Post aus Istanbul

Regenbogen überm Taksimplatz

Von Constanze Letsch
30.08.2007. Verboten war Homosexualität dank des Code Napoleon in der Türkei nie. Trotzdem erfahren Schwule und Lesben tagtäglich massive Vorurteile und Gewalt. Nun fordern sie eine Verfassung für alle, die ihre Diskriminierung explizit untersagt.
Schon vor der Wahl vom 22. Juli 2007 hatte Premierminster Recep Tayyip Erdogan versprochen, im Falle der Wiederwahl endlich die 1982 von den Putschgenerälen entworfene Militärverfassung durch eine neue demokratische, zivile Verfassung zu ersetzen. Während die Verhandlungen zu einem Verfassungsentwurf andauern, melden sich auch Menschenrechtsorganisationen, Intellektuelle, Akademiker und Journalisten zu Wort, und fordern eine "Verfassung für alle". Die LGBTs (Lesben, Gays, Bi-und Transsexuellen) erwarten von der neuen Verfassung den Artikel, der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gesetzlich verbietet und den es bis jetzt in der Türkei nicht gibt.

Anders als in Ländern wie England oder Deutschland war Homosexualität in der Türkei nie verboten. Als nach Gründung der Republik der Code Napoleon, in dem gleichgeschlechtliche Liebe kein Straftatbestand ist, als Zivilgesetzbuch übernommen wurde, galt gleiches auch für die Türkei. Doch obwohl Homosexualität in der Türkei als einem der wenigen islamischen Länder legal ist, sehen sich Homo-, Bi- und Transsexuelle im im täglichen Leben immer noch mit massiver Diskriminierung, Vorurteilen und Gewalt konfrontiert. Die Stimmen, die darauf aufmerksam machen wollen, werden lauter. Dabei hoffen LGBT-Aktivisten und Aktivistinnen vor allem auf den Reformprozess im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen. Wenn die Türkei mitspielen will, sagen sie, muss sie sich an alle Regeln halten.

Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam im Jahr 1997 hat die EU das Recht und die Pflicht, gegen jede Art der Diskriminierung vorzugehen. Artikel 13 des EG-Vertrages und Artikel 21 der EU-Grundrechtecharta verbieten jede Form der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Nachdem in den letzten Jahren in europäischen Ländern ein dramatischer Anstieg an Homophobie verzeichnet wurde, wurden zu deren Bekämpfung mehrere Resolutionen erlassen. In einem am 18. Januar 2006 veröffentlichten Beschluss fordert das EU-Parlament die Mitgliedstaaten auf, "sicher zu stellen, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle vor Aufhetzung und Gewalt geschützt sind, und zu gewährleisten, dass gleichgeschlechtlichen Partnern derselbe Respekt, dieselbe Achtung und derselbe Schutz zuteil wird, wie den übrigen Bürgern der Gesellschaft".

Bis jetzt hatte sich Premierminister Erdogan mit allzu schwammigen Worten zu diesem Punkt der Reformen geäußert. Auch für "diese Leute" werde man rechtliche Wege finden. Mit den Ausflüchten der Regierung gibt man sich in der Türkei jedoch schon lange nicht mehr zufrieden. Seit Beginn der Neunziger Jahre wurden zahlreiche LGBT-Vereine gegründet, der erste große, KAOS GL Ankara, gibt seit 1994 ein landesweites Monatsmagazin heraus. In der türkischen LGBT-Bewegung geht es zuerst um Sichtbarkeit.

Als 2001 KAOS GL Ankara zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei im Zuge der 1.-Mai-Demonstration in der türkischen Hauptstadt eine eigene Abteilung für LGBTs auf die Beine stellte, war das Medienecho beträchtlich. 2003 organisierte Lambda Istanbul die erste Gay Pride Woche, es gab die erste Gay Pride Parade der Türkei, an der damals zwischen 60 und 70 Leuten teilnahmen. Es war das erste Mal, dass LGBTs in der Türkei allein und nur für sich selbst eine Demonstration organisierten.

Lambda Istanbul ist ein Kind des trotzigen Widerstands. Der LGBT-Verein wurde 1993 gegründet, kurz nachdem der Gouverneur der Stadt die Christopher Street Day Sexual Liberation Activities kurzfristig verboten hatte. Heute ist der Verein, neben KAOS GL Ankara, die wichtigste und aktivste Plattform im Kampf um die Rechte der LGBTs in der Türkei. Am 14. August erst ist der Verein in ein größeres Lokal umgezogen, jeden Tag ist es geöffnet, neben den regulären juristischen, psychologischen, medizinischen und sonstigen Beratungen finden Kinoabende, Diskussionsrunden und Vorträge statt.

