in ihrer Biografie annähernd zur Deckung gebracht zu haben, versagen. In den einschlägigen Filmen erscheint diese Kluft zwischen überschießender Fantasie und nüchterner Realität als Differenz zwischen den Ansprüchen ans Leben und ihre ausgebliebene Verwirklichung.

Bei jüngeren Sterbekandidaten nehmen solche Überlegungen die Gestalt der Preisfrage an, die schon mehrfach kintoppmäßig veralbert wurde16: Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass du nur noch wenige Wochen zu leben hast? Dann kommen entweder Aussteiger-Szenarien zum Zuge ("One Week", "Tage oder Stunden") oder es werden Strichlisten hochfliegender Pläne angefertigt, die schnell wieder zusammenschnurren auf das, was wichtig und machbar ist und wofür die Besteigung des Mount Everest nur eine ironische Größenprojektion abgibt ("Emergency Room", "Mein Leben ohne mich"). Diese Versuchsanordnung funktioniert allerdings nur, wenn es Regie und Protagonisten gelingt, den Zuschauer mit eben dieser beklemmenden Perspektive auf Dinge, die jemand ein erstes und/oder ein letztes Mal macht, zu synchronisieren - was bei Coixet und McGowan schon an der vermeintlich leichthändigen, in Wahrheit halbherzigen Schauspielerführung und der Banalität der Dialoge scheitern musste.

Eine Sonderstellung nimmt François Ozons "Die Zeit die bleibt" (2006) ein, der keinen Moment lang versucht, Sympathien für seinen 30-jährigen Protagonisten zu wecken, einem (schwulen, oberflächlichen) Modefotografen mit - was sonst - Gehirntumor im Endstadium und nur noch wenige Monate zu leben. Sieht man von den offenkundigen Schwächen ab (die Verkürzung der Symptomatik auf Abmagerungserscheinungen, die unmotivierte Konversion des misanthropischen Yuppie zum großzügigen Samenspender und anderes mehr), so wartet dieser Film mit einem neoexistenzialistischen, an Illusionslosigkeit nicht zu überbietendem Finale auf: der junge Mann legt sich an einem stark frequentierten Strand zum vollkommen anonymen und einsamen Sterben hin. Mit der gleichen Indolenz, mit der die Hauptfigur auf ihre Diagnose reagiert, zeigt Ozon das Verlöschen dieses Niemand vor dem Untergang der Sonne im Meer. Nur in dieser letzten Einstellung, zur ausgelaugten Resignation des "Postludium 3" von Valentin Silvestrov (das die Ausgelaugtheit musikalischer Elegien mitkomponiert und so vergessen macht wie Ozon die Verbrauchtheit von Sonnenuntergängen am Meer im Film), identifiziert er den Zuschauer mit dem Schicksal des Protagonisten: Wenn ein Mensch stirbt, geht die Welt, seine Welt, unter - und der Leichnam in den kosmischen Kreislauf ein. Schwärze. Abspann. Vom italienischen Philosoph Manlio Sgalambro stammt die Vision, dass der Tod eines jeden Individuums nur den Tod der Sonne eines fernen Tages vorwegnimmt: ein von Sterblichen noch nicht angem
essen gewürdigter Trost.17

Die Synchronisierung der Perspektive von Zuschauer und Hauptfigur unterbindet auch Frederik Steiner in seinem bemerkenswerten Debutfilm "Und morgen Mittag bin ich tot" (2013) bewusst, in diesem Fall um die Entscheidung einer jungen Mukoviszidose-Patientin, dem eigenen Erstickungstod selbstbestimmt zuvorzukommen, plausibel zu begründen. Mit Galgenhumor werden "das letzte Schnitzel" oder "die letzte Bootsfahrt" durch "nie wieder Treppen steigen", "nie wieder Liebeskummer" konterkariert. Das führt allerdings dazu, dass der Film erst in den letzten zehn Minuten, wenn die bis dahin dominierende Perspektive der Protagonistin durch ihre Interaktion mit jenen, die sie in Kürze überlebt haben werden, allen voran der Mutter, abgelöst wird, dem Zuschauer mit den ganzen Ernst dieses tragischen Schicksals zuleibe rückt (um ihn dann leider zum Abspann mit seichter Musik in seinen ungefährdeten Alltag zu entlassen).


