Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparros: Wir haben uns geirrt. Teil 2

26.07.2010.
Verlarde war spindeldürr, als wollte er jedem sein Skelett zeigen. Ich misstraue solchen Menschen. Außerdem störte mich an ihm, dass er so bemüht war, mir zu gefallen. Dabei war doch er derjenige, der mir einen Gefallen tat, indem er mir eine Geschichte erzählte, hinter der ich angeblich so viele Jahre her gewesen war.
     "Nein, die Freude ist ganz meinerseits. Als Giovannini mir sagte, du wolltest mich sehen, habe ich gleich zugesagt."
     Dass er mich duzte, fand ich etwas voreilig, aber ich sagte nichts: Das waren immer so die Momente, in denen ich das Gefühl hatte, alt zu sein. Im Grunde war es logisch, dass er mich duzte: Wenn er mit Estela im selben Geheimgefängnis gewesen war, waren wir beide von Anfang an so etwas wie ehemalige Kampfgenossen - oder zumindest Opfer - dieser Jahre.
     "Also, vorab wollte ich dir sagen, wenn es dir unangenehm ist oder dir wehtut, darüber zu reden, brauchst du es nicht zu tun. Ich will dir nicht unnötig das Leben schwer machen, ehrlich."
     Vielleicht wartete ich noch darauf, dass er darauf einging und sagte, ja, danke, er könne es nicht, er könne es nicht länger ertragen, über die damalige Zeit zu sprechen; das beklemmende Gefühl, wenn er sich all die Szenen wieder in Erinnerung rief, nur um einem Unbekannten wie mir einen Gefallen zu tun, ginge über seine Kräfte. Das Grauen immer wieder zu durchleben sei für ihn schon fast zu einer professionellen Tätigkeit geworden, und er fürchte, es werde so zur Farce, zu einer Reihe von Gemeinplätzen reduziert. Es sei eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, dass er sich immer wieder, Jahr für Jahr, wie in einer Endlosschleife, an jene Tage erinnern müsse. Er wolle nicht resignieren und sich der allgemeinen Ansicht beugen, diese Zeit des Schreckens und der Angst sei das Wichtigste - und das Denkwürdigste -, das ihm je im Leben widerfahren war. Doch Velarde legte beruhigend die Hand auf meinen Arm.
     "Ach was, überhaupt nicht. Das bin ich dir schuldig. Dir und allen anderen. Ich schulde euch mein Zeugnis. Es tut mir gut, darüber zu sprechen, keine Sorge. Es ist schwer, aber es tut mir gut."

Am Tisch zu meiner Linken tranken zwei Frauen Tee, die aus einem anderen Film zu stammen schienen. Mit der zentnerschweren Puderschicht auf den Wangen kamen sie mir steinalt vor, obwohl sie vermutlich in meinem Alter waren. Zu meiner Rechten spielte eine gelangweilte Touristenfamilie - Vater Mutter zwei Kinder - Karten; in letzter Zeit wurde die Stadt von Ausländern förmlich überschwemmt, die den günstigen Wechselkurs für eine Shopping-Tour nutzten und zum Schein ein paar Museen und irgendeine so genannte Kulturveranstaltung besuchten. Durch das Fenster hinter ihnen sah man eines dieser Plakate, die damals überall klebten: Ein anderes Land ist möglich. Velarde sagte, selbst wenn er noch tausend Jahre lebte, das Grauen von Aconcagua, das eines der schlimmsten Geheimgefängnisse des Landes gewesen sei, könne er nicht vergessen. Es kam mir so vor, als habe er diesen Satz schon oft gesagt - und ich hatte schon genügend minutiöse Berichte über dieses Grauen gehört. Wieder einmal dachte ich, dass Argentinien voll war von Leuten, die detaillierter über diese Welt der Finsternis Bescheid wissen wollten als etwa über den Job ihres Bruders, die Programme der künftigen Regierung oder die Klauseln ihres Mietvertrags. Bestimmt genossen sie den Mehrwert an bürgerlichem Bewusstsein und menschlicher Sensibilität, die ihnen das Anhören dieser Berichte verschaffte. Ich zählte nicht zu diesen Leuten - und irgendwann begann ich mich deswegen als Deserteur zu fühlen; ich beruhigte mein Gewissen, indem ich mir sagte, ich müsse nur in groben Zügen über die Politik Bescheid wissen und nicht über jedes blutrünstige Detail. Ich weiß nicht, ob es mir gelang, mich selbst zu überzeugen.