Der Verein ist der Stadtverwaltung jedoch immer noch ein Dorn im Auge. Am 18.7.2006 hatte der Gouverneur von Istanbul einen Schließungsprozess angestrengt, mit der Begründung, der Verein sei weder mit der "allgemeinen Moral", noch mit "türkischen familiären Werten" vereinbar. Dabei bezog man sich auf Art. 56 des Türkischen Zivilrechts, der die Gründung von unmoralischen und illegal tätigen Vereinen verbietet. Und weil diese Begründung schon bei den LGBT-Vereinen in Bursa und Ankara nichts gefruchtet hatte, fügte man empört hinzu, der Vereinsname "Lambda" sei nicht türkisch genug. Der Staatsanwalt hatte die Klage jedoch abgewiesen. Nicht zufrieden mit dem Ergebnis, übergab man den Fall dem Strafgericht Istanbul, das das Verfahren am 19. Juli auf den 18.Oktober 2007 vertagte. "Gäbe es den Zusatz sexueller Orientierung schon jetzt im Anti-Diskriminierungsgesetz, hätte der Staatsanwalt das Verfahren gar nicht erst annehmen müssen", meint Özgür Azad, der seit 2000 aktiv bei Lambda Istanbul dabei ist.

Auch die schwammigen Regelungen zur Moral und Unmoral will man in der neuen Verfassung klarer geregelt wissen. "Nirgends gibt es eine verbindliche Definition von dem, was 'unmoralisch' sein soll. Das führt dazu, dass jeder Richter und jeder Staatsanwalt nach Belieben mit diesem Begriff verfahren kann", kritisiert er. In den Presseerklärungen von Lambda Istanbul wird gefragt, ob es denn unmoralisch sei, sich zu versammeln und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Auch das Versammlungsrecht und das Recht, Vereine und Gewerkschaften zu gründen, war mit der Junta-Verfassung von 1982 stark eingeschränkt worden.

Belgin Çelik, die als juristische Beraterin bei Lambda arbeitet, setzt ihre Hoffnungen auf die neue Verfassung. "Die LGBTs in der Türkei müssen diese offizielle Absicherung, und die Möglichkeit, gerichtlich gegen Diskriminierung vorzugehen, endlich zugesichert bekommen. Das wäre ein erster, demokratischer Schritt gegen die Homo- und Transphobie hier." Beinahe wäre es schon 2004 so weit gewesen, als unter der AKP-Regierung aufgrund der EU-Beitrittsverhandlungen massive juristische Reformen angestrengt wurden. Am 7. Mai 2004 wurde die Verfassung zum neunten Mal geändert, der Gleichberechtigungssatz wurde zu Artikel 10, der die Gleichheit vor dem Gesetz regelt, hinzugefügt. Auch das Türkische Strafgesetz (TCK) sollte geändert, zum ersten Mal sollte ein Anti-Diskriminierungsgesetz hinzugefügt werden. Verschiedene zivile Gruppen und Organisationen schlossen sich zu Plattformen zusammen, um ihre Forderungen zu einem neuen Strafgesetz im Parlament zu präsentieren. In erster Linie ging es dabei um Frauenrechte, doch auch die Klausel der "sexuellen Orientierung" spielte eine entscheidende Rolle.

Während andere Änderungsvorschläge in den Medien debattiert wurden, erhielt die sexuelle Orientierung nur geringe Aufmerksamkeit. Konservative Medien und Politiker beschuldigten die Regierungspartei AKP außerdem, zwar Homosexuelle schützen zu wollen, aber nicht gläubige Moslems, da sie es nicht schafften, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben. Die Justizkommission nahm den Vorschlag der LGBT-Aktivisten und Aktivistinnen an und fügte dem ersten Entwurf des neuen Strafgesetzes die "sexuelle Orientierung" hinzu. Kurz vor der Veröffentlichung des neuen TCK am 1. Juni 2005 wurde dieser Zusatz von dem damaligen Justizminister Cemil Cicek jedoch wieder entfernt. Der Minister begründete seine Entscheidung damit, dass die Klausel gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (cinsiyet) auch die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung (cinsel yönelim) abdecken würde. Damit sei die einzeln aufgeführte cinsel yönelim unnötig und überflüssig.

"LGBTs werden nicht benachteiligt, weil sie Männer oder Frauen sind, sondern weil sie homo-, bi- oder transsexuell sind", erläutert Belgin Cicek die konservativ-diktatorielle Entscheidung des Justizministers. "Damit hat Cicek die Diskrimierung von LGBTs quasi offiziell legalisiert", kritisiert Özgür Azad.

