Essay

Religion, Wahrheit und Gewalt

Von Reinhard Schulze
09.09.2013. Religion als Wahrheitsordnung übernahm ein Prärogativ der Götter, nämlich zornig zu sein und strafen und vergelten zu können. Der Islam ging hier einen eigenen Weg.
Alle Artikel des Monotheismusstreits finden Sie unter diesem Link. (D.Red.)

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Eine Frage des Eigensinns


Eigentlich sollte mein Beitrag zur aktuellen Monotheismus-Debatte kurz ausfallen. Ich wollte unter anderem in wenigen Worten begründen, warum ich den Bezug zum Monotheismus für problematisch halte, warum die von Jan Assmann herausgearbeitete wahr/falsch-Unterscheidung grundlegend, warum diese aber nicht genealogisch als mosaisch zu interpretieren ist, warum sich Gewalt tatsächlich im Rahmen der wahr/falsch-Unterscheidung spezifisch auslegen und neu begründen kann, warum diese Relation aber nicht in die Neuzeit und Gegenwart fortgeschrieben werden kann, kurzum, warum also gegenwärtige Verhältnisse nicht in einen genealogischen Zusammenhang zu vorneuzeitlichen Ordnungen gebracht werden können. Empirisch wollte ich mich auf das islamische Feld beziehen. Der Koran bot sich mir auch deshalb an, weil er - wenn auch zeitlich sehr viel später als die in der Debatte verhandelten biblischen Narrative entstanden - als Rekapitulation der Genese einer Relation von Wahrheitsordnung und Gewalt gelesen werden kann. Natürlich ist eine solche Rekapitulationsthese historisch nicht haltbar. Und doch lassen sich durch eine Diskussion der islamischen Situation grundsätzliche Einsichten zum hier verhandelten Problem gewinnen. So wird folgendes deutlich: Die Frage zur Relation von Monotheismus beziehungsweise Religion und Gewalt ist falsch gestellt, da Monotheismus und Religion die vorneuzeitliche Verfasstheit der epistemischen Ordnungen normativ auslegen. Die Genese der Wahrheitsordnung ist nicht notwendig mit Prozessen der kultischen Zentrierung auf einen Gott verflochten. Sie beruht auch erst sekundär auf einer wahr/falsch-Unterscheidung; primär war eine wahr/richtig-Unterscheidung, die überhaupt erst die wahr/falsch-Unterscheidung ermöglichte. Die Fusion von Wahrheitsordnung und Kultzentrierung ist nur eine historische Variante der Auslegung einer Wahrheitsordnung. Wahrheitsordnungen, ganz gleich ob als Göttlichkeit oder anders ausgelegt, sind stets Gewaltordnungen gewesen, die zugleich immer auch die Begrenzung ihres Gewaltanspruchs ermöglichten. In der islamischen Tradition lässt sich die Bedeutung der Richtigkeit als die Gewalt der Wahrheitsordnung begrenzendes Handlungsfeld sehr gut bestimmen. Das Recht konnte den Geltungsbereich der Wahrheitsordnung dadurch begrenzen, dass es die Wahrheit nur als moralischen Rahmen einer Richtigkeitsbeurteilung gelten ließ; in dem Moment, wo die Wahrheit vollkommene Geltung über das Richtige erhob, konnte sie sich mit der Exekutivgewalt ausstatten, die der Richtigkeit anhaftete. Dies setzte die Gewalt frei, die aber fast immer als Herrschaftsgewalt vollzogen wurde.

Die Relationierung von Gott, Religion, Monotheismus, Moses, Gewalt, Glauben, Wahrheit und Falschheit führt zwangsläufig zu einer Theorie hoher Komplexität, die nur noch einen geringen Wirklichkeitsverweis enthalten kann. Dies zeigt sich an den fünf Fragen, um die es hier in der Debatte geht: (1) Gibt es eine Relation zwischen Religion und Gewalt, sodass beide Begriffe zum Explanandum des jeweils anderen werden können (s.l. "religiöse Gewalt" beziehungsweise "gewalttätige Religion")? (2) Ist Monotheismus eine Ordnung, die einen Gott allein zur Wahrheit erklärt? (3) Gibt es eine Beziehung zwischen religiöser Gewalt und Monotheismus? (4) Wenn ja, hängt diese von einer Differenzierung zwischen wahr/falsch oder von anderen Unterscheidungen wie Freund/Feind oder frei/unfrei ab? (5) Und schließlich: Ist diese Unterscheidung spezifisch (mosaisch) oder achsenzeitlich?

Es verwundert so nicht, dass die meist gebrauchten Nomina (einschließlich Denominalisierungen und Komposita) in dieser Debatte Gott, Monotheismus, Religion, Moses, Gewalt und Glauben sind. Auf Gott wird bislang über 850mal verwiesen; auf Religion wird einschließlich zahlreicher Komposita über 650mal Bezug genommen. Fast 350mal ist von Monotheismus, gleichviel von Moses oder mosaisch, über 280mal von Gewalt in der einen oder anderen Form und 158mal von Glauben die Rede. Die Differenzierungsbegriffe zu Monotheismus und Wahrheit "Polytheismus" beziehungsweise "Kosmostheismus" und "falsch" werden hingegen verhältnismäßig selten angesprochen. Die Konkretisierung der Modellbildung erfolgt vornehmlich im Kontext Israels und des Judentums sowie des Alten Ägyptens; immerhin wird noch 141mal auf das Christentum Bezug genommen. Der Islam wird nur noch knapp 60mal angesprochen. Dies ist nicht als Erbsenzählerei zu verstehen. Die Zahlen sollen zunächst einmal einen rein quantitativen Eindruck von dem semantischen Feld geben, in dem sich diese Debatte vollzieht.

Die Vermischung von normativen Ableitungen und historischen Rekonstruktionen verweist einmal mehr auf den Geltungsanspruch des normativen Eigensinns der Moderne. Offenbar braucht die Moderne "ihre" Geschichte, um sich selbst normativ auslegen zu können. Sie braucht ihre Geschichte, um ihre Gewalt zu verstehen. Dieser hegemoniale Anspruch spiegelt sich in der Begriffswelt, die die Moderne (hier einschließlich der Neuzeit) seit dem 17. Jahrhundert hervorgebracht hat. Diese Begriffe erheischen Geltung, insofern sie als Theorien über die Welt gedacht werden, die ihrerseits Gültigkeit über alle Zeiten hinweg beanspruchen. Die Begriffe, die in dieser Debatte verhandelt werden, sind allesamt Teil des Gefüges des normativen Eigensinns der Moderne: Gott, Monotheismus, Religion, Gewalt, Glauben, Transzendenz, Immanenz, Poly- beziehungsweise Kosmotheismus. Wie selbstverständlich diese Begriffe scheinen, zeigt sich in der Tatsache, dass sie in der Debatte nur selten explizit definiert werden. Manche dieser Begriffe sind neuzeitliche Neologismen, andere sind durch theologische, soziologische und politische Theorien radikal neu semantisiert. In allen Fällen entfalten diese Begriffe eine Normativität, durch die der hegemoniale Aneignungsakt durch Deutung vergangenen Geschehens und damit die Selbstauslegung der Moderne möglich werden. Es ist kaum zu bestreiten, dass diese Begriffe für die Auslegung der Moderne Geltung haben und funktional sind, zumal sich die Ordnung, die diese Begriffe bilden, zugleich durch diese Begriffe bestimmt ist.

Sucht man dem Ursprung der Begriffe des Eigensinns der Moderne, so findet man ihn nur in der Moderne. Ist es ein Zufall, dass der Begriff Monotheismus zeitgleich mit der Neudeutung der Monarchie im späten 17. Jahrhundert in England Geltung erlangte, als König wie Gott in ihrer Absolutheit, Einzigartigkeit und Monopolstellung wohl definiert wurden? Ist es ein Zufall, dass in dem Moment, wo man begann, Religion normativ auszudeuten (und damit sich ihrer zu vergewissern), Klassifikationen und später Taxonomien der "Religion" mittels einer Vielzahl von -theismen und/oder attributiven Unterscheidungen entstanden? Sicherlich nicht. Die -theismen schufen eine normative Ordnung, die jede Tradition anerkannte, sofern sie neuzeitlich oder modern sein wollte. Natürlich nahm der Monotheismus eine überragende, hegemoniale Stellung im Gefüge der -theismen ein. Die Taxonomie erfolgte später stets in Differenz zum Monotheismus.

Die Debatte ist insofern hochmodern, als die Relation der Begriffe des normativen Eigensinns der Moderne neu verhandelt wird; dies besagt nichts anderes, als dass die konventionelle Selbstauslegung der Moderne zur Disposition steht. Dazu braucht die Debatte aber offensichtlich wieder die Geschichte. Der historische Ort, in dem sich die Moderne heute spiegelt, ist reicht immer weiter in die Zeit zurück: War es lange Zeit die Spätantike, die mit der Postmoderne in einen Sinnzusammenhang gebracht wurde, so geht es seit einigen Jahren um die sogenannte Achsenzeit und nun um einen kaum noch konkret historisch bestimmbaren Zeitraum, in dem sich ein Monotheismus entfaltet habe. Von der Option, das Problem durch die Rede von einem homo necans zu anthropologisieren, wird glücklicherweise nicht Gebrauch gemacht.


Eine Deontologie der Gewalt?