Liv Lisa Fries in "Und morgen bin ich tot", Szenenbild.

Leider übermittelte das brave Feuilleton von diesem Film wie von allen anderen Sterbedramen zuvor - und es scheint keine Rolle zu spielen, wieviel die Regisseure dem Publikum zumuten - lediglich die sekundäre (und mittlerweile inflationär dämliche) Botschaft von der "Hymne an das Leben"; so als ob der Tod junger Menschen infolge unheilbarer Krankheiten nur inszeniert würde, damit sich die in der Mehrzahl älteren Zuschauer besser fühlen. Oder schlimmer noch: als gelte es - in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Meinungsführern in den Talkshows - den "furchtbaren" Verdacht abzuwenden, hier habe ein Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben die Kinos erobert. Kein Wort darüber, dass die trotz Sauerstoffflaschen giemende und keuchende 22-jährige in "Und morgen mittag bin ich tot" am Ende ihrer Kräfte nach Zürich fahren muss, um so zu sterben, wie sie es für richtig hält (wobei der gut recherchierte Ablauf die kursierenden Fehlinformationen über die Arbeit Schweizer Sterbehilfeorganisationen ausgeräumt haben dürfte); und erst recht kein Wort über den Skandal, dass sich für Mukoviszidose-(Parkinson-, MS-, Leukämie-, und...) Patienten eventuelle Stammzellentherapien dank der Obstruktionspolitik fanatischer Lebensschützer (es ist wieder die gleiche Clique), die die Rechte von Blastozysten denen von Menschen gleichstellen, um Jahrzehnte verzögern werden.

Doch weit über diesen Einzelfall hinaus ist prinzipiell Misstrauen angezeigt, wenn der intellektuelle Ertrag von Sterbefilmen zu der Entwarnung verwässert wird "dass das Leben weiter geht". Zum einen verleugnen solche Muntermacher-Slogans die Aufsässigkeit der getroffenen Entscheidungen: sich die letzte Lebensphase nicht von Chemotherapie, Bestrahlungen oder Operationen vergiften zu lassen; zuhause sterben, im Kreis der Familie oder von Freunden, mit ausreichend Morphium und unverstelltem Blick aufs Grüne oder auf den Himmel, zu einem so weit wie möglich selbstbestimmten Zeitpunkt - alles nach wie vor nicht selbstverständlich. Zum anderen sind sie geeignet, die beunruhigenden Visionen der letzten Einstellungen konformistisch aufzufangen, obschon klar sein dürfte, dass das Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen niemals einfach so "weiter geht", sondern mit Sicherheit anders. Denn die geöffneten Fenster am Ende signalisieren ein ums andere Mal - falls nicht ohnehin im Freien gestorben wird -, dass das vergangene Leben eingesperrt gewesen ist. Nicht, wie es die christlich-platonische Tradition predigte, in einem Körper, sondern im psychosozialen Gefängnis, einem Korsett aus Kleinmut, Vorschriften, Konventionen, Kompromissen, die mehr Optionen verhindert als ermöglicht haben. Der ultimative Ernstfall, das ist die entscheidende Botschaft, macht alle verinnerlichten Standards von Lebensqualität vergessen. Für die Ars vivendi der Überlebenden heißt das: Warum ihn nicht antizipieren? Was hindert uns daran, schon vorher, bevor es zu spät ist, so zu leben als ob?

Diese Frage könnten Kinogänger leichter beantworten, hätten die thematisch relevanten Filme Musils ironische Verwunderung darüber beherzigt, dass der Tod dramaturgisch immer ans Ende gesetzt wird - praktischerweise, möchte man ergänzen, weil sich so am einfachsten eine Geschichte zum Abschluss bringen lässt. Obwohl andererseits solch ein Ereignis das Fortleben aller anderen Beteiligten derart tiefgreifend verändert, dass eine Platzierung an den Anfang oder mitten im Verlauf einer Parallelgeschichte ungleich mehr Gestaltungsspielraum bieten würde. Und immerhin hat diese Konstellation schon einige beeindruckende Filme inspiriert, von Nanni Morettis "La stanza del figlio" (2001) über Michael Kliers "Farland" (2004) bis zu "Der letzte schöne Tag" (2011) von Johannes Fabrick (Regie) und Dorothee Schön (Drehbuch). In allen drei Fällen waren die Protagonisten jedoch vollauf damit beschäftigt, das Trauma des Verlusts geliebter Menschen zu verarbeiten. Für den Neustart in ein anderes Leben war weder Kraft noch Raum. Nach wie vor fehlt es an Versuchen, diesen letzten Blick der Sterbenden aufs Unendliche in einen ersten Blick der Hinterbliebenen für das potenziell wieder Offene in ihrem verplanten Leben zu verwandeln.

