Vorgeblättert

Leseprobe zu Francis Wyndham: Der andere Garten. Teil 1

02.08.2010.
(S. 32 - 46)

In diesem Herbst ging ich wie immer erst ein paar Tage später in die Public School, auf der ich bereits drei verstörte, bange Trimester verbracht hatte. Mein Grauen vor dem Ferienende verlieh mir in den letzten Stunden stets so viel Willenskraft, dass ich meine Temperatur um die erforderlichen Grade hochschrauben und damit offiziell als krank gelten konnte - aber das hielt nie lange vor und verschaffte mir nur eine quälend kurze Erleichterung. Vorübergehend schöpfte ich neue Hoffnung auf weitere Begnadigung, weil ich in der Sudetenkrise die vielversprechende Chance witterte, die Schule könnte zerbombt oder sonstwie durch einen Krieg außer Betrieb gesetzt werden. Einer meiner wenigen Freunde dort war ein Junge namens Billy Phipps, der ein Jahr älter war als ich und dessen weltmännisches Wissen mich beeindruckte, obwohl ich mich durch das unversöhnliche, snobistische Resümee aus seinen Erfahrungen oft beleidigt fühlte. Er fand, ein petit bourgeois zu sein sei so schandbar, dass es fast schon obszön sei, und obwohl er diesen gefürchteten Zustand und seine verschiedenen verräterischen Symptome liebend gern erläuterte, konnte er sich nur schwer dazu durchringen, diese beim Namen zu nennen, und hatte daher eine Reihe euphemistischer Chiffren ersonnen, mittels derer er auf sie verwies. MK für Mittelklasse war noch vergleichsweise leicht zu entziffern, aber BAH (scherzhaft für banal) und NGUNS (nicht ganz unser Niveau, Schatz) waren für nicht Eingeweihte undurchschaubar - und das rätselhafte ZDM blieb selbst dann noch ein wenig geheimnisvoll, wenn man wusste, dass es sich um eine Abkürzung von "zuerst die Milch" handelte.
     Auf mehreren Gebieten musste ich meine Unterlegenheit gegenüber Billy Phipps widerwillig anerkennen, und die Tatsache, dass es eher gesellschaftliche als moralische oder intellektuelle Bereiche waren, machte das Eingeständnis nicht weniger demütigend. Zum Beispiel gab mir sein großer Bekanntenkreis das Gefühl, meine Eltern und ich würden fast niemanden kennen und unser Leben unbehaglich in einem jämmerlichen, etwas unheimlichen Vakuum verbringen. Um durchblicken zu lassen, dass wir nicht vollständig isoliert lebten, erwähnte ich, dass vor kurzem die Demarests in unsere Nachbarschaft gezogen seien, und stellte erfreut fest, dass diese Nachricht nicht nur Billys Beachtung fand, sondern sogar mit vorsichtigem Beifall aufgenommen wurde. Seine Tante züchtete mit Erfolg Rennpferde und war bei den nobleren Rennen eine wohlbekannte Erscheinung, deshalb war Billy mit den Finessen dieser Welt vertraut und hielt sich für eine Autorität auf dem Gebiet ihrer Totems und Tabus.
     "Wie kommt ihr mit Sandy zurecht?", fragte er. "Meine Tante sagt, er kann ein sehr netter Kerl sein,
wenn ihm danach ist."
     Ich sagte, ich sei Sandy noch nicht begegnet, kenne aber seine Schwester ein wenig. Wie Dodo hatte auch Billy Phipps noch nie von Kay gehört, und er deutete durch seinen Tonfall an, dass er mich verdächtigte, sie erfunden oder mir eingebildet zu haben. Doch nach den Weihnachtsferien bestätigte er leutselig ihre Existenz. "Ich habe meine Tante nach euren Freunden, den Demarests, gefragt", sagte er, "und du hast völlig recht, Sandy hat tatsächlich eine Schwester. Aber auf dem Rennplatz ist sie offenbar eher mal vu. Kommt dort nicht gut an, fürchte ich."
     In der vagen Vorstellung, Kay habe vielleicht Platzverbot wie der Held in Edgar Wallaces Platz und Sieg, fragte ich ihn, was er meinte.
     "Es heißt, sie schläft mit Jockeys", erklärte Billy. "Wohlgemerkt, meine Tante sagt, vielleicht ist kein Wort davon wahr, aber wenn ein Mädchen erst einmal einen solchen Ruf hat, ist sie erledigt."
     "Was hat deine Tante sonst noch über die Demarests gesagt?"
     "Eltern tres ordinaires, Börsenmakler-Surrey, wenn du weißt, was ich meine, obwohl es eine Theorie gibt, nach der der Vater aus einer alten Hugenotten-Familie stammt, und die Mutter hat wohl einige ganz achtbare Verwandte in Norfolk ? Über Sandy scheinen die Ansichten auseinanderzugehen. Meine Tante sagt, er sei natürlich viel hübscher, als ihm guttue, aber er sei so unterhaltsam, dass man ihm vieles verzeihe. Anfangs glaubt man, er ist entweder stockschwul oder ein richtiger Charmeur und Gigolo - du weißt schon, der Typ, von dem das Kindermädchen sagt: 'Er sieht gut aus - und er weiß es!', aber meine Tante sagt, das sei unfair, andere Männer mögen ihn, und meine Tante sagt, das sei immer ein untrügliches Zeichen, dass es mit einem Kerl in Wirklichkeit nicht weit her sei."
     Teile hiervon erzählte ich meinen Eltern und Dodo, aber irgendetwas bewog mich, die boshaften Bemerkungen über Kay für mich zu behalten.
     Im nächsten Sommer sah ich sie wieder. Eines Nachmittags war ich früh zu einem ziellosen Spaziergang aufgebrochen, durch den anderen Garten, vorbei an Dodos Cottage und die Love?s Lane hinunter bis zur Dorfstraße. An der Einmündung der Love?s Lane stand Kay, einen sperrigen schwarzen Kasten neben sich auf dem Pflaster. Als ich unten ankam, erkannte ich die Kiste als Kurbelgrammophon.

Teil 2