Der hegemoniale Geltungsanspruch des normativen Eigensinns der Moderne kennt eine dominante Begründungsfigur, nämlich die Suche nach dem Ursprung. Das läuft dann so: Von einem der Attentäter des 11. September 2001, Muḥammad 'Aṭāʼ, wird ein "Testament" überliefert, in dem er seine geplante Tat ganz offensichtlich als Handeln im Auftrag Gottes deklariert. Man weiss, dass 'Aṭāʼ hier eine Deutung übernahm, die von dem palästinensischen Prediger 'Abdallāh 'Azzām (gest. 1989) in den 1980er Jahren in Pakistan propagiert worden war. 'Azzām hatte festgeschrieben, dass der physische Kampf gegen die Ungläubigen Teil der islamischen Kultordnung sei. Er sei sogar "besser als das Gebet". 'Azzām begründete seine Aussage unter anderem mit einer Auslegung des Koranverses 2:190: "Und kämpft auf dem Wege Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen! Aber begeht keine Übertretung! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen", die von dem marokkanischen Gelehrten Taqī ad-Dīn al-Hilālī (1894-1987) in den frühen 1970er Jahren vorgeschlagen worden war:

"al-Jihâd (holy fighting) in Allah's Cause (with full force of numbers and weaponry) is given the utmost importance in Islâm and is one of its pillars (on which it stands). By Jihâd Islâm is established, Allah's Word is made superior (His Word being La ilaha ill Allah which means none has the the right to be worshiped but Allah), and His religion (Islam) is propagated. By abandoning Jihâd (may Allâh protect us from that) Islâm is destroyed and Muslims fall into an inferior position; their honour is lost, their lands are stolen, their rule and authority vanish. Jihâd is an obligatory duty in Islâm on every Muslim, and he who tries to escape from this duty, or does not in his innermost heart wish to fulfil this duty, dies with one of the qualities of a hypocrite."

Die Formulierung "By Jihâd Islâm is established" wurde von 'Azzām personalisiert gelesen. Jemand könne in sich den Islam nur verwirklichen sprich Muslim sein, wenn er auf dem Wege Gottes kämpft. Die Aufgabe des Kampfes wäre dann gleichsam die Zerstörung des Islam in einem selbst. Diese existenzialistisch anmutende Setzung könnte auf den Satz reduziert werden: "Ich bin Kämpfer, deshalb bin ich", wobei die Seinsaussage mit dem Begriff Islam gleichgesetzt wird. Islam ist also hier das Dasein in Wahrheit; er ist Daseinswahrheit; der Einzelne ist demnach nur dann in Wahrheit existent, wenn er in sich den Islam durch den Kampf verwirklicht, sprich bewahrheitet.

Exegeten der Handlungen des Terroristen 'Aṭāʼ suchten nun nach dem Ursprung seiner Selbstdeutung und fanden sie zunächst "im Koran". 'Aṭāʼs Verweis auf Koran 2:190 begründete die Annahme, dass der Vers für sein Handeln verantwortlich sei. 'Aṭāʼ habe sich der Normativität dieses Verses unterworfen. Doch damit nicht genug: Man fragte, was denn dieser Koranvers ausdrücke? Die Antwort war schnell gefunden: Es ist der gewalttätige Geltungsanspruch einer absoluten Wahrheitsordnung gegen alle ihre Feinde. Doch woher kommt dieser Geltungsanspruch? Darauf gab es zwei Antworten: Entweder liegt es am Islam, oder es hat grundsätzlich etwas mit dem Monotheismus zu tun. Im ersten Fall wäre der islamische Monotheismus schuld. Im letzteren Fall wäre der Ursprung für 'Aṭāʼs Handeln in einer Zeit zu suchen, die 2700 oder mehr Jahre zurückliegt.

Natürlich werden die Rückverweise auf Ursprünge kaum noch als Kausalzusammenhänge gedacht. Ein Satz wie "Muḥammad 'Aṭāʼ hat das Flugzeug in einen der beiden Türme des World Trade Centers geflogen, weil es einen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt gibt", ist nur möglich, wenn man den Monotheismus als Skandal ansieht. Ein Satz hingegen wie "Muḥammad 'Aṭāʼ hat das Flugzeug in einen der beiden Türme des World Trade Centers geflogen, weil es einen Zusammenhang zwischen Islam und Gewalt gibt", erscheint vielen als plausibel. Wenn dann die Spezifität des Islam in der Radikalisierung des Monotheismus gesehen wird, dann lautet der Satz: "Muḥammad 'Aṭāʼ hat das Flugzeug in einen der beiden Türme des World Trade Centers geflogen, weil es einen Zusammenhang zwischen radikalem Monotheismus und Gewalt gibt".

Ein radikaler Monotheismus habe den strukturellen Nachteil, die ihm "inhärente" Gewalt nicht bändigen, nicht humanisieren zu können. Jan Assmann merkt in der Debatte an: "In einer Geschichte der Grausamkeit spielt die Wende zum Monotheismus, von einigen bemerkenswerten Fällen abgesehen, vermutlich eher eine humanisierende Rolle." Ja, würde Foucault sagen, genau das ist das Problem: Die Zivilisationen verkleiden ihre Optierung der Gewalt durch Aussagen zur Humanität und betten die Gewalt in ihre Disziplinierungsstrategien ein. Ergo galt, dass ein Humanismus, der sich nicht vom Monotheismus befreie, kein Humanismus sein könne. Nach dieser Lesart wäre es unmöglich, dem Monotheismus eine humanisierende Kraft zuzuweisen.

Für manche liege das Problem des Islam darin, dass er im Unterschied zum Christentum den eigenen Monotheismus nicht differenzieren würde. Es galt also zu unterscheiden zwischen einem guten und einem bösen Monotheismus. Böse ist er dann, wenn er sich reflexiv nicht selbst relativiere, also den im Begriff ausgedrückten Geltungsanspruch nicht durchsetze. Böse sei er gerade dann, wenn er seinen Begriff in Gewalt übersetze oder sich ins Politische verkehre.

Nun geht es in dieser Debatte ja nicht vorrangig um die Beziehung von Monotheismus und Gewalt an sich, sondern um die Verkettung einer Genealogie der Gewalt mit einer Genealogie des Monotheismus. Die wie auch immer gestaltete Historisierung des Monotheismus ist das eigentliche Problem in der aktuellen Diskussion. Niemand wird wohl sagen, dass Gewalt und Monotheismus über einen gleichen Herkunftsort verfügen. Es geht eher um die Spezifikation der Gewalt, die durch den Monotheismus erfolgt sei und die sich durch Attribute wie "religiös" oder "monotheistisch" markieren lasse. Weit häufiger und in dieser Debatte oft auch gleichbedeutend mit "monotheistischer Gewalt" wird die Bezeichnung "religiöse Gewalt" verwendet. Es geht also um jene Gewalt, die "im Namen Gottes" vollzogen wird, für die es eine schriftbezogene Aufforderung gibt.

Was wäre dann also "religiöse Gewalt"? Gewalt im Namen Gottes oder Selbstvergöttlichung? Oder ist beides dasselbe? Um religiöse Gewalt zu sein, bedürfe es also (a) einer expliziten normativen Aussage Gottes und (b) Gewalthandlungen, deren Subjekte sich auf diese Aussage beziehen. Wenn jemand sagt: Gott hat mir befohlen, meine Feinde zu töten" und dieser jemand tötet dann auch Menschen, dürfen wir mit fug und Recht davon ausgehen, dass der Täter subjektiv seine Handlungen als religiös attribuiert (und sich deshalb von der Verantwortung freispricht). Es handelt sich also um ein Motiv. Religiöse Gewalt müsste demnach im instrumentellen Sinne "mittels Religion motivierte Gewalt" sein. Sie ist natürlich nicht "durch/von Religion" motiviert, denn das hieße, dass die passivische Aussage: "Er wurde durch Religion zu Gewalt motiviert" in eine transitive Aussage: "Die Religion hat ihn zur Gewalt motiviert" transformiert werden könne. In der Hermeneutik eines Gewalthandelns deutet der Begriff "religiöse Gewalt" richtig das Motiv des Handelnden, der den Bedingungen des Satzes "Gott hat mir befohlen, meine Feinde zu töten" genügt. Auf dass diese nur hermeneutisch zu bestimmende religiöse Gewalt monotheistisch sei, müsste (a) Gott diesen Befehl erteilt haben, weil er einzig sei und (b) Gott diesen Befehl in einer Schrift so verbriefen, dass der Gewalthandelnde sich auf diese Urkunde berufen könne. Es müsste also eine logische Beziehung zwischen Befehl und Selbstdeutung Gottes als einzig geben. Eine solche deontologische Auffassung liegt zum Beispiel vor, wenn Koran 8:57 "Wenn du sie nun im Krieg zu fassen bekommst, dann verscheuche mit ihnen diejenigen, die hinter ihnen dreinkommen! Vielleicht lassen sie sich mahnen" mit dem Hinweis gedeutet wird: "Gott hat das Töten der Ungläubigen, wenn man sie im Kampf antrifft, befohlen." Eine solche Exegese aber gibt es erst seit den 1990er Jahren. Die explizite Aussage, Gott habe das Töten der Ungläubigen befohlen, ist erst seit den 1970er Jahren belegt.

Nun wissen wir, dass die deontologischen Gebote die Funktion hatten, einen Rahmen immanenter Regeln zu definieren, durch die die Grenze zwischen Kultordnung und profaner Ordnung bestimmt werden konnte. Die Aufforderung zum Kampf ist wohl kaum so zu verstehen wie von 'Azzām in den 1980er Jahren propagiert. Die Imperative in Koran 2:190-1 wurde nicht Teil der Wahrheitsordnung verstanden, sondern als Schutzvorschriften für die Geltung des Kults, in dem sich die Wahrheitsordnung bestätigt wurde. In der Frühen Neuzeit nannte man das Policey. Es heisst eben nicht: "Ich bin dein Gott, so kämpfe/töte!" Der Kampf und das Töten erfolgten so nie im Namen Gottes. Die alte Formel "im Namen Gottes" (arabisch bi-smi llāhi) kann ja in vierfacher Hinsicht verstanden werden: (a) als Beeiden, (b) als Handeln in Vertretung, (c) als Wunsch nach göttlichem Wohlgefallen und (d) als Objekt einer Anrufungshandlung (also den Namen Gottes über etwas aussprechen und dieses damit Gott übergeben). Töten könnte also gedacht sein als Handlung, in der Gott der Zeuge ist, als Handlung in Vertretung Gottes, als Handlung, wobei der Handelnde göttliches Wohlgefallen erfleht, oder als Handlung, über die der Name Gottes angesprochen wird, um sie ihm zu übergeben. Nun ist - soweit ich sehe - die Formulierung "kämpfen/töten im Namen Gottes" in keinem vormodernen arabischen Text belegt.