     "Wie soll ich sagen? Es war ein Ort, für den Gott sich schämen sollte. Da ist keiner mit dem Leben davongekommen, keiner. Weder die Schuldigen noch die Unschuldigen. Weder die Opfer noch die Henker."
     Die geschminkten alten Schachteln waren verstummt, setzten eine unbewegte Miene auf und hörten uns unerschrocken zu: weitere Opfer vom Glamour des Schreckens. Die Touristenfamilie warf weiter ihre Karten auf den grauen Kunststofftisch. Velarde sagte, es gäbe keine zuverlässigen Zahlen, aber er schätze, in Aconcagua seien mehr als zweihundert Menschen getötet worden: Schlimm, sagte er, ist das nicht schlimm?
     "Ja, klar. Verzeih mir die Frage, aber wie bist du da rausgekommen?"
     "Wart?s ab. Ich werd dir alles erzählen, keine Sorge. Aber gib mir ein wenig Zeit."
     Er hatte Recht: Ich durfte ihn nicht drängen. Ich bestellte mir einen zweiten Kaffee. Velarde wollte nichts. An der knochigen Hand trug er einen fetten Siegelring - und die Manieren des Versicherungsvertreters kamen ihm allmählich abhanden. Das Lokal war proppenvoll; ich wunderte mich, dass ich keinerlei Lärm hörte.
     "Wirklich: Die Schreie, die Gesichter, das werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Da war ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren, der hatte die ganze Zeit über so ein erstauntes, überraschtes Gesicht, als könne er nicht verstehen, was zum Teufel mit ihm gerade geschah, und da war niemand, den er hätte fragen können. Manchmal erinnerte er mich an meine kleine Schwester an dem Tag, als wir sie zum ersten Mal mit auf die Geisterbahn nahmen und sie es mit der Angst bekam und weinte und am Ausgang meine Eltern immer wieder fragte, warum man sie an einen solch grauenvollen Ort mitgenommen hatte. Sie hatte ihnen vertraut und sie hatten sie reingelegt, verstehst du?"
     Ich wollte ihm nicht länger zuhören, ich war hier, damit er mir von Estela erzählte und nicht von seinen Albträumen. Aber ich wusste nicht, wie ich ihn hätte stoppen sollen.
     "Dieser Junge brachte mich um den Schlaf, ehrlich. Manchmal bat e«r um Wasser, und ich gab ihm heimlich welches. Doch sie prügelten weiter auf ihn ein wie auf einen Sack, und ich konnte nichts tun."
     "Klar, was hättest du tun sollen."
     "Nein, nein. Manchmal konnte ich das. Ich hab ein paar Leute gerettet, so wahr ich hier sitze."
     "Wie, Leute gerettet?"
     "Aber ja doch. Glaubst du mir nicht?"
     "Doch, darum geht es nicht. Ich verstehe nur nicht, wie du das angestellt hast. Es ist schon ziemlich merkwürdig, dass du dich retten konntest, und jetzt behauptest du, du hast noch andere gerettet."
     "Halt, entschuldige. Hat Giovannini dir erklärt, worum es hier geht?"
     "Ja. Glaube ich zumindest. Ich soll dich hier treffen, weil du in El Aconcagua warst und mir etwas über meine Frau erzählen kannst."