Ülkü Özakin schreibt auf der Lambda Webseite, dass er nicht verstehen kann, wie in einem Land, in dem Homosexuelle in manchen Restaurants nicht bedient, auf der Straße angegriffen und verprügelt werden, die Unterscheidung zwischen Geschlecht und sexueller Orientierung als "unnötig" angesehen werden kann.

"Homophobie hat natürlich auch in der Türkei viele Gründe", sagt Özgür Azad, "aber noch vor der Religion sind da alte patriarchalische Strukturen und Traditionen wichtig. Und wenn man sich die Ausschreitungen in den USA, in Russland oder in Lettland ansieht, wird doch klar, dass der Islam keine ausreichende Erklärung ist." Homo-und Transphobie sickern in der Türkei durch alle Ebenen des Systems und der Gesellschaft. "In der Vergangenheit ist es auch oft vorgekommen, dass bei Morden an Homosexuellen Straferlasse gewährleistet wurden, wenn sich die Täter damit verteidigten, von den Opfern sexuell belästigt worden zu sein", erzählt Özgür Azad. "Eine andere Bastion des Heterosexismus ist die türkische Armee. Die meisten Anrufe, die wir von homosexuellen Männern bekommen, haben mit Fragen und Problemen zu tun, die das Militär betreffen." In der Türkei muss jeder Mann ab 20 für bis zu 15 Monate zum Militär, eine Möglichkeit zur Verweigerung gibt es nicht.

Das türkische Militär bezieht sich, als einzige Armee der NATO, immer noch auf das vom Amerikanischen Psychatrieverband (APA) herausgebene DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) II, das Homosexualität als Perversion und fortgeschrittene psychosexuelle Störung aufführt. Der internationale Standard ist jedoch bereits seit 1994 DSM IV, das Homosexualität nicht als Krankheit definiert, der APA hatte Homosexualität 1973 von seiner Liste mentaler Krankheiten entfernt.
Daraus folgt, dass homosexuelle Männer als dienstuntauglich ausgemustert werden, sie erhalten einen "çürük raporu", den Bericht, der sie vom Wehrdienst ausschließt. "Çürük" heißt soviel wie "verdorben, schlecht, vergammelt."

Homosexuelle Männer, die den Militärdienst nicht ableisten möchten, müssen sich um diesen abgestempelten Beweis ihrer Nicht-Männlichkeit bewerben. Die Prozedur variiert von Musterungsstelle zu Musterungsstelle. Oft ist es so, dass der zuständige Psychiater Fotos oder Videoaufnahmen des Bewerbers beim passiven Analverkehr einfordert, noch öfter sind Analuntersuchungen die Regel, anhand derer festgestellt werden soll, ob jemand wirklich "çürük", wirklich homosexuell ist. "Es ist vor allem eine Möglichkeit, Homosexuelle bloßzustellen und zu erniedrigen", sagt Azad. "Es muß schließlich auch den zuständigen Ärzten dort klar sein, dass die Untersuchungen und die Annahme, alle homosexuellen Männer hätten Analverkehr, absurd sind." Laut der allgemeinen Definition, die wohl auch in der Armee gilt, ist nur homosexuell, wer dabei die passive Rolle übernimmt. "Wird man beim Militär beim Verkehr erwischt, fliegt der passive Partner aus der Armee, während der andere lediglich eine Strafe erhält."

Die Entscheidung, sich aufgrund von Homosexualität vom Wehrdienst befreien zu lassen, ist aber nicht nur wegen der Untersuchungen im Vorfeld nicht einfach. In der Türkei hat der Wehrdienst einen sehr hohen sozialen Stellenwert. Jemand, der ihn nicht abgeleistet hat, findet schwerer Arbeit, Anerkennung und Respekt, viele Familien verheiraten ihre Töchter nur mit Männern, die in der Armee waren. Auch deswegen entscheiden sich homosexuelle Männer oft, ihre sexuelle Neigung geheim zu halten. Oft, erzählt Özgür Azad, führt das zu massiven psychologischen Schwierigkeiten. "Dort muss man 24 Stunden den heterosexuellen Macho spielen."