Vielleicht ist es unfair, von der Filmästhetik die Lösung eines Problems zu erwarten, an dem die Philosophie seit Epikur arbeitet. Die Frage nach den eigentümlich trägen Reaktionen auf die Inzitamente von - realen oder virtuellen - Sterblichkeitserfahrungen, nach dem offenkundigen Überhören der davon ausgehenden Appelle, nicht erst bis zum letzten Augenblick zu warten, um das Fenster zu einem anderen Leben zu öffnen - ein Unwille oder eine Trägheit, die man stellvertretend an der offiziellen Rezeption der Sterbefilme beobachten kann -: diese Frage ist von dem Dilemma nicht zu trennen, dass der Mensch zwar um seinen Tod weiß, aber nicht daran glauben kann. Ernst Jünger - der mehrfach lebensgefährlich Verletzte - nannte dies einen "guten Instinkt" und Hans Blumenberg konzedierte dieser "gnädigen Unfähigkeit" eine durchaus ontologische Würde zu, die man nicht vorschnell wie Heidegger als "Uneigentlichkeit" abwerten dürfe. Denn "sie hat mit dem Wesen des Bewusstseins selbst zu tun, sich nur unter Entzug seines Anfangs wie seines Endes in einer perspektivischen Unendlichkeit begreifen zu können, da jeder seiner Inhalte andere voraussetzt wie andere nach sich zieht."18

Sigmund Freud hatte etwas Ähnliches im Sinn, als er sagte, "im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt." Er fügte allerdings hinzu, dass die Unvorstellbarkeit des eigenen Nichtseins damit zusammenhängen könne, "dass wir dem Tod gegenüber nie die Position des Zuschauers verlassen."19

Dass sich mit der Verschiebung der Wahrnehmung (und der mit ihnen verbundenen Ängste) vom Tod auf das Sterben etwas an dieser konstitutionellen Blindheit zu ändern beginnt, und dass der Film maßgeblichen Anteil an diesem Paradigmenwechsel haben kann, an dessen Ende mindestens die Verringerung der Kluft zwischen dem Wissen vom eigenen Tod und dem Glauben daran - mit noch unabsehbaren Folgen für die Praxis und die Politik des Sterbens - stehen wird, war eine der Prämissen dieses unvollständigen Überblicks. Einer, der im Wissen um seinen baldigen Tod sein Sterben festgehalten und mit diesem Videotagebuch die von Freud beklagte frontal-distanzierte Zuschauerposition zu irritieren begonnen hat, ist Ulrich Schamoni gewesen. An Leukämie erkrankt, hat er die letzten anderthalb Jahre seines Lebens 1997-98 mit digitaler Kamera protokolliert, 190 Stunden Material, das von seiner Tochter Ulrike bearbeitet, mit Ausschnitten aus seinen früheren Filmen angereichert und 2012 unter dem Titel "Abschied von den Fröschen" auf DVD herausgegeben wurde. Unter völligem Verzicht auf narrative Kohärenz oder dramatische Verdichtung - und schon aus Gründen der Diskretion auf Schlüssellochansichten der Agonie - pendelt der notorische Bonvivant im Rhythmus der Schübe und Jahreszeiten zwischen Haus und Garten, philosophiert über die unscheinbaren Phänomene des Alltags und tut ansonsten nichts als - warten. Und am Ende ist er weg. Für immer.