     Velarde - sein dünner Körper, sein noch dünnerer Hals, sein auf- und abtanzender Adamsapfel - rieb sich die schwitzigen Hände: Stört es dich, wenn ich eine rauche? Nein, mach nur. Velarde rief den Kellner, bestellte einen Gin mit zwei Eiswürfeln, und fing an, seine Geschichte zu erzählen: Vater Vorarbeiter in der Fabrik - streng, fanatisch, Peronist -, dem es mit großer Anstrengung gelang, seine drei Kinder zur Schule zu schicken und der den Jüngsten überredete, die Unteroffiziersschule zu besuchen, um in den Genuss der Sicherheit und der Vorteile einer militärischen Laufbahn zu kommen. Velarde hatte auf ihn gehört - wie in fast allen Dingen, sagte er und lächelte, um das "fast" zu unterstreichen - und wurde 1968, während der Militärdiktatur, Obergefreiter der Infanterie. Bei den ersten Standorten, sagte er, musste man schon opferbereit sein: eine Kaserne im Urwald von Salta, ein Posten im Norden von Neuqen, in der Nähe der Anden. Es war mehr als offensichtlich, worauf das alles hinauslief, aber ich wollte es noch nicht wahrhaben. Ich stellte mir vor, wie er mir gleich erzählen würde, dass seine eigenen Kameraden Jahre später hinter seine politischen Aktivitäten gekommen waren und ihn festgenommen, gefoltert und am Ende wegen seiner Zeit beim Militär begnadigt hatten. Er hielt sich bei Details auf, als wolle er nie zum Punkt kommen. In einem gierigen Zug stürzte er den halben Gin hinunter. Das Auf und Ab seines Adamsapfels störte mich. Oder war es die Art, wie Velarde mich ansah, während er sprach, fast flehentlich?
     Er war diensteifrig gewesen, und, wie er sagte, willfährig: Ich war imstande, jeden Befehl auszuführen, jeden, selbst den dümmsten, sagte er, als wolle er vorwegnehmen, was kam: Ich war das wohlgeratene Resultat de«r Ausbildung, weißt du, du wirst darauf gedrillt. Aber mit seiner Karriere ging es nicht voran; 1975, sagte er, habe einer seiner ehemaligen Vorgesetzten aus Neuquen ihn aus Buenos Aires rufen lassen und ihm gesagt, er habe die perfekte Aufgabe für ihn: Ein vertraulicher Posten, habe er gesagt - Velardes Gesichtsausdruck bei dem Wort "vertraulich" vermochte ich nicht zu deuten -, wo Velarde seine Berufung für den Militärdienst und seine patriotische Gesinnung unter Beweis stellen und wo er rasch aufsteigen könne, wenn das alles vorbei sei, wenn er in die Normalität zurückkehre, und wo er, auch das, ein ordentliches Sümmchen extra verdienen könne. Velarde hatte nicht gefragt, um was es ging. Er habe gedacht, allein die Frage hätte Zweifel an seiner Bereitschaft aufkommen lassen, und geantwortet, mit Vergnügen, Herr Hauptmann, alles, was Ihnen und unserem Vaterland dient.

Alles hatte mit dem Geruch angefangen. Oder, ich weiß nicht, ob wirklich alles damit angefangen hatte, aber der Geruch ist das Erste, an das ich mich erinnere: An die Nacht, in der ich diesen fauligen Gestank wahrnahm und nach ein paar Minuten feststellen musste, dass er aus meinem Körper kam.

Ich sah nicht länger in sein Gesicht, ich sah auf seine Hände, auf meine Hände auf dem grauen Kunststoff, durch die Fenster des Cisne, auf das Andere Mögliche Land, die Straße weiter hinten. Und da begriff ich und wollte nichts mehr hören: Ich wusste, wie die Geschichte weiterging, die Einsatzwagen, die Entführungen, die Ermordungen, all das vorgetragen mit zerknirschtem Gesichtsausdruck und in einem Tonfall, der vermitteln sollte, dass alles ein Fehler gewesen war.
     "Entschuldige, aber könntest du vielleicht zu Aconcagua kommen?"
     "Nur Geduld. Um dir das erzählen zu können, musst du wissen, wer ich bin, verstehst du?"
     Ich wollte aber nicht wissen, wer er war. Es widerstrebte mir. Und ich verstand nicht, warum ich noch länger mit ihm - einem Unterdrücker, einem Folterer, einem Mörder, sagte ich mir - an einem Tisch saß und ihm noch länger zuhörte und ihn wie einen normalen Menschen behandelte. Vor allem verstand ich nicht, warum ich ihn nicht mit allem Hass der Welt betrachtete und mir ein furchtbares Ende für ihn ausdachte: Rache.