Prof. Dr. Can Cimilli, Vizepräsident des Türkischen Psychiaterverbandes, äußerte in einem Interview mit Bianet.com, dass die gängige Fachliteratur Homosexualität nicht als Störung definiere. "Das ist wie blond sein." Auch der Türkische Ärzteverband (TTO) kritisiert das Militär und die Haltung der dortigen Ärzte. Dennoch weiß Özgür Azad auch von zivilen homophoben Psychiatern und Psychologen zu berichten. Oft werden Familien, die ihre Kinder zu einem Therapeuten schicken, noch in ihrer Annahme, Homosexualität sei eine Krankheit, bestärkt. Özgür erzählt von Fällen, in denen Ärzte und Wissenschaftler schwulen Männern den Rat gaben, mehr Sport zu machen, um ihre "Männlichkeit zurückzugewinnen". Lesbischen Frauen wird geraten, sich weiblicher zu verhalten, "sich vielleicht mehr um den Haushalt zu kümmern". Aber auch von Hypnose, Elektroschocks und Hormontherapien erzählt er. "Diese Art von Wissenschaftlern begeht meiner Meinung nach ein Verbrechen. Wissenschaftlern und Ärzten wird in der Türkei ein blindes Vertrauen entgegengebracht, das diese Menschen missbrauchen."

Hass flammt dort besonders auf, wo man ein sichtbares Ziel hat, weswegen vor allem Transsexuelle und Transvestiten Opfer von massiver Gewalt werden. Immer wieder ist in Zeitungen von Hassmorden und Polizeiübergriffen die Rede, in der Vergangenheit war es in Istanbul, Bursa und Ankara zu regelrechten Pogromen gekommen. Weil Transsexuelle kaum andere Möglichkeiten haben, Geld zu verdienen, arbeiten viele von ihnen als illegale Sexarbeiterinnen und werden so einmal mehr zum Ziel auch staatlicher Gewaltanwendung. Staatlich kontrollierte Prostitution ist in der Türkei legal, rund 150 Sexarbeiterinnen sind registriert, die Schätzung für illegal arbeitende liegt in Istanbul bei 30.000. "Die Türkei ist", sagt Belgin Çelik, "was diese Dinge betrifft, ein sehr unehrliches Land. Wenn Bülent Ersoy (eine sehr bekannte transsexuelle Sängerin) auftritt, jubeln ihr alle zu. Wenn die Leute Transsexuelle auf der Straße sehen, zeigen sie mit dem Finger auf sie."

Dieses Jahr, dem "Europäischen Jahr der Chancengleichheit", hatte zum fünften Mal die Istanbuler Gay Pride Woche stattgefunden. Während in den Jahren davor zwischen 50 und 150 Aktivisten und Aktivistinnen an der abschließenden Gay Pride Parade teilgenommen hatten, waren es dieses Jahr sehr viele mehr. Die offiziellen Teilnehmerzahlen schwanken. Während die Tageszeitungen Radikal und Hürriyet von 1500 Teilnehmern sprachen, legt sich Özgür Azad vorsichtig auf 1000 fest. Unterstützung war aus Belgien, aus Frankreich, aus Israel, aus Iran, aus Deutschland, aus Italien gekommen. Auch der damalige unabhängige Kandidat für die Parlamentswahlen, Baskin Oran, hatte sich am Ende der Parade vor dem Galatasaraygymnasium für die Rechte der LGBTs ausgesprochen. Eine riesige Regenbogenflagge wurde unter Jubel vom Taksimplatz die Istiklalstraße, die belebte Einkaufsstraße mitten im Zentrum der Stadt, hinuntergetragen.

Doch obwohl zahlreiche Fernsehkameras anwesend waren, tauchte die bislang größte und erfolgreichste Gay Pride der Türkei nicht in den Fernsehnachrichten auf. Auch den meisten Zeitungen war die Parade, trotz der Rekordbeteiligung, oft nur eine kurze Meldung wert. Viele Aktivisten sprachen von Zensur von Seiten des Rundfunkrates und der Medienkonzerne, immer noch scheint die LGBT-Bewegung in der Türkei etwas zu sein, das man lieber nicht sehen und nicht sichtbar machen möchte. "Es gibt uns, es gibt Homosexuelle!" und "Wir werden nicht schweigen!" waren dann auch die Slogans, die die Parade bestimmten. Die Reaktionen der sehr zahlreichen Sonntagsspaziergänger auf die bunte, tanzende und skandierende Menge waren gemischt. Erstaunen, Applaus, Spott, Unverständnis. Trotz des geringen Polizeiaufgebotes kam es jedoch nicht zu Gewalt, niemand unter den Zuschauern reagierte aggressiv. Özgür Azad befürchtet, dass die Stadt die Parade nächstes Jahr verbieten könnte. "Bis jetzt hat man uns doch nicht ernst genommen. Ein paar Leute, homosexuelle Spinner! Jetzt haben sie gesehen, dass wir eine ernstzunehmende politische Bewegung sind."