Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Rabea Edel: Das Wasser, in dem wir schlafen. Teil 2

13.02.2006.
"Ich trage deine Schwester aus", das sagte sie, seit sie sich entschlossen hatte, den blauen Streifen auf dem Testgerät nicht mehr ignorieren zu können, nachdem sie, eine Stunde lang im Badezimmer über die Kloschüssel gehockt, immer und immer neue Plastikstäbchen in ihren warmen Urin gehalten und die Ergebnisse nebeneinander auf der Heizung aufgestellt hatte, um zu prüfen, ob sie alle, wirklich alle, den gleichen dunkelblauen Streifen zeigten. Und dieses Austragen klang wie eine Aufgabe, ein Fortbringen von einem Ort an einen anderen.
     "Freust du dich nicht?" hatte Vater damals, die Arme um Mutters Taille geschlungen, leise gefragt, er hatte sich hinuntergebeugt, und Mutter hatte den Kopf gedreht, so daß sein Kuß ihre Wange verfehlte.
     "Doch, natürlich", hatte Mutter geantwortet, "und ich werde froh sein und erleichtert, wenn es vorüber ist."
     Vater hatte gelacht und seine Hände gelöst.
     "Natürlich wird es ein Mädchen, was sonst?" hatte Mutter auf Vaters Blick hin hinzugefügt und ihn ernst und ein wenig trotzig angesehen.
     Drei Wochen lang schwieg meine Mutter, sie wusch sich nicht, aß nicht, trank literweise Kamillentee, den Vater ans Bett brachte. Der Fernseher lief ohne Ton, und Mutter schlief davor oder las erst ihre alten und dann meine Kinderbücher, blätterte wahllos in Magazinen herum, schnitt Kochrezepte und Modetips aus den Zeitschriften, die sie achtlos neben das Bett fallen ließ, und ab und zu legte Vater mich zu ihr auf die Überdecke, und ich schlief neben ihr ein.
     Vater nahm Urlaub. Er verbrachte die Nächte auf dem ausgezogenen Sofa im Wohnzimmer, tagsüber kratzte er Tapeten von den Wänden, verputzte und strich, zog Dielen ab und lackierte das Holz, bis es glatt war und glänzte.
     Kam Vater an Mutters Bett, kroch ich auf seinen Schoß, und Mutter zog die Bettdecke bis unter das Kinn.
     "Bist du dir sicher?" fragte er, und Mutter nickte.
     "Gut", sagte Vater und machte sich daran, mein Kinderzimmer in einem hellen Gelb zu streichen, und weil Vater zuviel Verdünnungsmittel nahm und die Farbe in Augen und Nase biß, blieb ich in diesem großen Bett und rollte mich neben meiner Mutter auf Vaters Seite zusammen. Ich legte meinen Kopf auf Mutters Bauch und spürte, wie Lina unter der Bauchdecke nach meinem Kopf griff. Ich hielt die Luft an, wartete, bis Mutters Bauch oder meine Schwester darin den Impuls zum Einatmen gab, unwillkürlich und beruhigend, und atmete so, wie ich dachte, im Rhythmus meiner Mutter und meiner Schwester zugleich, bis sie mich wegschob, zur Seite rollte und auf der Stelle leise zu schnarchen begann.
     Nach drei Wochen war der Spuk vorbei.
     Mutter stand auf, stellte sich in die Dusche, drehte das Wasser auf, kam mit rotglänzender Haut und lächelnd nach einer halben Stunde aus dem Badezimmer, eingewickelt in ein großes Frotteetuch, und Vater legte mich in das gelb leuchtende Zimmer, öffnete das Fenster, schloß die Tür, und sie schliefen zum erstenmal wieder miteinander, stumm und gierig und ohne Erwartungen, und Lina drehte sich in Mutters Bauch, so fest und unerwartet, daß sie leise aufschrie.