Das soll natürlich nicht heißen, dass Gewalthandeln nie im Sinne eines "Gott will es" vollzogen wäre. Im Gegenteil, die Vorstellung, dass Gewalt Gotteskult, also λατρεία τῷ θεῷ, sein könne oder gar sein müsse, ist recht alt und nicht ein Proprium ultra-religiöser islamischer Eiferer. Es handelt sich um eine Gewalt, über die der Name Gottes ausgesprochen wurde und hierdurch geweiht wurde. Nennen wir diese Gewalt "Kultgewalt". In gewisser Hinsicht entspricht sie dem Opfer, allerdings ist die Kultgewalt nicht einfach eine Fortschreibung des Menschenopfers. Die Besonderheit der Kultgewalt liegt ja darin, dass sie erstens profano, also vor und nicht in dem Heiligtum stattfindet, und zweitens den zu Tötenden selbst nicht weiht, sondern ihn als Feind definiert.

Diese Kultgewalt ist von jener Gewalt zu unterscheiden, die als rein diesseitiger Kampf gegen die Feinde der Gottesdiener (und nicht Gottes) gedacht war. Unter dem Ruf lā ḥukma illā li-llāhi "Niemand hat Herrschaft außer Gott" zum Beispiel töteten in frühislamischer Zeit die Ḫāriǧiten ihre Feinde. Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Handelnden ihr Tun als Ausführung des Willens Gottes erachteten. Nennen wir diese Gewalt Herrschaftsgewalt.

Eine dritte Form der Gewalt lag sicherlich im Gesetz selbst vor. Die Normenordnung beschrieb die Regeln, nach denen Menschen getötet werden dürfen. In der klassischen islamischen Normenordnung zum Beispiel durften der Mörder, der Ehebrecher und der Apostat getötet werden. Islamische Juristen waren sich allerdings nicht darüber einig, ob es sich um eine Kann- oder um eine Soll-Bestimmung handelte. Nennen wir diese Gewalt "Gesetzesgewalt".


Wahrheit, Richtigkeit und die t-Wahrheit

Es geht nun um die fünfte Wahrheit, die Jan Assmann als "absolute, geoffenbarte metaphysische Glaubenswahrheit" definiert und von Erfahrungswahrheiten, mathematischen Wahrheiten, historischen Wahrheiten und lebensdienlichen Wahrheiten abgrenzt. Und es geht um Varianten der wahr/falsch-Unterscheidung, die sich auf frei/unfrei oder Freund/Feind beziehen. Es geht grundsätzlich darum, ob durch Unterscheidung Innovation eintritt. Unterscheidung ist hier nicht analytisch gedacht, sondern als tatsächliche epistemische Figur, durch die eine Rede eine andere Geltungsgestalt erlangt, durch die Aussagen über das Subjektive ("er/sie ist wahr", das heisst in moralischer Hinsicht wahrhaftig) in Aussagen über das Objektive ("es ist wahr, dass er/sie …") transformiert werden.

Doch was wird mit den Begriffen wahr und falsch erfasst? Offensichtlich geht es um mehr als um die Feststellung einer Richtigkeit. Der Begriff Richtigkeit bezeichnet gemeinhin eine Korrespondenz zwischen einem Sachverhalt und einer Norm, eines Zeichens oder einer Proposition. Diese Richtigkeitsbeurteilung gehört sicherlich zu den ältesten Formen der Wahrnehmung.

Das Attribut "wahr" kann selbstverständlich auch auf eine Korrespondenztheorie hin bestimmt werden. Dann ist der Unterschied zu "richtig" kaum gegeben. Der Wahrheitsbegriff, um den es hier aber geht, ist ein anderer: Gemeint ist ein Wahrheitsbegriff, der aussagt, dass Wahrheit sei, dass es daher nur eine einzige Wahrheit gebe und dass Wahrheit damit eine unbedingte Geltung des als "wahr" Bezeichneten mit einschließe. Wahrheit bestehe dann in vollständiger Unabhängigkeit von demjenigen, der den Geltungsanspruch beurteilt. Da Wahrheit als seiend erachtet wird, kann sie das Subjekt einer Aussage sein (K. 43:29 "bis die Wahrheit zu ihnen kam", 12:51: "denn die Wahrheit zeigte sich", 7:118: "das geschah die Wahrheit"). Es geht also um ontologische Wahrheit. Dieser Status unterscheidet sich deutlich von der Richtigkeit. Noch weiter eingeengt wird der Wahrheitsbegriff dadurch, dass er sich auf Worte bezieht. Es geht also um Aussagen, die wahr sind und zugleich Auskunft über die Wahrheit, die unbedingte Geltung verlangt, geben.

Kernpunkt der sogenannten mosaischen Unterscheidung ist nun die Behauptung, dass erstens in dem Moment, wo dieser und nur dieser Wahrheitsbegriff auf einen Gott bezogen wird, dieser Gott einen Geltungsanspruch erhebt, der ihn allein zur Wahrheit mache und dass zweitens dieser Moment historisch sei. Anders ausgedrückt: Es muss (a) einen Wahrheitsbegriff geben, der auf eine Wahrheit referiert, durch den dann (b) dem durch diesen Begriff unabhängig vom Beurteiler attribuierten Objekt eine unbedingte Geltung zugeschrieben wird (cf. K. 22:62: "Gott ist die Wahrheit") und (c) diese Deutung einen historischen Ursprung habe. Meines Erachtens kommt noch etwas Viertes hinzu: Das Objekt, das nun die Eigenschaft "wahr sein" hat, muss, um wahr zu sein, jenseits aller Richtigkeit liegen; da gemeinhin Richtigkeit die Korrespondenz von Wirklichkeit und Zeichen oder Proposition bezeichnet, unterliegt sie der Beurteilung. Beurteilbar ist aber nur das, was "in der Welt" ist. Also kann nur das wahr sein, was unabhängig von der Richtigkeit ist und damit notwendig jenseits der Grenzen der Welt liegt. Um diese Wahrheit kategorial von anderen Bedeutungen zu unterscheiden, soll sie im folgenden t-Wahrheit genannt werden.

Die t-Wahrheit ist damit ein Differenzpartner der Richtigkeit. Zugleich erhebt sie einen hegemonialen Anspruch darüber, was richtig sein kann. "Richtig ist nur das, was wahr ist." Verfechter eines hegemonialen Standpunkts der Richtigkeit hingegen werden sagen: "Wahr ist nur das, was richtig ist." Indem sich nun die t-Wahrheit dadurch auslegt, dass sie die Richtigkeit in der Welt gestimmt, wird sie deontologisch oder besser gesetzlich. Eine t-Wahrheit, die sich gesetzlich deutet, beansprucht über eine Erzwingungsgewalt.

Es besteht so kein Zweifel, dass eine t-Wahrheit wegen ihres hegemonialen Anspruchs in einem spezifischen Verhältnis zu Gewalt steht und hierdurch Gewalt neu semantisiert. Differenzierungen zeichnen sich dadurch aus, dass die jeweiligen Differenzierungspartner eigentlich keine Partnerschaft pflegen, sondern Hegemonie beanspruchen. Die Hegemonie einer t-Wahrheit über eine Richtigkeit war aber selten unbestritten. Frühere muslimische Juristen, die sich als Sachwalter der Richtigkeit wähnten, anerkannten zwar die t-Wahrheit als sinnvolle Rahmenordnung, doch bleib die Bestimmung konkreter Richtigkeit davon unberührt. Richtig war dann zunächst das, was nützlich und gültig war. So verlangte die (in diesem Falle durch die Prophetentradition ausgelegte) t-Wahrheit, dass ein Apostat hinzurichten sei; diese Rahmenordnung aber war nicht nützlich, sodass Juristen sie zwar kommentierten, aber in ihren Setzungen nicht konkretisierten. Dies wieder hatte zur Folge, dass die Zahl von Menschen, die explizit wegen Apostasie getötet wurden, bis in das 16. Jahrhundert klein war. Ein anderes Beispiel. Wie schon angesprochen verlangt (in diesem Falle wieder durch die Prophetentradition ausgelegte) die t-Wahrheit, dass Ehebrecher zu steinigen seien. Doch der erste überlieferte Bericht über die Steinigung in der altislamischen Welt stammt aus der Zeit kurz nach 1675.

Zumindest in der alten islamischen Tradition hatte es die t-Wahrheit schwer, sich gegen den Geltungsanspruch der Richtigkeit durchzusetzen. Dies zeigte sich besonders dann, wenn Juristen die Aussage "wahr ist nur das, was richtig (gültig/nützlich) ist" selbst als Regel der Wahrheitsordnung definierten und damit ihre Rechtsinterpretation (šarī'a) der Nützlichkeit unterstellten. Dass Richtigkeitsbehauptungen nicht notwendig harmlos sein müssen, versteht sich von selbst. Die angesprochene Humanisierung einer Wahrheitsordnung besteht so der Sache nach in der "Richtigstellung der Wahrheit": Die Richtigkeitsbeurteilung bändigt den Geltungsanspruch der Wahrheit. Richtigkeit beruht nicht auf einer axiomatischen Annahme, aus der Wahrheit abgeleitet wird, sondern aus einem sozialen Common Sense über Nützlichkeit und Gültigkeit.