Kann man einen modus vivendi in Erwartung des (medizinisch angekündigten) Todes entwickeln? Schamonis unaufgeregte Antwort: indem man jeden Tag aufs neue als noch Lebender freudig, neugierig begrüßt. Nicht im Bewusstsein, dass er der letzte sein könnte, sondern dass er einer der wenigen verbliebenen ist. Und dass die Vorstellung, dass es danach genauso weiter gehen wird, mindestens mit den Jahreszeiten, auch etwas Tröstliches an sich hat. Mit den Versen des sterbenden Brecht hätte auch er sagen können, dass es ihm gelungen sei, "mich zu freuen / Alles Amselgesanges nach mir auch".20 Man muss nicht (wie rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung) an Reinkarnation glauben 21 und/oder Kinder in die Welt setzen, um sich als Teil eines vor der Geburt präexistenten und nach dem Tod fortwährenden Kontinuums zu begreifen. Das ist Schamonis Ehrenrettung des Carpe diem vor seiner postmodern zur Torschlusspanik hysterisierten Vulgärversion: den gerade gelebten, vielleicht letzten Tag als solchen zu begreifen - und nicht als letzte Gelegenheit für ein Schnäppchen aus der unerschöpflichen Desideratenliste. Sein Abschiedsgeschenk ist ein heiter-lässiges, verhalten-trauriges Exerzitium gegen die Überforderung der Lebensbejahung durch das ökonomistische Diktat, die knapp bemessene Zeit so effizient wie irgend möglich zu nutzen.


"Ich werde versuchen, nicht zu früh zu sterben".
Marguerite Duras

Dem Begriff der Sterbepädagogik hatte vor rund einem Jahrzehnt der Historiker Wolfgang Schivelbusch mit ironischer Nonchalance zu einem medialen Strohfeuer verholfen. Seine solitäre Stimme sei ausführlich wiedergegeben: "Die vor 20 Jahren begonnene und jetzt erneuerte Diskussion über eine langfristig angelegte Sterbepädagogik nach dem Modell der Sexualerziehung wird sich über lang oder kurz zu Lehrplänen verdichten. Es wird gelehrt werden, dass der Tod zum Leben gehört wie das Ende zum Anfang. Dass er natürlich ist und nicht grauenhaft. .. Die Sterbepille als die letzte Schlaftablette würde am Ende eines Lehrplans der Sterbepädagogik stehen, und das nicht im Sinne zynischen Galgenhumors, sondern mit dem ganzen Ernst der zweitausendjährigen abendländischen Tradition des Sterbens."22 Man kann sich leicht den Aufstand der Bedenkenträger gegen soviel Chuzpe vorstellen. Trotzdem wird die manifestartig auspizierte Zukunft kommen, "über lang oder kurz", zumal heute schon die Diskrepanz zwischen offenen Informationsquellen23 und steigender Laienkompetenz auf der einen Seite und dem durchgängig verwehrten Zugang zu den entsprechenden (Schmerz- und Sterbe-) Mitteln auf der anderen niemandem mehr zu erklären ist. Die Hoffnung richtet sich vorerst darauf, dass das Internet mehr rechtsfreie Räume erschließt, als irgendeine nationale oder transnationale Gesetzgebung durch neue Reglementierungen wird verriegeln können.

So disparat die Ansätze einer Bildung oder Erziehung zum adäquaten Umgang mit unserer Sterblichkeit sind, unterscheiden kann man sie danach, ob sie die Ars moriendi als Technik oder als Kunst interpretieren und wie sie diese in eine umfassendere Ars vivendi integrieren. Jean-Pierre Wils schlägt zwar vor, besser von "Techniken des Sterbens" als von einer Kunst zu sprechen, die heutzutage ästhetische (und unangebrachte) Assoziationen ins Spiel bringt und überdies die Verzweiflung und Mühe des Sterbens unterschlägt. Er unterscheidet Techniken des Verstehens, der Erinnerung, des Trostes und des Helfens und betont, dass sie als Teil einer lebenslänglichen Körperkultur betrachtet werden müssten, die umso besser gelingt, je mehr man es schafft, Freundschaft mit dem eigenen Körper zu schließen - was allerdings nach wie vor schichten-, bildungs-, berufs- und einkommensabhängig sei (op. cit., S.15). Die Rede von einer "Kunst des Sterbens" scheint mir trotzdem überall dort angebracht, wo dieses Unterfangen auf etwas Unmögliches bezogen bleibt, auf ein Moment des nicht Erlernbaren daran. Das ist auch Wils bewusst, wenn er auf Empathie als Voraussetzung für sterbensnahen Trost setzt, der ohne die "spirituelle Anästhesie" religiöser Heilsbotschaften auskommen muss; die von mir entlang filmischer Gestaltungen des Themas skizzierte Strategie der Entängstigung wäre demgegenüber eine sterbensferne (lebensbegleitende) Vorbereitung auf den Ernstfall. Der von Schivelbusch reklamierte didaktische Anspruch wiederum resultiert aus der Paradoxie, dass nur wer früh anfängt, sich die erforderlichen Kompetenzen im Umgang mit seiner Endlichkeit anzueignen, eine Chance hat, das letzte Drittel seines Lebens nicht zum Objekt des medizinischen Vorsorge-, Kontroll- und Reparaturbetriebs zu verkommen.