Gregor nimmt seinen Mund von meinem Fuß, er spuckt neben sich auf die Veranda, sieht mich an und hält meinen Knöchel fest.
     "Woher willst du das wissen?" sagt er.
     "Weil sie es mir so erzählt hat", sage ich.
     Gregor dreht den Kopf. Es regnet, ein dünner Schleier überzieht den Garten, den Wald, der am Ende des Gartens hinter unserem Zaun beginnt. Durch die Bäume kann man den See sehen, ein paar blaugraue Ausschnitte, die verschwimmen, wenn man sie zu fixieren versucht.
     "Soll ich dir ein Pflaster holen?" fragt er.
     "Nein", sage ich, "du sollst hier sitzen bleiben und mir zuhören."
     "Sollten wir nicht lieber -", setzt er an, und ich schüttele den Kopf.
     Gregor verstärkt seinen Griff um meinen Knöchel.
     "Laß meinen Fuß los", sage ich.
     Er drückt zu und schaut mich an.
     "Gregor."
     "Ja?"
     "Was soll das?"
     "Erzähl weiter", sagt er und lächelt weich; sein Lächeln, auf dem ich ausrutsche.

Sechs Monate später saßen wir in der Küche. Vater stellte das Radio an, nahm meine Mutter am Arm und schob sie die Treppe hinauf.
     Draußen auf der Schaukel wippte ich zu Mutters Wimmern mit den Füßen und versuchte mich auf meine Schwester zu konzentrieren. Ich sah das Katzenjunge vor mir, das der Nachbar am Tag zuvor in der Regentonne ertränkt hatte, ich sah sein verklebtes Fell, und ein süßer Geruch wie von Katzenpisse stieg mir in die Nase. Auf der Tonne lag seit dem Morgen ein runder Holzdeckel mit einer Öffnung für das Regenrohr, ich hielt die Schaukel mit den Füßen im Sand an, ich kaute an meiner Wange und stellte mir das Katzenjunge vor, das am Boden in grünem Moos und Schimmel lag, die Augen geschlossen, Wasser atmend.
     Vater beugte sich aus dem Fenster im ersten Stock und winkte. Die Sonne war hinter dem Wald versunken, und in der Dämmerung erkannte ich sein Gesicht nicht sofort. Ich lief durch das Blumenbeet über die Veranda ins Haus, im Vorbeigehen zog ich meine Jacke aus und deckte das Nest zu, damit die Vögel nicht frören.
     Ich klopfte meine Schuhe ab, lief die Treppe hinauf, es war still, so daß man die Stufen knarren hörte, im Schlafzimmer hatte Vater das Fenster wieder geschlossen und die Vorhänge zugezogen, der runde Lichtschein der Nachttischlampe warf Schatten in die Zimmerecken. Mutter sah mich ausdruckslos an. Zwischen ihren Brüsten lag meine Schwester, in ein dünnes Handtuch und Alufolie gewickelt, sie hatte die Augen geschlossen und atmete durch den offenen Mund. Mutter bewegte sich nicht. Ich blieb in der Tür stehen, aber Vater lachte und gab mir einen Stoß in den Rücken, so daß ich in dem Augenblick zum Bett stolperte, als Lina die Augen öffnete und mich mit ihrem gelben Blick ansah.
     Das ist das erste Bild, das ich von Lina habe. Die gelben Pupillen, die erst mit der Zeit nachdunkelten, und der rote Haarflaum auf ihrem Kopf, auf Schultern und Armen, der sie zwei Monate lang warm hielt. Als er ausfiel, war die Haut, die darunter zum Vorschein kam, weiß und glatt, mit durchscheinenden Venen, so wie die Haut unserer Mutter.
     Ich stellte mich damals regelmäßig an ihr Kinderbett, setzte einen Kugelschreiber an und malte die Bahnen und Verästelungen auf den Armen und auf ihrem Kopf nach. Die Mine drückte in Linas Babyspeck, sie verzog nur den Mund, hielt still.
     Eine Woche nach Linas Geburt stand Mutter das erste Mal am Fenster und starrte in den Garten, bewegungslos und einen ganzen Tag lang. Über dem Vogelnest schwirrten die Fliegen, die Amsel saß blickweit entfernt auf einem Ast. So gesehen war es Linas Schuld.

Teil 3