Wir haben es also mit der Unterscheidung zwischen t-Wahrheit und Richtigkeit zu tun. Wenn nun das Transzendent als Ergebnis eines Differenzierungsprozesses innerhalb des Feldes des Sakralen ist, dann ist dieser Wahrheitsbegriff unmittelbar verbunden mit der Ausformulierung von Behauptungen über eine Transzendenz. Dieser Differenzierungsprozess generierte die Abtrennung der Wahrheit von der Richtigkeit, wobei Richtigkeit unter dem Hegemonieanspruch der Wahrheit niemals mehr die Richtigkeit sein kann, die zuvor die Gültigkeit einer Sakralordnung gekennzeichnet hatte. Die Wahrheitsordnung konnte, musste aber nicht "vergöttlicht" werden. Wie die Wahrheitsordnung angesprochen wurde, hing immer von der Bedeutungskonventionen ab, die in einer Tradition vorherrschten. Ein Merkmal aber war über alle Traditionen hinweg konstant. Der Charakter der t-Wahrheit bedingt, dass sich seine Eigenschaft ("wahr") nur in einer Wahrheit auslegen konnte. Diese konnte aber durchaus verschiedene performative Ebenen haben (zum Beispiel in dualistischen oder trinitarischen Ordnungen, in wiederkehrenden Welten und Aionen und so weiter). Eine spezielle Auslegung lag dann vor, wenn sie mit einem semantischen Konzept erfolgte, das in der Sakralordnung einen Gott bezeichnete. Das erhöhte natürlich die Akzeptanz. In den frühen koranischen Offenbarungen legte sich die Wahrheitsordnung fast durchweg als "Herr" (rabb) aus, nicht als "Gott" (ilāh). Erst später legte sich die koranische Offenbarung durch den Begriff allāh aus, durch die sich die semantische Referenz zu den Göttern der Sakralordnung ergab. Zugleich aber bedeutet dieser semantische Bezug die Profanisierung der Götter, da der Begriff Gott nun nur noch als Auslegung der Wahrheitsordnung gedacht werden konnte. Die profanisierten Götter verloren zwar ihren Ehrentitel "Gott", nicht aber ihre performative behauptende Kraft. Sie wurden nicht einfach vergessen.

Eine Wahrheitsordnung, die sich mit dem lexikalischen Begriff "Gott" bezeichnet, musste, um wahr zu sein, diesen Gott als den Einen auslegen. Insofern nun die Wahrheit Besitz von den Göttern ergriff, wurde sie zur Göttlichkeit. Meines Erachtens ist es ein Fehler, diese Göttlichkeit (oder besser diesen t-Gott) genealogisch auf Traditionen zurückzuführen, in denen es eine lokale sinnstiftende Verehrung nur eines Gottes gab. Ob es dabei jemals wirklich einen Unterschied zwischen der Ein-Gott-Verehrung (Henolatrie) und einer nur-ein-Gott-Verehrung (Monolatrie) gegeben hat, ist hier nicht wichtig. Bedeutsamer ist, dass diese auf einen Gott bezogene Verehrung im Kontext der Sakralordnung vollzogen wurde. In dem Moment, wo sich die Wahrheitsordnung als Göttlichkeit auslegte, kam es sicherlich zu einer semantischen Überlagerung, sodass retrospektiv ein genealogischer Zusammenhang zwischen dem t-Gott und dem Gott, der allein verehrt wurde, ausgemacht wurde. Dies verschleiert aber den epistemischen Bruch, der sich in dem Moment auftat, wo sich die Sakralordnung in einer Transzendenz/Immanenz-Ordnung ausdifferenzierte.

Die Wahrheit erschuf sich eine eigene Ordnung jenseits der Sakralordnung und des Götterkults. Sie erschuf aber keinen Monotheismus. Dieser Prozess konnte auch die Deutung der Götterwelten einschliessen, musste es aber nicht. Einen zwingenden Zusammenhang zwischen der Hegemonie einer transzendenten Wahrheitsordnung und dem sakralen Götterkult gibt es nicht. Unter bestimmten Bedingungen kann sich die Wahrheitsordnung in einer Kultwelt zum Ausdruck bringen, doch bedeutete dies zugleich eine Umdeutung dessen, was als bislang als Götterkult verstanden wurde. Konventionell trat die Wahrheitsordnung daher nicht in einen Gegensatz zum sakralen Götterkult, sondern rahmte ihn ein durch eine transzendent-immanent-Unterscheidung. Sofern diese Unterscheidung hegemonial wurde, spaltete sich das semantische Feld des Götterkults auf: Die Götter wurden nicht abgeschafft, sondern in ihrem Wirkungsfeld auf die Innerweltlichkeit beschränkt. Zusätzlich wurde eine Göttlichkeit abstrahiert, die als Repräsentation der transzendenten Wahrheitsordnung angesehen wurde.

Eine solche Wahrheitsordnung kann ohne weiteres den Götterkult anerkennen, ja, sie kann den Götterkult sogar zum Gegenstand der Wahrheitsordnung machen. Dies drückt nur den hegemonialen Geltungsanspruch der Wahrheitsordnung aus. Der Götterkult hingegen kann sich nur schwerlich gegen die Wahrheitsordnung wehren, außer dieser mit Indifferenz zu begegnen oder diese zu leugnen. Letzteres ist natürlich nur dann der Fall, wenn der Hegemonieanspruch der Wahrheitsordnung eine Selbstdeutung des Götterkults verlangt. In diesem Fall aber ist der Kontext der Selbstdeutung auch im Falle eine Leugnung die Wahrheitsordnung. Der sakrale Götterkult ist dann nicht mehr das, was er einmal war.

Durch die transzendent-immanent-Unterscheidung trat also die Wahrheitsordnung neben den Götterkult. In einigen Fällen deutete sich die Wahrheitsordnung mit Begriffen, die dem Götterkult eigen waren, und das ist natürlich zunächst der Begriff für einen Gott selbst. Sofern sich die Wahrheitsordnung als göttlich auslegt, soll von Göttlichkeit gesprochen werden. Wir haben es dann mit einem Gefüge von Göttern und Göttlichkeit zu tun. Da letztere Wahrheit ist, kann sie aus der Sicht ihrer Protagonisten stets nur im Singular existieren.

Da die Wahrheitsordnung nur als Rede über sie existiert, hat sie zunächst keinen Kult. Sie findet ihre Bestätigung nur in der Rede über sie. Um sich Geltung zu verschaffen, muss die Wahrheit sich selbst in einer Rede (logos) offenbaren. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten: Sie kann sich selbst erzwingen, indem sie die Erkenntnis des Menschen vernünftig werden lässt, oder die kann sich in einer ihr eigenen Rede offenbaren. In einigen Fällen wie im Neuplatonismus kann sie auch beides kombinieren, oder sie kann dem Menschen offenbaren, vernünftig zu sein.

Nun waren die Bewahrer derjenigen Traditionen, die die epistemische Unterscheidung zwischen transzendent und immanent vollzogen, gewiss nicht notwendig Philosophen. Die Philosophie ist ja nur eine Gestaltung dieser Unterscheidung. Mehrheitlich machten die von den Konventionen Gebrauch, die bislang den sakralen Götterkult bezeichneten. Hierzu gehört natürlich in erster Linie der Begriff Gott selbst. Doch selbst dann, wenn die Wahrheitsordnung mit einem Begriff für Gott gleichgesetzt wird, ist sie nicht bedeutungsgleich mit dem Begriff Gott, der im Götterkult gebraucht wurde. Ein solcher transzendenter Gott reproduziert auch nicht die Machtposition eines obersten Gottes in einem Pantheon; in einigen Fällen eignete er sich den Namen eines Gottes an, was dann zu Verwirrung führen konnte: Als in mittelmekkanischer Zeit der sich im Koran Offenbarende als arRaḥmān zu erkennen gab, schienen viele der Meinung gewesen zu sein, dass es sich doch um einen Gott des Götterkults, in dem es einen Gott namens ar-Raḥmān gab, handelte. Die sich offenbarende Wahrheitsordnung reagierte hierauf und machte ar-raḥmān zu ihrem Attribut; sich selbst gab sie nun nur noch als die Göttlichkeit/der Gott (allāh) zu erkennen. Hier wurde kein "Hochgott" aus dem Pantheon isoliert, sondern die Wahrheitsordnung "vergöttlicht". Kompromisse waren nicht zu verhindern: Da sich die t-Wahrheit nun als Göttlichkeit auslegte, brauchte es einen konventionellen performativen Zusammenhang, der die Göttlichkeit zum Ausdruck brachte. Die t-Wahrheit musste also nolens volens einen Kult anerkennen.

Da diese t-Wahrheit sich sprechend offenbart, ist sie dann natürlich nicht philosophische Wahrheit, sondern sprechende Wahrheit und damit irgendwie eine handelnde Person. Wir müssen also diese frühe Personalisierung der t-Wahrheit (also die Selbstauslegung der Wahrheit als ein ich) in einer Weise bezeichnen, die die Differenz zum Götterbegriff deutlich macht. In spätkoranischer Zeit wird dann einfach für die zum Gott gewordene Wahrheit der Begriff allāh stehen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass die transzendent-immanent-Unterscheidung erfolgreich war. In fast allen der großen Traditionen, die heute als Religion definiert werden, wurde diese Unterscheidung vollzogen. Der Nachteil aber Bestand darin, dass sie (a) den Götterkult nie ganz ersetzen konnte, (b) sich immer wieder neu erfinden musste und (c) nur begrenzt größere Teil einer Bevölkerung so integrieren konnte, dass der Götterkult ganz verschwand. Dem stand der Vorteil gegenüber, eine Ordnung zu repräsentieren, die Hegemonie über alle Formen der Partikularität ausüben und so selbst die Deutungshoheit über den Götterkult beanspruchen konnte. Die Wahrheitsordnung war stets eine hegemoniale Ordnung, die sich noch dadurch verstärken konnte, wenn sie mit einer realen Herrschaft korrespondierte. Dies war aber keinesfalls die Bedingung für die Hegemonie der Wahrheitsordnung.