Sterbepädagogik fängt in der Schule an: mit Erste-Hilfe-Kursen für Kinder wie sie an norwegischen Schulen bereits praktiziert werden - Reanimationsübungen als Vorschule für Totentänze; mit gastrosophischen Einführungen in Kochen und Geschmackskunde, aber auch in die Stoffwechselphysiologie als Basis alltäglicher Vergänglichkeitserfahrung und zugänglichste Einführung in die Medizin; mit Achtsamkeitstraining für die Signale des Körpers, um eine physische, aber auch moralische Intuition für seine Verletzlichkeit zu entwickeln: indirekt ein Beginn, sich mit dem Teil der eigenen Identität anzufreunden, der in Krankheit und Alter bedrohlich auffällig wird, für Jugendliche ein flankierender Ansatz zur Gewaltprävention. Dass man schon in der Schule auch das Reden und Schreiben über Krankheits- und Todesfälle in der Familie üben; mit dem Sterben assoziierte Orte besuchen (Krankenhäuser, Pflegeheime, Hospize, Friedhöfe) und anschließend zum freiwilligen Jahr Altenheimen, Pflegeheimen, Hospizen und Palliativstationen ermuntern soll - versteht sich von selbst und geschieht auch schon in begrenztem Maße.

Für die wachsende Beschäftigung mit dem bis vor zwei Jahrzehnten peinlich gemiedenen (und konfessionell besetzten) Thema zeugt die zunehmende Frequenz öffentlicher Debatten nicht weniger als die große Resonanz einschlägiger Filme, Erzählungen und Romane, zuletzt des schonungslosen und doch subtil instrumentierten Berichts Emmanuèle Bernheims über das letzte Jahr mit ihrem Vater und seinem Wunsch, ihm nach einem schweren Schlaganfall beim Sterben zu helfen24; die Faszination für die Plastinate der "Körperwelten"-Ausstellungen25 nicht weniger als die Popularität von Reinkarnationsmythen oder die futuristischen Fantasien der Transhumanisten, als digitale Versionen ihrer Gehirne (Avatare) im Netz Unsterblichkeit zu erlangen. Und zweifellos hat die massenmediale Spektakularisierung der unsäglichen, über Jahrzehnte hindurch ausgetragenen Kämpfe um die Sterbeerlaubnis für querschnittsgelähmte oder im Wachkoma befindliche Patienten (Ramon Sampedro, Piergiorgio Welby, Terri Schiavo, Eluana Englaro) die Öffentlichkeit nachhaltig aufgerüttelt. Ob auf diese Weise der Druck auf die Politik gestiegen ist, sich endlich auf die Suche nach "Regulierungen, die es erlauben, diesen neuen Zonen zwischen Leben und Tod gerecht zu werden"26 zu begeben, ist zumindest fraglich, wenn man bedenkt, welch gegenteiligen und verheerenden Einfluss Woytilas obszöne Zurschaustellung des eigenen Verfalls im Dienste der christlichen Sache gehabt hat.

Mit der Verlangsamung des Alters und des Sterbens, auch darauf hat Wils hingewiesen, wachsen die Chancen, die damit einhergehenden und buchstäblich unheimlichen Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung zum Ausgangspunkt literarischer Produktion zu nehmen. Die Tradition der Todesdarstellungen, die vor allem von der "Nichtdarstellbarkeit des Endes als stärkste Herausforderung an die ästhetische Vernunft"27 zeugt, wird, so scheint es, zusehends abgelöst von präzisen Notaten der sich verselbständigenden Desintegrationsprozesse, die einen sekundär gewordenen Formwillen durch die Authentizitätsemphase des Sterbetagebuchs ersetzen.28 Der Dichter arbeitet jetzt nicht mehr an der Umwandlung des schlechten, opaken Todes - "jenem, dem die Brutalität eines Ereignisses und eines Zufalls zukommt" - in einen "transparenten, reinen", allerdings dann auch "unpersönlichen" Tod29 sondern er versucht, dem Verschwinden seines Ichs in den Sog einer unpersönlichen Übermacht protokollarisch auf der Spur zu bleiben.