     "Ich habe allen möglichen Scheiß gemacht. Klar, warum soll ich dir davon erzählen. Du willst das alles nicht hören, ich kann dich ja verstehen. Aber eines muss ich dir unbedingt erzähle. Ich weiß nicht, warum ich es ausgerechnet dir erzähle, aber ich will, dass du es weißt. Die ersten Male war es abgefahren. Es ist abgefahren, wenn du merkst, du hast die Macht, zu tun, was du willst, du kannst einem Kerl einen Stab von einem Meter in den Arsch schieben, und keiner sagt was. Ganz schön vertrackt, wirklich - das ist schon ein komisches Gefühl, wenn du weißt, du kannst alle möglichen Sachen, für die andere teuer bezahlen müssen, einfach so machen, für lau. Das macht dich kirre, du fühlst dich groß, überlegen, wie einer, der über allen anderen steht, und da rutschst du echt leicht ab, du glaubst, du kannst dir alles leisten, völlig abdrehen. Du merkst, du bist nicht mehr du, alles hat sich verändert. Aber das ist nur in den ersten Tagen so, bei den ersten Malen. Dann gewöhnst du dich dran, und all das, was dir erstmal komisch vorkam, was jeder andere für verrückt halten würde, ist für dich normal, alltäglich, und du erledigst es wie andere eine Tabelle ausfüllen. Ganz einfach: Man gibt dir einen Befehl, und du befolgst ihn. Du machst, was man dir sagt, du machst es gut, ohne schlechtes Gewissen. Ich müsste dir das nicht erzählen, aber weißt du was?, das war die friedlichste Zeit meines Lebens, um nicht zu sagen, die glücklichste: Ich tat, was ich tun musste, und damit hatte ich mein Soll erfüllt, man bezahlte mich, man «war zufrieden mit mir, es ging mir gut, und ich hatte noch dazu das Gefühl, etwas Bedeutendes zu leisten. Nicht wie bei den meisten Jobs, mit denen du dein Geld verdienst; nein, es war eine besondere Aufgabe, die das Land vor dem Chaos, der Katastrophe retten würde. In dem Punkt hatten wir etwas gemein, ihr hattet auch dieses Gefühl, nicht wahr? Klar, du wirst jetzt dagegenhalten, das ist doch nicht dasselbe, was wir getan haben, ist furchtbar gewesen, aber auch ihr wart zu so was gezwungen, und du weißt, dass du nach den ersten Malen nicht mehr darüber nachgedacht hast, man gewöhnt sich dran. Ich sage dir, Befehle zu befolgen, ist ein Segen: Musste ich etwas holen, holte ich es, sollte ich mit einem Kerl etwas Bestimmtes machen, tat ich es."
     Ich sah ihn an - jetzt sah ich ihn sehr wohl an, beschämt, neugierig - und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich musste irgendetwas tun, aber was? Vielleicht sollte ich aufstehen und gehen, vielleicht sollte ich ihm ins Gesicht sagen, was ich über sein Verhalten und seine Geschichten dachte - was ich dachte? -, oder vielleicht durch das ganze Lokal brüllen, dass dieser Mann ein Folterer war. Aber ich tat es nicht. Einen Moment lang hatte ich an ein vor der Schlange erstarrtes Kaninchen gedacht: ein abgenutztes, kitschiges und zudem unpassendes Bild. Velarde wollte mich nicht fressen. Ich wusste nicht, was er wollte.
     "Ja, wirklich, es war ein sorgenfreies Leben. Vielleicht wär?s ja so weiter gegangen, und ich wär jetzt reich oder würde in Zimbabwe Schafe züchten, wer weiß."

Das Seltsame war dieses stetige Gefühl von Abschied. Ich sah Leute und dachte, sie werden sterben und ich sehe sie nie mehr wieder: Ich sah sie an, wie man etwas zum letzten Mal ansieht. Aber aufgesucht hatte ich ihn wegen des Geruchs. Es war mein Fehler gewesen: Ängstlich, verstört durch den anhaltenden Geruch, war ich zum Arzt gegangen.

Teil 3