Wahrheit und Gewalt

Dies führt nun zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen transzendenter Wahrheitsordnung und Gewalt. Zweifellos ist eine Wahrheitsordnung hegemonial. Hegemonien äußern sich in Machtvollzügen. Mithin verfügen alle Wahrheitsordnungen über eine postestas, oder anders gesagt, die Wahrheit ist potestas. Als Macht muss die Wahrheit also die Möglichkeit haben, sich durchzusetzen. Doch ist Wahrheit auch Gewalt (violentia)? Nach Kant wäre es sie, "wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist." Gewalt ist also nur gegeben, wenn sie sich durchsetzt. Auf dass Wahrheit ist, muss sie dem Lügner mit Gewalt begegnen. Duldet sie die Lüge, gibt sie sich selbst preis. Doch die Wahrheit kann sich nicht selbst vollstrecken. Eine "intrinsische" Beziehung der Wahrheit zur Gewalt ist also nur dann gegeben, wenn sie in ihrer Ordnung die Befehle und den Zwang einschließt, die der Wahrheit Geltung verschaffen. In diesem Fall hätten wir es mit einer erzwingenden Gewalt transzendenter Wahrheit zu tun. Wenn die Wahrheit sagt: "Ich bin die Göttlichkeit, zerstört die Götter", dann haben wir es mit einer solchen erzwingenden Gewalt zu tun, denn wenn sich der Wahrheitstreue weigert, die Götter zu zerstören, leugnet er die Wahrheit. Wenn die Wahrheit sagt: "Ich bin die Göttlichkeit, so tötet, die, die mich leugnen", dann ist der Fall klar. Hier ist Gewalt unmittelbar mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit verbunden.

Etwas anderes ist es, wenn Verfechter der Wahrheitsordnung sich selbst berufen sehen, diese mit Gewalt durchzusetzen. Für sie handelt es sich natürlich um legitime Gewalt, denn sie verletzt nicht das Recht, gegen die sie sich richtet, sondern stellt das Recht der Wahrheit her.

Nun ist Gewalt unter den Bedingungen der transzendent-immanent-Unterscheidung natürlich nicht identisch mit der Gewalt, die in der Neuzeit und Moderne unter völlig anderen epistemischen Bedingungen definiert wird. Gewiss ist formal es dasselbe, wenn im 3. Jahrhundert jemandem der Kopf abgeschlagen wurde und wenn jemand in der Französischen Revolution guillotiniert wurde. Der Tatbestand ist der gleiche; beide Handlungen können als "köpfen" beschrieben werden, beide Handlungen richteten sich gewiss gegen den Willen desjenigen, der geköpft wurde. Doch handelt es sich um Manifestationen einer Gewalt?

Aus der hier debattierten Frage ist also die Zuspitzung auf später als monotheistisch definierte Traditionen wenig hilfreich. Einfacher ist es, die Frage so zu formulieren: Stiftete eine Weltdeutung, die auf der Wirklichkeit einer t-Wahrheit beruhte, Gewalthandeln? Wenn ja, radikalisierte sie dieses Gewalthandeln? Wenn ja, unterschied sich dieses Gewalthandeln von jenem, das in Kontexten ohne t-Wahrheit vollzogen wurde? Wenn ja, was ist der Unterschied?

Es ist fraglos richtig, dass Gewalt durch den Bezug zur Wahrheitsordnung radikal werden kann und dass es Unterschiede in der Hermeneutik der Tat gibt, die von den epistemischen Ordnungen abhängen, in deren Rahmen sie vollzogen werden: So kann sich eine Gesetzgewalt der Wahrheitsordnung unterstellen, Herrschaftsgewalt sich als Exekutive einer Wahrheitsordnung oder als ein durch den Common Sense der Götter gestütztes Strafgericht deuten oder sich nachträglich als Exekutive einer Wahrheitsordnung begründen, eine Kultgewalt als Ausdruck einer Gottesdienerschaft deuten, eine Sakralgewalt als Gabe an die Götter verstehen oder eine Jurisdiktion sich als Exekutive einer Wahrheitsordnung auslegen.

Es ist nun zweifellos so, dass diese Kontexte die (semantische) Bedeutung der Gewalt bestimmen, nicht aber die Ausführungsform der Gewalt. Daher unterscheiden sie sich je nachdem, ob sie Hervorrufungsakte, Bezeugungsakte, Glaubensakte oder Seinsakte sind, in der Bedeutung. Außer der Ausführungsform gibt es somit als tertium comparationis nur die Tatsache, dass alle diese Gewalten eine Bedeutung haben, die jenseits des konkreten Handlungsvollzugs liegt.

Die Frage ist also, ob die Kontextualisierung durch eine Wahrheitsordnung Gewalt radikalisierte. Klar ist, dass sich die Gewalt mit der Wahrheitsordnung einkleiden konnte; der Umkehrschluss, dass die Wahrheitsordnung diese Gewalt generierte, ist aber nur dann schlüssig, wenn die Relation tatsächlich kausal ist. Die Hypothese kann also wie folgt definiert werden: "Unter den Bedingungen einer Wahrheitsordnung lässt es sich sehr gut gewalttätig sein"; dies schließt nicht aus, dass unter anderen Bedingungen es sich ebenfalls sehr gut gewalttätig sein lässt.

Damit haben wir aber die Frage auch historisch eingegrenzt. Sie gilt nur, solange eine Wahrheitsordnung (hier immer bezogen auf die t-Wahrheit) hegemonial ist. In dem Moment, wo sich eine Wahrheitsordnung (meist als Religion-Säkularität-Ordnung) ausdifferenziert, ändert sich der Kontext, der Gewalten bedeuten kann, radikal. Dies bedeutet aber zugleich auch, dass religiöse Gewalt, die es nur unter den Bedingungen der Religion-Säkularität-Unterscheidung geben kann, nicht mit Gewalthandeln, das sich durch eine Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung auslegte, identisch ist. Ein genealogischer Rückbezug religiöser Gewalt im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges auf die christliche Wahrheitsordnung des Mittelalters oder gar auf den "Monotheismus" ist so nicht möglich.

Kurzum, religiöse Gewalt kann es nur geben, wenn Religion als normative Ordnung den Deutungskontext der Handelnden bestimmte. Dies aber setzt die Differenzierung der alten Wahrheitsordnung in eine Religions- und eine Gesellschaftsordnung voraus; dieses Gefüge aber ist neuzeitlich oder gar erst modern. Religiöse Gewalt ist damit immer eine Gewalt in der Neuzeit und in der Moderne. Ursächlich ist dann der Kontext der Moderne, nicht das jeweilige Traditionsgefüge, das sich als Religion normativ auslegt.

Wir müssen also zunächst entscheiden, welche epistemischen Raum wir betreten wollen, wenn wir einen normativen Kontext für Gewalt ausfindig machen wollen. Folgenden Festellungen sind hier hilfreich:

a) Von religiöser Gewalt kann sinnvoll nur dann gesprochen werden, wenn Religion die normative Ordnung eines Traditionsgefüges bildet. Historisch gesehen kann es religiöse Gewalt also frühestens seit dem 16./17. Jahrhundert geben.

b) Da Monotheismus Teil der normativen Religionsordnung ist, kann keine vorneuzeitliche Tradition sinnvoll mit diesem Begriff beschrieben werden. c) Da die epistemischen Ordnungen die Auslegung von Traditionsgefügen kontextualisieren, müssen die Traditionen entsprechend diesen Ordnungen intern unterschieden werden.

d) Da diese epistemischen Ordnungen auch hegemonial und damit gewalttätig sein können, ist die Auslegung einer Gewalthandlung, sofern sie im Kontext einer solchen Ordnung erfolgt, von ihnen abhängig.

e) Da die Beziehung zwischen t-Wahrheit und Gewalt geprüft wird, ist es sinnvoll, sich auf die Wahrheitsordnung zu beschränken.


Das Problem der Historisierung

Damit wären wir wieder bei der Ausgangsfrage dieser Diskussion. Sie sollte aber lauten: Definiert, stiftet oder beglaubigt eine t-Wahrheit in besonderer Weise Gewalt? Die Antwort ist: Ja. Entscheidend ist aber für mich der modale Ausdruck in besonderer Weise, der sich auf das Verb definieren, stiften oder beglaubigen bezieht. Nicht die Gewalt ist das Besondere, sondern der Modus, in dem sie hervorgerufen wird.

Nun stellt sich die Frage, seit wann es eine t-Wahrheit gegeben hat, die sich in besonderer Weise der Gewalt bediente. Da der Begriff Monotheismus ausfällt, kann die Antwort auch nicht auf einen "Ursprung" des Monotheismus bezogen werden. Wir müssen also danach Ausschau halten, seit wann es Belege für eine Ordnung gibt, die auf einer t-Wahrheit beruht.

Wie ich zu zeigen versuchte, steht der t-Wahrheit die Richtigkeit als Differenzierungspartner gegenüber. Eine t-Wahrheit kann es nur dann geben, wenn sie sich von der Richtigkeit unterscheidet. Der Ausgangspunkt ist damit nicht die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, sondern im Gefolge der Ausdifferenzierung von richtig in ein neues Paar wahr (ἀληθής) / richtig (ὀρθός) die Unterscheidung t-Wahrheit und Lüge. Diese Ausdifferenzierung kann, muss sich aber nicht in einer analogen Ausdifferenzierung von falsch (ψεῦδος) spiegeln. "Falsch" kann also das Antonym von wahr und richtig sein. Als Antonym von "wahr" meint "falsch" aber immer die Lüge oder das Leugnen.