Umso höher ist die "therapeutische Wirkung der Erzählung" solcher Texte zu veranschlagen, die Wils - einem Ansatz Paul Ricoeurs folgend - rekonstruiert (op. cit. S. 62-72). Fragt sich allerdings für wen. Wenn man Wils darin zustimmt, dass die letzte Lebensphase ganz im Zeichen einer passivistischen Einstimmung auf das Ende steht - das ist seine realistische Korrektur überspannter Autonomieansprüche -; und dass autobiografische Erzählungen vom eigenen Sterben (oder dem Nahestehender) "die Verinnerlichung der Endlichkeit" (S. 212) in der Regel mit aufwühlender Untröstlichkeit betreiben, dann ist eine literarisch orientierte Sterbepädagogik sowohl energetisch als auch inhaltlich sicher nichts für Moribunde oder auch nur Hochbetagte. Eher empfehlen sich solche Texte für Übungskräftige in den besten Jahren, für die Trauerarbeit von Hinterbliebenen oder generell zum Verständnis von Leid und Schmerz. Entsprechend plädiert Wils mit Brodkey dafür, sich möglichst frühzeitig darin zu "schulen", "dass es aufhört."

Für den Appell, den jede Vorstellung übersteigenden Gedanken beizeiten einzuüben, dass es einmal aufhören wird; dass dieses Ich, dass dies denkt, aufgehört haben wird zu sein, hat Rainer Maria Rilke in den "Sonetten an Orpheus" zwei unsterbliche Verse gefunden, die nichts von ihrer Schönheit verlieren, wenn man sie noch so oft zitiert:

"Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht."

Weniger bekannt ist der kongeniale Kommentar, den Maurice Blanchot zur Figur des Todes und des Sterbens bei Rilke (der übrigens schon tödlich an Leukämie erkrankt war, als er die "Sonette" und die "Duineser Elegien" schrieb) verfasst hat und der weit über diesen Anlass hinaus jedes Denken und Schreiben im Schatten von Endlichkeitserfahrungen erleuchtet. Nur zwei Sätze daraus: "Leben bedeutet immer bereits seinen Abschied zu nehmen, verabschiedet zu sein und das, was ist, zu verabschieden. Doch wir können dieser Trennung zuvorkommen und aus ihr, indem wir sie betrachten, als läge sie hinter uns, den Moment machen, an dem wir, von jetzt an, den Abgrund berühren..."30

Daniele Dell"Agli


Dieser Text setzt den Essay "Aufruhr im Zwischenreich" (Teil1, Teil 2, Teil 3, Teil 4) fort. D.Red.

1 Diesen schönen, vielsagenden Begriff hat Roland Barthes aus den Klauen der monastischen Tradition befreit und wieder zugänglich gemacht In: "Wie zusammen leben", Frankfurt/M 2007, S. 92.
2 Vgl. Georges Bataille, "Oeuvres Complètes V", "Somme Athéologique", S. 483; Jean-Luc Nancy, "La communauté desoeuvrée" 1983 (dt. 1988) und "La communauté affrontée", 2001 (dt. 2007); Maurice Blanchot, "La communauté inavouable", 1983 (dt. 2007); Giorgio Agamben, "La comunità che viene", 2001 (dt. 2003); Roberto Esposito, "Communitas. ""Origine e destino della comunità", 1998 (dt. 2004), sowie die einschlägigen Schriften über Freundschaft von Deleuze, Foucault, Derrida, Stiegler... Einen Zwischenstand dokumentiert der von Joseph Vogl herausgegebene Band "Gemeinschaften". "Positionen zu einer Philosophie des Politischen". Frankfurt/M 1994.


