Vorgeblättert

Leseprobe zu Goncalo M. Tavares: Die Versehrten. Teil 1

19.04.2012.
KAPITEL I

Ernst und Mylia

1
Ernst Spengler war allein in seinem Dachzimmer, das Fenster bereits geöffnet, und wollte sich gerade hinunterstürzen, als plötzlich das Telefon klingelte. Ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechs-, sieben-, acht-, neun-, zehn-, elf-, zwölf-, dreizehn-, vierzehnmal. Ernst nahm ab.

Mylia wohnte im ersten Stock des Hauses Nummer 77 der Rua Moltke. Sie saß auf einem unbequemen Stuhl und dachte über die zentralen Wörter in ihrem Leben nach. Schmerz, dachte sie, Schmerz ist ein zentrales Wort.
     Sie war ein erstes Mal operiert worden, dann noch einmal, insgesamt vier Mal. Und jetzt das. Dieses Grummeln in ihrem Körper, mittendrin, ganz tief im Innern. Krank zu sein war eine Form des Widerstands gegen den Schmerz oder das Bedürfnis, irgendeinem Gott näher zu sein. Mylia murmelte: Die Kirche ist nachts geschlossen.

29. Mai, vier Uhr morgens. Mylia konnte nicht schlafen. Der ständige Schmerz in der Magengegend oder auch etwas tiefer; woher genau kam dieser großflächige, keinem einzelnen Punkt zuzuordnende Schmerz? Vielleicht von unterhalb des Magens, aus dem Unterleib. Jedenfalls war es vier Uhr morgens, noch kein Auge zugetan. Die Augen schließen, wenn man Angst hat zu sterben?
     Sie stand auf. Mylia war eine schlanke, aber kräftige Frau. Ihre Finger gaben sich nicht mit Unbedeutendem ab. (Diesen Satz wiederholte sie immer wieder: Die Finger dürfen sich nicht mit Unbedeutendem abgeben.) Sie konzentrierte sich auf das Wesentliche, denn sie wusste, sie hatte nur noch wenige Jahre zu leben. Die Krankheit ist gekommen, wir waren ein paar Jahre zusammen, jetzt bleibt sie, und ich gehe. Sie musste also die verbleibende oder die in ihrem Körper verbliebene und auf diese Tage ausgerichtete Energie bündeln - wie eine Fleischroulade - und bereit sein zu handeln. Das Unbedeutende sein lassen. Sie durfte nur das anpacken, was Substanz hatte, was zentral war; das Dringende muss dem Zentralen entsprechen, dem, was von Grund auf verändert. Wie ein heftiger Schlag: Alle Dinge des unbedeutendsten Tages sollten sein wie der Augenblick, in dem wir einen heftigen Schlag verspüren. Mylia betrachtete sich im Spiegel: Ich lebe und habe bereits einen Fehltritt gemacht. Krank zu sein heißt, einen Fehltritt gemacht zu haben, einen teuflischen Tritt, murmelte Mylia. Krankheit verändert von Grund auf.
     Doch an diesem Tag, um vier Uhr morgens, beschloss sie, das Haus zu verlassen. Nachts legt sich der Schmerz anders auf den Körper. Wie ein chemisches Substrat, eine Substanz, die langsam, vom Auge kaum wahrnehmbar, eine minimale Schräge hinabgleitet. Tag und Nacht liegen nicht auf derselben Ebene. Es besteht ein leichtes Gefälle.
     Mylia, deren Schmerz sich nicht sondern auf diese große Fläche konzentrierte - irgendwo zwischen Magen und Unterleib -, suchte auf der Straße nach einer Kirche.
     Der Landstreicher, auf den sie trifft, ist überrascht und kann ihr nicht weiterhelfen. "Eine Kirche?", fragt er.
     "Es ist Nacht", sagt der Mann, "Sie können überfallen werden. Siesollten keine Kirche, sondern einen Polizisten suchen, der Sie beschützt. Wohin wollen Sie um diese Uhrzeit? Ich könnte Sie auch überfallen."
     Mylia lächelt und geht weiter. Der Schmerz lässt keine Konzentration auf eine Unterhaltung zu.
Ich will keinen Polizisten, ich will eine Kirche. Wissen Sie, ob sie um diese Uhrzeit geschlossen sind?

Die Füße ohne Beziehung zu den Schuhen. Offensichtlich gehorchten Mylias flache, eher männliche Schuhe den Bewegungen ihrer Füße. Knochen und Muskeln haben einen Willen, das Material, aus dem die Schuhe gemacht sind, nicht. Das Material, aus dem die Schuhe gemacht sind, ist es gewohnt zu gehorchen, daran besteht kein Zweifel. Gehorcht, Schuhe, flüsterte Mylia mit naiver Perversion. Wie die Substanzen sich doch von vornherein einteilen ließen in die mit eigenem Willen und die, die mechanisch gehorchten (und das galt auch für die Menschen)! Die Schuhe waren der reine Gehorsam, erbärmliche Sklaverei, sie widerten sie in diesem Augenblick an; Speichelleckerei des Materials gegenüber dem Menschen. Kein Hund ist so speichelleckerisch wie diese Substanzen.
     Es gibt keine Möglichkeit zum Dialog stanzen, die aus verschiedenen Lagern stammen, nicht aus feindlichen, denn das hieße, an eine Mobilisierung von Aufstand der Menschen, die zu den Waffen greifen, um zu kämpfen; hier hingegen ging es nicht um eine Entfremdung zwischen feindlichen Substanzen oder räuberischen, sich zum Kampf um ein kleines Stück Land rüstenden Parteien; es ging um absolute Passivität auf der einen und starke, konstruktive oder destruktive, doch stets verändernde Energie auf der anderen Seite. Wir sind nichts, was wartet, murmelt Mylia, während sie festen Schrittes auf die Kirche zugeht.

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