Es gibt - soweit ich es überblicken kann - keine Sprache, die "wahr" und "richtig" eindeutig lexikalisch differenziert. Für beide Konzepte werden eine Vielfalt von Wörtern benutzt, deren Gebrauch erst klärt, ob "wahr" oder "richtig" gemeint ist. In philosophischen Systemen wird dies eher gemacht als in anderen Wissensfeldern. Eine Tendenz lässt sich aber feststellen: Dort, wo die t-Wahrheit im absoluten Sinne explizit angesprochen wird, wird sie durch ein mehr oder weniger eindeutig erscheinendes Lexem ausgedrückt. Die t-Wahrheit bildete sich in Bedeutungen ab, die entweder auf Treue, Standhaftigkeit oder Dauerhaftigkeit verwiesen oder eine Extension des Richtigkeitsbegriffs darstellten. Kurz: Entweder semantisierte sich die t-Wahrheit a) in der Richtigkeit / Gerichtetheit / Gerechtigkeit, b) in der Dauerhaftigkeit / Treue oder c) als Negation einer Verborgenheit. Im ersten Fall ist die Differenzierung schwieriger zu rekonstruieren als im zweiten und dritten Fall. Wir können uns damit behelfen, dass immer dann, wenn als Antonym die Lüge impliziert ist, von Wahrheit die Rede ist. Nun kann wohl kaum behauptet werden, dass "lügen" ein neues Konzept der Wahrheitsordnung darstellt. Lügen konnte man schon vorher. Das Neue ist also erst dann gegeben, wenn durch die wahr/richtig-Unterscheidung das Wahre einen absoluten Rang einnehmen konnte und damit die Eigenschaft zum Sachverhalt machte, wenn also das Wahre zur Ordnung wurde. Dies scheint mir, und hier stimme ich Jan Assmann völlig zu, die epistemische Voraussetzung dafür gewesen zu sein, dass sich diese Wahrheit singulär in einem Gott deutete. Zwei Einschränkungen möchte allerdings machen. Erstens handelte es sich hierbei nicht um eine Äquivalenzbeziehung, denn eine Singularisierung im Rahmen eines Götterkults führte nicht zwangsläufig zu einer Wahrheitsordnung. Zweitens besteht die epistemische Differenzierung der Sakralordnung (also die 'mosaische Unterscheidung') nicht in einer wahr/falsch-Unterscheidung an sich, sondern in der Umdeutung dieser alltagssprachlichen Unterscheidung als Vollzug der Transzendenz-Immanenz- Unterscheidung. Denn die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung kannte auch noch andere Vollzüge, man denke nur an die Unterscheidungen von Moral und Recht, von deduktiven Wissen und Erfahrung oder von dem Allgemeinen und dem Besonderem.

Fragt sich nun, auf wann die Ausdeutung von wahr/richtig als Wahrheitsordnung (sprich als t-Wahrheit) zu datieren ist. Hinsichtlich des Koran befinden wir uns auf sicherem Boden: Die frühen mekkanischen Verse sind Selbstoffenbarungen der Wahrheitsordnung, die Hegemonie (auch über den Götterkult) dadurch beansprucht, dass sie alles Seiende ihrer Macht unterstellt und damit am Ende der Tage das Seiende vernichten will. Die epistemische Einrahmung von Weltdeutungen durch eine Wahrheitsordnung kann für das Neue Testament und für größere Teile des Tanakh vorausgesetzt werden. Sie dürfte auch schon Teile der Awesta bestimmt haben. Auf die buddhistischen Definitionen einer "absoluten Wahrheit" und einer konventionellen Wahrheit sowie auf die vier logischen Wahrheitskategorien kann ich mangels Kompetenz nicht eingehen. Die buddhistische satya-Ordnung gehört aber sicherlich auch in die Klasse dieser Wahrheitsordnungen, die sich allesamt in logischen Systeme reproduzierten.

Die Selbstauslegung einer hegemonialen Wahrheitsordnung braucht nicht zwingend Götter oder besser einen Gott. Sie kann sich sehr unterschiedlicher Traditionen bedienen. Wie der koranische Mikrokosmos oder auch die griechischen Traditionen zeigen, kann sogar davon ausgegangen werden, dass die Selbstauslegung in einer Gottheit erst sekundär ist. Die Auslegung eines Gottes als Wahrheit, dessen Ordnung dann die Wahrheitsordnung ist, setzt die t-Wahrheit/Lüge-Unterscheidung voraus. Offenbar war hier der schon angesprochene pragmatische (zufällige) Zusammenhang maßgeblich: Denn dort, wo der Götterkult eine henolatrische Zuspitzung erfuhr und hierdurch sogar hegemonial werden konnte, ergab sich eine Passung zwischen Götterkult und Wahrheitsordnung. Die Vergöttlichung der Wahrheit (und parallel die Verteuflung der Lüge) transformierte aber notwendig den Gottesbegriff. Der Gott der Wahrheit war eben kein Gott. Dort, wo es keine Zuspitzung des Götterkults gab, legte sich die Wahrheitsordnung in eigenständigen Redeformen aus.

Die dogmatische Anerkennung einer sich in Göttlichkeit auslegenden t-Wahrheit wird in der islamischen Tradition tawḥīd genannt. Hierbei handelt es sich um einen terminologischen Neologismus, der wohl im 8. Jahrhundert gebräuchlich wurde. Der lexikalischen Bedeutung nach bezeichnet der Begriff eine "Ver-eins-ung", also einen Henotisierung. Das Henotisieren bezog sich natürlich nicht auf Wahrheitssysteme, sondern auf die wissentliche Bekundung und die Repräsentation des Eins-Seins Gottes und damit auf das Wissen des Menschen. Der Gottestreue henotisiert sein Wissen von der Göttlichkeit, indem er das Proprium der Göttlichkeit, eins zu sein, zur Wahrheit erklärt. Das Eins-Sein ist also die t-Wahrheit. Islamische Dogmatiker diskutierten dies dann in dem Sinne, dass die Wahrheit das Proprium der Göttlichkeit definiere und dass die Göttlichkeit nicht das Proprium der Wahrheit sein könne. Wenn aber die Wahrheit die Eigenschaft der Göttlichkeit ist, so ist auch die Göttlichkeit der Wahrheit unterworfen. Die Kategorie "eins" bezieht sich also nicht auf einen Gott, der sich seiner Konkurrenten entledigt hätte, sondern auf die Göttlichkeit. Da sie wahr ist, ist sie, und da sie ist. Das Sein der Göttlichkeit kann nur eins sein, denn verschiedene Sein-e (also nicht bloß Seinsweisen) sind undenkbar. Die "Eins"-Aussage bezieht sich demnach auf die t-Wahrheit, die sich in der Göttlichkeit auslegt. Diese Konfiguration der Deutung der t-Wahrheit erlaubte es muslimischen Dogmatikern, andere Traditionen, die ebenfalls die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung vollzogen haben, anzuerkennen. Sie gestattete es muslimischen Philosophen wie Ibn Rušd (Averroes) zu behaupten, dass sich die t-Wahrheit sowohl in dogmatischer und wie in philosophischer Hinsicht auslegen kann. Logischerweise ist dann auch der, der die rhetorische, dialektische und demonstrative Beweisführung leugnet, jemandem, der die Wahrheit leugnet, und damit jemandem, der die Prinzipien der Dogmatik leugnet, gleichgestellt. Andererseits seien die verschiedenen Denkweisen über die Welt nicht so absolut von einander entfernt, dass man einige davon für Leugnung erklären könnte und andere nicht. Muslimische Dogmatiker konnten daher andere Traditionen, die die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung vollzogen hatten, selbst dann anerkennen, wenn sie nicht die Henotisierung teilten, sondern "dualisierten" (Manichäer, Zoroastrier) oder gar "triplizierten" (Christentum). Bedingung für die Anerkennung war allerdings der Vollzug einer Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung.

Dies ermöglichte nun eine zweite Strategie, die Hegemonie der t-Wahrheit abzuschwächen. Die erste Strategie bestand ja im Geltungsanspruch der Richtigkeit gegenüber der Wahrheit, dem sich vor allem bestimmte Juristen verschrieben hatten. Die zweite Strategie bestand in der Relativierung des Geltungsanspruchs der Auslegung eigenen Wissens als Spiegelung der t-Wahrheit. Gewiss, muslimische Dogmatiker betrachteten dualistische oder triplizistische Auslegungen als Zeichen für Unaufgeklärtheit oder bisweilen schlicht für Dummheit, da eine Pluralisierung der Seinswahrheit unmöglich sei. Die Henotisierung genoss daher ein Privileg, das sich auch in einer sozialen Privilegierung wiederholte.

Historisch gesehen gingen aber beide Strategien nicht immer auf. In dem Moment, wo die Wahrheitsordnung als alleinige Referenz der Urteils- und damit der Normenbildung angesehen wurde und diese Deutung wiederum Geltung beanspruchte, da sie der Beleg für die Treue zur Henotisierung sei, bot sie einen wirksamen Rahmen für die Ausübung von Herrschaftsgewalt, die sich dann gegen Anhänger anderer Traditionen, aber auch gegen Juristen richtete. Unter den Bedingungen der alten Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung gab es kaum eine andere Möglichkeit, Herrschaftsgewalt jenseits persönlicher Machtansprüche zu interpretieren als durch den Verweis auf eine Wahrheitsordnung. Begründet wurde dies axiomatisch, also auch durch den Verweis auf eine Wahrheitsordnung. Nur handelt es sich nicht um eine t-Wahrheit, sondern um eine Wahrheit der Immanenzordnung, da zumindest für Theoretiker wie Ibn Ḫaldūn (gest. 1406) Herrschaftshandeln immer immanente Gewalt ist. Einen Gott als Erzwinger einer Ordnung kannte er nicht.

Ganz anders dachten islamische Dogmatiker, die den Geltungsanspruch der Wahrheitsordnung zu entgrenzen suchten und das Dasein selbst mit der Wahrheitsordnung in Übereinstimmung bringen wollten. Diese Auffassung bedingte erstens eine Integration des Rechts in die Deontologie, also die Setzung, dass die Wahrheit das Richtige bestimme, zweitens eine nominalistische und kasuistische Wirklichkeitsauffassung, wonach sich die Wahrheit in einzelnen, nicht abgeleiteten Regeln auslege und drittens die Übertragung der Erzwingungsgewalt an den Einzelnen, sofern er den ersten beiden Bedingungen genügte. Dies aber war im 14. Jahrhundert zunächst bloße Theorie, verfochten von berühmten Gelehrten wie dem Syrer Taqī d-Dīn Ibn Taymīya (1263-1328). Legitime Herrschaft sei nur dann gegeben, wenn sie ihre erzwingende Gewalt mit der sich in der Sunna deutenden Wahrheitsordnung in Übereinstimmung bringe. Dies ermöglichte nun nicht nur die Weiterung eines Widerstandsrechts, sondern auch die Selbstermächtigung, eine der Sunna konforme Ordnung durchzusetzen. Allerdings gewann diese Auffassung erst im 16. Jahrhundert an Bedeutung, als frühe islamische Puritaner Gemeinschaften bildeten, die für sich eine so legitimierte Erzwingungsgewalt reklamierten (zunächst in den Zentren des Osmanischen Reichs, dann auch in Indien und im 17./18. Jahrhundert auch in den Provinzen der islamischen Reiche).