3 Emanuel Lévinas, "Die Zeit und der Andere", Hamburg 1984; "Gott, der Tod und die Zeit", Wien 1996. Mit Lévinas Anverwandlung von Heideggers Thanatologie setzt sich Byung-Chul Han akribisch auseinander in "Tod und Alterität", München 2002 und "Todesarten", München 1998.


4 "Philosophieren heißt Sterben lernen".


5 Noch einmal Giorgio Agamben: "Mittel ohne Zweck", op.cit. S. 13; "Ausnahmezustand", op.cit. S. 77.


6 Der Zufall will es - wenn es denn Zufall war - dass der ebenfalls in Kanada beheimatete Dokumentarfilmer Allan King zur gleichen Zeit eine Reportage im Stile des Direct Cinema über den Tod auf einer Palliativstation in Toronto herausbrachte: "Dying at Grace" (2003). Man muss diese sachlich protokollierte Realität neben der Inszenierung Arcands halten, um das Visionäre seiner doch so selbstverständlich anmutenden Botschaften ganz zu ermessen.


7 Jean-Pierre Wils, "Ars moriendi": "Über das Verhältnis von Weltanschauung, Recht und Moral". In: Schäfer, Frewer, Müller-Busch (Hrsg.), "Perspektiven zum Sterben", op.cit. S. 39.


8 Einen ähnlichen Verdrängungsmechanismus hat Thomas Macho im Blick, wenn er schreibt: "Gegen Mörder kann man sich schützen, gegen ein dunkles und fremdes Verhängnis nicht. Die Deutung des Todes als Mord verdrängt Schlimmeres: unsere Erfahrungslosigkeit und unser radikales Unverständnis angesichts der Leiche." In: Todesmetaphern, Frankfurt/M 1987, S.. 50.


9 Einschränkend muss allerdings betont werden, dass diese Dramaturgie auch deshalb funktioniert, weil sie sich zum einen auf die Spielzeit von einem Dutzend Folgen entfalten und zum anderen die "jahrelange" Vertrautheit mit den Hauptfiguren in den vorausgehenden Staffeln voraussetzen kann. Explizit wird Sterbehilfe (passive, indirekte, Patientenverfügung) in "ER" ständig thematisiert, insbesondere im Konflikt mit Ärzten oder Angehörigen, die partout nicht loslassen wollen. Z.B. in den Staffeln 5/11-14; 6/2, 8/5; 9/1; 12/13, 14/6.


100 Halbherzig und unschlüssig erscheint hingegen die Verquickung der Sterbehilfedienste einer jungen Krankenschwester mit ihrem verkorksten Privatleben in "Rendez-vous mit einem Engel "von Yves Thomas und Sophie de Daruvar (2009). Obwohl "Miele" in der Sektion "Un certain régard" von Cannes für einiges Aufsehen sorgte, kam er nicht in die deutschen Kinos.


11 "Mein Leben ohne mich", 2003 von Isabelle Coixet; "Die Zeit die bleibt", 2005 von Francois Ozon; "One Week", 2010 von Michael McGowan.


12 Interview im Deutschlandfunk am 15.11.2011.


13 Trotz der großen stilistischen Kohärenz der Folgen untereinander haben an Drehbuch und Regie eine Reihe von Autoren mitgewirkt, stellvertretend seien Jack Orman, John Wells, Jonathan Kaplan und David Zabel genannt.


14 Wils, Ars Moriendi, op.cit. S.35.


15 Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden. Frankfurt/M 1982, S. 99. Eine Aufgabe, der sich Susan Sontag im Sinn des Nietzsche-Zitats mutatis mutandis, mit Bezug auf imaginär hoch besezte Krankheiten wie Krebs, Tuberkolose oder Aids in zwei ihrer Bücher gewidmet hat - "Krankheit als Metapher" (1978) und "Aids und seine Metaphern" (1989).


16 1997 grenzdebil, wie bei einer Tarantinade nicht anders zu erwarten in "Knockin" On Heavens Door" von Thomas Jahn und 2007 mit Blockbuster-Klamauk in "Das Beste kommt zum Schluß" von Rob Reiner.


17 Manlio Sgalambro, Vom Tod der Sonne. München 1988.


18 Hans Blumenberg, "Ein Instinkt der Uneigentlichkeit?" In: "Die Verführbarkeit des Philosophen". Frankfurt/M 2000.


19 Sigmund Freud, "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915).


20 "Als ich im weißen Krankenzimmer der Charité" (August 1956).