Vorläufige Thesen

1. Jegliche Theorie hoher Komplexität, mit der eine Beziehung von Monotheismus und Gewalt modelliert und begründet werden soll, scheitert an ihren Voraussetzungen. Da der Monotheismus eine normative neuzeitliche Religionsordnung darstellt, die sich ihrer selbst und ihres Geltungsanspruchs dadurch vergewissert, dass sie das Vergangene als ihre Geschichte deutet, taugt er nicht, um die epistemischen Gestaltungen durch Traditionen, die vorneuzeitlich sind, auf den Begriff zu bringen. Das Gleiche gilt auch für den Begriff "Polytheismus". Wenn also von Monotheismus und Gewalt die Rede ist, dann kann es sich nur um eine Theorie handeln, die neuzeitliche und moderne Geschehnisse verallgemeinert. Entsprechend kann der Begriff "religiöse Gewalt" nur auf die Neuzeit bezogen werden.

Die theoretische Verallgemeinerung, die historisch bis in das 13. Jahrhundert v. Chr. zurückreicht, kann sich also nur auf die ordnungsstiftenden Episteme beziehen. Die weitestgehende Frage wäre also: Stiften Episteme Gewalt, legen sich Episteme in Gewalt aus oder bedürfen Episteme der Gewalt, um ihren Geltungsanspruch durchzusetzen? Der theoretische Grundbegriff ist damit die Ordnung der Episteme. Unter Episteme sind nicht nur Ordnungen gerechtfertigten theoretischen Wissens zu verstehen, sondern jegliche Ordnungen, die geregelte Deutungsprozeduren umfassen und die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens definieren. Episteme sind also Erkenntnis- und Wissensordnungen zugleich, die sich immer nur in konkreten Praktiken, Gestaltungen und Machtvollzügen fassen lassen. Eine Relation von Epistemen zu Gewalt ist allenfalls in dem Sinne zu bestimmen, wo die Episteme Ordnung generieren und damit Macht gestalten. Wenn also ein theoretischer Zusammenhang zwischen Epistemen und Gewalt bestimmt werden kann, kann dies nur im Kontext einer spezifischen epistemischen Ordnung geschehen. Die maximale Größe der Verallgemeinerung kann sich somit nur auf distinkt bestimmbare Episteme beziehen.

Epistemische Ordnungen sind historisch und nicht anthropologisch. Sie zeichnen sich durch einen stetigen Zuwachs an Komplexität durch Differenzierung aus. Eine sehr frühe epistemische Ordnung bildete sich auf der Grundlage der Differenzierung symbolischen Wissens in ein sakrales und ein profanes Feld. Sofern das Sakrale als Ordnung Geltung beanspruchte, deutete es sich auch in Gewalt (Opfer). Die sakrale Gewalt ist also die Gewalt, die die Sakralordnung als Machtvollzug auslegt und diesen ebenso wie andere performative Gestaltungen des Sakralen rituell durchsetzt. Diese Ordnung wurde fast immer als richtig und damit als gerecht bestimmt. Falschhandeln war daher im Kontext des Sakralen verletzen und gewaltsame Unterdrückung. Eine völlig neue Situation entstand mit der epistemischen Differenzierung der Sakralordnung mittels einer Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung. Diese Unterscheidung bezog sich zwangsläufig auf die alte Richtigkeits-/Gerechtigkeitsordnung, indem Richtigkeit transzendiert und damit zur t-Wahrheit werden konnte. Die t-Wahrheit ist also nicht nur transzendierte Richtigkeit/Gerechtigkeit, sondern zugleich eine Neudeutung von Richtigkeit, indem ihr nicht mehr das Verletzen ihrer Regeln, sondern die Lüge und das Leugnen gegenübergestellt wurde. Wann und wie sich diese Differenzierung herausbildete, lässt sich allenfalls nur noch erahnen. Sie hat sich sicherlich auch nicht als "Revolution" ausgestaltet, sondern war wohl eher ein schleichender über Generationen andauernder Prozess, der nach und nach Geltung über andere Deutungstraditionen erhob. Ich vermute, dass im 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr. diese epistemische Ordnung, die Wahrheitsordnung genannt werden soll, allmählich eine hegemoniale Stellung gewann (zumindest im östlichen Mittelmeerraum, in den Gebieten des Fruchtbaren Halbmonds und in Persien sowie in Indien und wohl auch in China).

2. Diese epistemische Differenzierung hatte also zunächst nichts mit der kultischen Zentrierung auf einen Gott in Form einer Henolatrie zu tun. Diese vollzog sich noch innerhalb der Sakralordnung. Zentrierungen dieser Art sind wahrscheinlich ziemlich alt und dürften der Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung deutlich vorangegangen sein. Die Wahrheitsordnung, die durch die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung ausgelöst wurde, war keine Kultordnung und daher zunächst auch nicht durch Götter ausgelegt. Sie konnte neben dem Götterkult adressiert werden und musste sich nicht zwangsläufig in einer Göttlichkeit darstellen. Andererseits bedeutet die kontingente Zentrierung des Götterkults auf einen Gott nicht, dass sich diese nur im Kontext einer Wahrheitsordnung vollzog. Einen Bedingungszusammenhang von Wahrheitsordnung und Kultzentrierung gab es nicht.

3. Die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung war in vielen Belangen erfolgreich und konnte nach und nach eine hegemoniale Stellung einnehmen. Sie konnte sogar den Götterkult deuten, das heisst ihn einer Wahrheitsordnung unterstellen. Hier gab es keine fixierten Grenzen. So war sogar denkbar, dass die Götter nicht wahr seien. Das musste aber nicht bedeuteten, dass sie nicht seien. Sie waren nur nicht wahr, sofern sich die Wahrheit als transzendente Ordnung darstellte. Aus dieser Sicht waren sie Götter in der Welt. Die t-Wahrheit tat daher gut daran, die Möglichkeit von Göttern in der Welt anzuerkennen.

4. Wahrheitsordnungen konnte sich immer nur im Rahmen ihrer Traditionen auslegen. Diese bildeten einen Gebrauchszusammenhang, der zu ihrer Umdeutung führte. Sofern eine Wahrheitsordnung hegemonial war, las und überlieferte sie ihre Tradition in ihrem Sinne.

5. Dieser hegemoniale Zugriff auf die Tradition wurde in dem Moment besonders bedeutsam, als die sich t-Wahrheit bemühte, ihre Hegemonie auch über den Götterkult auszudehnen. Hier gab es verschiedene Passungsstrategien. Die eine Möglichkeit bestand darin, die Götter einfach der Wahrheit zu unterstellen und sie als Unsterbliche in ein Mittelreich anzusiedeln. Eine zweite Passung hatte besonders dort Erfolg, wo die Kultzentrierung auf einen Gott auf Dauer gestellt war und in einer Tradition gesamthaft mythisch-narrativ ausgelegt wurde. Hier konkurrierte die Wahrheitsordnung mit einer Kultzentrierung, was vielleicht die Selbstauslegung der Wahrheitsordnung als Göttlichkeit zumindest anregte, wenn nicht sogar bedingte. Im Kern ging es um die Transzendierung des Propriums der Götter, nämlich Götter zu sein, also der Göttlichkeit, und um ihre Gleichsetzung mit der t-Wahrheit. Die t-Wahrheit bildete sich so nicht in einem Gott ab, sondern in der Göttlichkeit selbst.

6. Die Selbstauslegung der t-Wahrheit als Göttlichkeit hatte offenbar großen Erfolg. Es gelang ihr, die Tradition so zu kanonisieren, dass sie zum Beleg für die Wahrheitsordnung wurde. Die Kanonisierung blieb aber immer unvollständig, sodass auch heute noch die Verfasstheit der Traditionsgebräuche vor der Hegemonie der Wahrheitsordnung erkennbar ist.

7. Die Semantisierung der Wahrheitsordnung als Göttlichkeit bedingte, dass der t-Gott (die Abkürzung sei mir gestattet, um die sich in der Göttlichkeit auslegende t-Wahrheit zu bezeichnen) kultisch verehrt wurde. Göttlichkeit ohne kultische Verehrung war wohl undenkbar. Doch die Verehrung eines t-Gottes verlangte eine Performanz, die sich von der des Götterkults unterschied. Die Performanz war selten eine Innovation, sondern bestand meist (zumindest in der koranischen Tradition) aus einer neuen Kombination von einzelnen Kultgebräuchen. In einigen Fällen konnte sich sogar die soziale Institution des Priestertums erhalten.

8. Die epistemische Ordnung, die sich durch die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung ergeben hatte, fand ihren Ausgang in der Neuzeit, als die Wahrheitsordnung selbst einem Differenzierungsprozess ausgesetzt war, der zu einer neuen Fundamentalunterscheidung führte. Im Kern betraf sie die Ausdifferenzierung der Transzendenz in eine Religions- und eine Säkularitätsordnung. Auch dies war ein schleichender Prozess, der aber fast alle Traditionen betraf, die über eine Geschichte der Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung verfügten. Hegemonial (und damit historisch greifbar) wurde sie im 16. Jahrhundert und bestimmte bis in die Gegenwart hinein die Wissens- und Deutungsordnung. Die normativen Ordnungen eigneten sich gleichfalls ihre Traditionen an, radikalisierten zugleich den Zugriff und unterwarfen die Traditionen einer normativen Taxonomie, die der Selbstdeutung der Neuzeit entsprach. Dies war dann die Geburtsstunde des Monotheismus. Der Monotheismus ist also eine neuzeitliche Religionsordnung, die sich ihrer selbst und ihres Geltungsanspruchs dadurch vergewissert, dass sie das Vergangene als ihre Geschichte deutet.

9. Wenn nach einer Relation zwischen Traditionen und Gewalt gefragt wird, dann muss zwischen den epistemischen Ordnungen unterschieden werden, die sich in den Traditionen auslegten. Sakral-, Wahrheits- und Religionsordnungen definierten spezifische Bezüge zur Gewalt, die der "Logik" der sie tragenden Episteme unterstand. Natürlich konnte Gewalt auch immer im Rahmen des jeweiligen Differenzpartners ausgeübt werden (profane Gewalt, Gewalt innerhalb einer Immanenzordnung, Gewalt einer Gesellschaftsordnung). Eine Theorie hoher Komplexität, die Aussagen zu allen drei hier behandelten epistemischen Ordnungen macht, ist zwar gedanklich möglich, aber letzten Endes sinnlos. Sie könnte allenfalls in Sätzen wie "jede Ordnung begründet und/oder stiftet Gewalt" oder "jede Ordnung legt sich in Gewalt aus oder nutzt Narrative der Gewalt, um sich Geltung zu verschaffen" erfolgen. Eine Theorie, die zwischen den epistemischen Ordnungen zwar differenziert, aber die Gewaltbezüge vergleicht, braucht ein tertium comparationis. Dieses könnten sein: Regeln und Normativität, Gestaltung, Umfang und/oder Opfer. Man könnte also formulieren: Sakrale Gewalt ist im Unterschied zur religiösen Gewalt (ich überspringe hier einmal die Gewalt im Kontext der Wahrheitsordnung) grausamer aber weniger exzessiv. Oder man könnte sagen: Im Unterschied zur Sakralgewalt gründet die Gewalt im Rahmen der Wahrheitsordnung auf einer Norm, die die Gewalt erzwingt. Angesichts des sehr widersprüchlichen historischen Befundes sind solche Verallgemeinerungen fehl am Platz. Genauso verbieten sich Rückführungen wie: "Die religiöse Gewalt der Moderne ist in einer bestimmten normativen Wahrheitsordnung begründet". Nun ist offensichtlich, dass alle epistemischen Ordnungen Gewalt normativ begründen und stiften, sich durch Gewalt auslegen, sich durch Gewaltnarrative in Erinnerung bringen und Gewalt dulden. Keine der Ordnung legt normativ fest, dass die Gewalt lediglich ihrem Differenzierungspartner zugehörig sei.

10. Die Diskussion um die Frage der Beziehung von Monotheismus und Gewalt muss also aufgeteilt werden. Die erste Frage betrifft die vorneuzeitliche Wahrheitsordnung, die zweite die neuzeitliche Religionsordnung. Wie ich zu zeigen versuchte, übernahm die Wahrheitsordnung in dem Moment, wo sie sich als Göttlichkeit auslegte, ein Prärogativ der Götter, nämlich zornig zu sein und strafen und vergelten zu können. Sie unterschied zwischen Treue und Untreue, Bewahrheitung und Lüge. Sie verlangte Gehorsam und stattete sich mit einer normativen Ordnung aus, der Zwang bedeuten konnte. Sie konnte verlangen, dass die Untreuen zu bekämpfen oder gar zu töten seien. Gewalt war also nicht Gabe, sondern Beweis der Treue. Doch keine Tradition, in der die Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung vollzogen wurde, legte sich ausschließlich so aus. Vielmehr beschränkte sich die Wahrheitsordnung selbst, indem sie ihre Strafdrohung und ihre Gewalt auf das Ende aller Zeiten verschob. Andererseits aber begründete die t-Wahrheit die Möglichkeit einer spezifischen Klassifikation der Menschen nach Freund und Feind und die Möglichkeit der Selbstauslegung der Wahrheitstreuen, als Zeichen ihrer Treue die Wahrheit durchzusetzen. Die t-Wahrheit nun entschied nie, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde.

11. Die t-Wahrheit liebte es, sich mit Drohgebärden und Erinnerungsnarrativen an gewaltsame Strafen Treue zu erzwingen. Das war "systemimmanent", denn eine t-Wahrheit, die nur noch eine reduzierte Kultperformanz hatte, brauchte eine Daseinsbestätigung jenseits der Kultordnung. Alte Erinnerungsnarrative waren hier funktional. In dem Masse, wie sich die t-Wahrheit ihrer Tradition bediente, legte sie sich auch in den Erinnerungsnarrativen dieser Tradition aus. Eine t-Wahrheit brauchte auch und gerade Erinnerungsnarrative, die in einer Sprache der Gewalt ausformuliert wurden. Aber als historisches Geschehen können diese Narrative nicht gelesen werden. Sie haben ja ihren Sinn nur dadurch bekommen, dass sich die t-Wahrheit ihrer bedient und sie diese durch diesen Gebrauch neu semantisiert. Je wilder die Erinnerungsnarrative, desto mehr Geltung verschaffte sich die Wahrheitsordnung. Andererseits kann es natürlich sein, dass in diesem Bericht die t-Wahrheit überhaupt noch keine Rolle spielte und dass hier der Geltungsanspruch der Kultzentrierung auf einen Gott gemeint ist. Dann aber gehört der Bericht nicht in die Diskussion um die Wahrheitsordnung, sondern müsste Teil der Diskussion der Sakralordnung sein.

12. Wenn sich die Wahrheitsordnung in Rechtssetzungen auslegt, dann ist notwendig Gewalt im Spiel. Nur: Nicht jede Rechtssetzung ist ein Beleg für die Wahrheitsordnung. Bestimmungen der Formel "wenn …, dann …" sind reichlich aus der Zeit vor einer Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung belegt. Solche Bestimmungen sind Setzungen eines Herrschers oder konventionalisierte Normen. Anders im Falle von akteur-neutralen deontologischen Geboten des Typs "du sollst (nicht)". Hier ist es meistens die t-Wahrheit, die ein Befehl erteilt ein Gebot oder ein Verbot erlässt, das zum Zweck hat, der Wahrheit Geltung zu verschaffen.

13. Es ist alles andere als einfach, den Geltungsanspruch einer Wahrheitsordnung in einer Texttradition zu belegen. Um einen Ausgangspunkt für eine Wahrheitsordnung bestimmen zu können, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: a) die Selbstauslegung einer t-Wahrheit erfolgt mittels eines Texts, das heisst, die Wahrheit muss selbst sprechen; b) der sich in diesem Text Äußernde muss seine Ordnung durch Soll-Bestimmungen zu erkennen geben; c) der sich so Äußernde muss diese Ordnung als Wahrheit bestimmen und d) diese Ordnung muss mit einem konventionellen Begriff von Gerechtigkeit interpretiert werden.

Sekundär hingegen ist zunächst, wie sich die t-Wahrheit selbst bezeichnet. In keinem mir bekannten Fall erschuf sich die t-Wahrheit einen neuen Namen. Daher handelt es sich immer um Umdeutungen bestehender Begriffe, die vielfach auf eine (gerichtete) Richtigkeit, richtige/gerechte Ordnung, auf Dauerhaftigkeit oder auf dauerhafte sichere Treue verweisen. Die t-Wahrheit wurde also im Kontext einer richtigen, auf Dauer gestellten, wirklichkeitstreuen Ordnung, die Gerechtigkeit stiftet, semantisiert. Einige Traditionen der Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung semantisierten diese Ordnung durch Gottesbegriffe. Wie ich zu zeigen versucht habe, hatte dieser Eingriff der Wahrheitsordnung in den Götterkult weitreichende Folgen, insofern er nach und nach zu einer radikalen Transformation des Götterkults führte.

14. Das Eigentümliche der t-Wahrheit ist, dass sie Wissenswahrheit und nicht Glaubenswahrheit war. Sie unterlag damit der Exegese und zugleich den deduktiv-rationalistischen Diskursen, mit denen Wissen gestaltet wurde. Für islamische Dogmatik waren die Wissensgestaltungen, mit denen die Wahrheit ausgelegt wurde, theoretischer Natur. Der Erfassung und Zusammenstellung der Normen hingegen war empirischer Natur, insofern die einzelnen Setzungen der Normen aus einem empirisch fassbaren Bestand an Überlieferungen (sei es die Prophetentradition, sei es die Gewohnheit) gefasst werden konnten. Die Wahrheit konnte sich so nicht einfach als empirisch fassbare Größe darlegen. Sprache und Logik bestimmten demnach die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen. Daher war die Wahrheit selbst in gewisser Hinsicht theoretisch. Der Vorteil der t-Wahrheit ist, dass sie nicht empirisch überprüfbar ist; ihre Schwäche ist, dass sie sich in einer empirisch überprüfbaren Welt keine Geltung verschaffen kann. Solange also die t-Wahrheit nicht behauptet, die Wirklichkeit zu sein, ist ihre Macht begrenzt. Sie kann sich erst dann entfalten, wenn sie der Wirklichkeit ein Ende bereitet, und das ist erst beim Jüngsten Gericht der Fall. Zumindest für muslimische Gelehrten, aber natürlich nicht für alle, waren konnte sich die Gewalt der Wahrheit nicht unmittelbar in der Wirklichkeit zeigen.

15. Eine t-Wahrheit, die sich in einer Göttlichkeit auslegte, bannte die Gewalt der Götter, indem sie deren Gewalt 'henotisierte'. So, wie es nur eine Göttlichkeit geben konnte, konnte es nur eine Gewalt geben, die die Göttlichkeit zu eigen hat. Zur 'veritablen Gewalt' , also zu einer Gewalt, die die Eigenschaft gewaltsam hat, konnte sie nur werden, wenn sie die Grenzen ihrer Macht überschritt. Das war dann der Fall, wenn Menschen die Wirklichkeit der von ihnen ausgelegten Wahrheitsordnung unterwarfen, also wenn wirklich wird, was wahr ist. In dieser Situation erst entstand das Problem der 'veritablen Gewalt'. Denn wenn wahr ist, dass der Leugner der Wahrheit ein Sünder ist, dann ist er es auch in der Wirklichkeit der Wahrheitstreuen. Und wenn er es in der Wirklichkeit ist, dann ist mit dem Leugner so zu verfahren, wie es die Wahrheitsordnung besagt.