21 Vgl. Hubert Knoblauch, "Populäre Religion". Frankfurt/M 2009. Die Beliebtheit von Reinkarnationsvorstellungen quer durch religiöse oder weltanschauliche Bindungen erklärt vielleicht auch den erstaunlichen Erfolg des Buches von Tiziano Terzani, "Das Ende ist mein Anfang" (2007) und seine Verfilmung durch Joe Baier (2010), in der Bruno Ganz sich gravitätisch (und wie immer vor der Kamera overacting) bemüht, der papiernen Ansammlung erbauungsphilosophischer Fernost-Platitüden Plastizität zu verleihen.


22 Wolfgang Schivelbusch, "Das süsse Sterben". Süddeutsche Zeitung vom 15. Oktober 2003. Als Referenz zur angedeuteten Vorgeschichte der Diskussion und im Umkehrschluss zum unveränderten Stand der Dinge nach dreißig Jahren ist der Beitrag von Reimer Gronemeyer aufschlussreich:" Orthothanasie - Vorschläge für einen therapeutisch gesicherten Abgang aus dem Leben". In: Götz Eisenberg, Marianne Gronemeyer (Hrsg.): "Der Tod im Leben. Lesebuch zu einem "verbotenen" Thema". Giessen 1985.


23 Das zuverlässigste Euthanasie-Brevier bietet die von Piet Admiraal für die niederländische Stiftung WOZZ herausgegebene Materialsammlung "Wege zu einem humanen, selbstbestimmten Sterben", Amsterdam 2008. Die deutschsprachige Ausgabe, die keinen deutschen Verleger finden durfte - oder hat sich bloß keiner getraut? - ist leider vergriffen und nur gelegentlich im Internet, ansonsten über den Fernleihdienst öffentlicher Bibliotheken zu bekommen.


24 Emmanuèle Bernheim, "Alles ist gut gegangen". Berlin 2014.


25 Vgl. die Analyse dieses Phänomens bei Matthias Kamann, "Todeskämpfe", op.cit. S. 29-33. 

26 Anna Durnova und Herbert Gottweis, "Politik zwischen Tod und Leben". In: Martin G. Weiß (Hg.): "Bios und Zoe". "Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit". Frankfurt/M 2009, S. 279. Die Autoren erkennen in der "Intimisierung" der Biopolitik durch die Massenmedien ein exemplarisches "Konfliktfeld" vor dem Hintergrund der von Agamben ausgelösten Debatte um die Neubestimmung der Schwellenbereiche zwischen Leben und Tod. Zur Relativierung ihres Optimismus hinsichtlich der Macht öffentlicher Skandalisierung empfiehlt sich der Bericht von Elisabeth von Thadden "Komm, schöner Tod" in der Zeit 51/2013 (http://www.zeit.de/2013/51/sterbehilfe-debatte-frankreich/komplettansicht?print=true).


27 Christiaan L. Hart Nibbrig, "Ästhetik der letzten Dinge" (Frankfurt/M 1989), S.9 - eine thanatohermeneutische tour de force durch Werke der Kunst, Literatur und Musik.
28 Von Peter Noll ("Diktate über Sterben und Tod", 1984) über Harold Brodkey ("Die Geschichte meines Todes", 1996) bis hin zu Peter Nadas ("Der eigene Tod", 2002) Christopher Hitchens "Endlich. Mein Sterben") oder Wolfgang Herrndorf ("Arbeit und Struktur", 2013).
29 Maurice Blanchot, "Rilke und die Anforderung des Todes". In: "Der literarische Raum", Zürich 2012. Warum die ansonsten sehr umsichtig operierenden Übersetzer (Marco Gutjahr und Jonas Hock) ausgerechnet beim Titel zum Amtsdeutsch der "Anforderung" greifen, ist mir rätselhaft. Das französische Original exigence heißt im Deutschen schlicht und vieldeutig "Anspruch". Byung-Chul Han wiederum entwickelt in seinen "Todearten" (München, 1998) eine genealogisch weitverzweigte Nemologie - ohne mit einem Wort auf den Großmeister des Unpersönlichen - Blanchot - einzugehen.
30 Maurice Blanchot, op.cit. S. 143.