Magazinrundschau - Archiv

Dissent

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Magazinrundschau vom 06.12.2022 - Dissent

Die Demonstrationen im Iran für Frauenrechte haben eine Vorgeschichte, die bis zur Mitte des 19. Jahrhundert zurückreichen, als eine Frau namens Qurrat al-Ayn, die wichtigste Anführerin der Babi-Bewegung, sich in einem radikalen Akt öffentlich entschleierte, erzählen Janet Afary und Kevin B. Anderson in einem sehr instruktivem Aufsatz. "Unter anderem aufgrund ihrer Enthüllung kam es zu einer Gegenreaktion gegen die Bewegung und ihre Forderungen. Der königliche Hof und hohe Geistliche ordneten an, die Babis zu massakrieren, angefangen bei ihren Anführern, darunter Qurraat al-Ayn, die 1852 starb. Die Lage der iranischen Frauen hatte sich bis zur Wende zum zwanzigsten Jahrhundert nicht verbessert. Sie lagen weit hinter den aserbaidschanischen Schiiten des Südkaukasus (die unter russischer Kolonialherrschaft lebten) und den sunnitischen Muslimen des Osmanischen Reiches zurück. Im Südkaukasus erhielten muslimische Frauen der Mittel- und Oberschicht eine Ausbildung, und muslimische Philanthropen waren damit beschäftigt, palastartige Schulen für Mädchen zu bauen. In der Türkei waren die Dinge sogar noch weiter fortgeschritten: 1842 wurde die erste medizinische Schule für Hebammen eröffnet, 1861 die erste weiterführende Schule für Mädchen eingerichtet und 1870 die erste Lehrerinnenschule für Frauen gegründet. Im Gegensatz dazu gab es im Iran keine Schulen für muslimische Mädchen, vor allem wegen des hartnäckigen Widerstands des schiitischen Klerus. Diese Situation änderte sich dramatisch mit der Verfassungsrevolution von 1906, die dem Land eine parlamentarische Demokratie nach europäischem Vorbild, eine Verfassung nach dem Vorbild der belgischen Verfassung von 1831 und ein fortschrittliches Grundgesetz brachte. ... Hochrangige Kleriker waren über diese Entwicklungen empört. Sie bezeichneten die progressiven Verfassungsrechtler als 'Atheisten' und warnten, dass muslimische Frauen bald Hosen tragen und nicht-muslimische Männer heiraten würden. Doch eine Generation männlicher Journalisten, Parlamentsabgeordneter und Dichter unterstützte die Aktivitäten der Frauen, und die Konstitutionalisten konnten den Widerstand des konservativen Klerus eine Zeit lang beiseite schieben. Die Revolution fand 1911 ein tragisches und abruptes Ende, als Russland das Land im Einvernehmen mit Großbritannien besetzte."

Magazinrundschau vom 20.07.2021 - Dissent

"Die neue Begeisterung der Linken, böse Bücher aus den Regalen zu nehmen, ist fatal. Es ist im Interesse aller, aber vor allem im Interesse der Linken, einen möglichst breiten Diskurs zu führen", warnt Katha Pollit, nachdem Verlage oder Buchhändler mehrere Bücher gecancelt haben - wie Blake Baileys Philip-Roth-Biografie, Woody Allens Memoiren, "When Harry Became Sally" oder frühe Kinderbücher von Dr. Seuss. Viele Positionen der Linken werden vom größten Teil der Amerikaner abgelehnt, erinnert Pollit. Aber sie dürfen sie zur Diskussion stellen. Das könnte sich ganz schnell ändern, wenn das Canceln sich plötzlich gegen Linke richtet: "Die libertäre Strömung in der amerikanischen Kultur wird zu Recht für viele unserer Probleme verantwortlich gemacht. Aber sie hat auch eine positive Seite. Sie erlaubt es Menschen, die Abtreibung für moralisch falsch halten, zu glauben, dass Frauen dennoch ihre eigene Entscheidung treffen können sollten, und sie erlaubt es Menschen, die Atheisten (oder jeden mit einer anderen Religion) verachten, sich dem religiösen Zwang und sogar der Kriegsführung zu widersetzen, die in anderen Teilen der Welt üblich sind. Ihretwegen können sich amerikanische Sozialisten einen Sozialismus vorzustellen, der persönliche Freiheiten bewahrt, einschließlich der Redefreiheit. Die Frage ist, wie immer, wer entscheidet, was erlaubt ist und was jenseits von gut und böse ist. Und wer, wie das lateinische Sprichwort sagt, die Wächter bewacht. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Verantwortlichen so denken wie man selbst, aber die Geschichte der Bücherverbote in den westlichen Demokratien legt etwas anderes nahe."

Magazinrundschau vom 22.12.2020 - Dissent

Manchmal fragt man sich, ob eine so idiotische Debatte wie die über ″kulturelle Aneignung″ überhaupt real ist. Ist sie, und Brian Morton zitiert in seinem lesenswerten und vor allem mit interessanten Schriftstelleräußerungen gewürzten Artikel auch die maßgebliche Definition LeRhonda S. Manigault-Bryants, einer Afrikanistik-Professorin am Williams College. Für sie besteht "kulturelle Aneignung darin, jemand anderem die Kultur - das geistige Eigentum, Artefakte, Stil, Kunstformen et cetera - ohne Erlaubnis zu nehmen". Wieviel klüger frühere Generationen von Autoren über das Thema nachdachten, zeigt Morton etwa an Ralph Ellison, der alle möglichen legitimen und illegitimen Weisen kultureller Beeinflussung nennt und sagt: "Erst durch diesen Prozess kultureller Aneignung (und Verfälschung) wurden die Engländer, Europäer, Afrikaner und Asiaten zu Amerikanern." Morton selbst argumentiert von einem wohltuend humanistischen Standpunkt: "Der Punkt ist, dass Künstler die Erfahrungen anderer durch gemeinsame Menschlichkeit imaginieren. Eine gemeinsame Menschlichkeit: Dieser Satz klingt altmodisch, anachronistisch, während ich ihn niederschreibe. Aber ich denke, die Erneuerung der Würde und des Prestiges dieser Idee gehört zu den Aufgaben der aktuellen Linken."

Magazinrundschau vom 15.10.2019 - Dissent

Ausführlich würdigt Mitchell Cohen, einst Redakeur der ehrwürdigen Zeitschrift Dissent, die häufige Autorin des Blattes und Freundin Agnes Heller. Natürlich erinnert er an ihr Verhältnis zum berühmten Neomarxisten György Lukacs, dessen Schülerin sie war - und an 1956: "Wie Lukacs begrüßte Heller die Revolution, jenen erbitterten, blutigen Kampf, der 'die größte politische Erfahrung meines Lebens war', wie sie sagt. Während sie später Hannah Arendts Theorie des Totalitarismus in ihr Denken integrierte, wich sie von Arendts Beschreibung der Ereignisse in Ungarn ab. Arendt sah in ihnen einen Moment direkter Demokratie, in dem die Menschen aus ihren Routinen heraus in die politische Öffentlichkeit traten. Heller fand das zu romantisch, Ausdruck von Arendts Wunsch, 'absolute theoretische Schlüsse aus einer Geschichte zu ziehen, die gerade zehn Tage dauerte'. Eigentlich hatten ihre ungarischen Mitbürger für repräsentative Demokratie und Unabhängigkeit gekämpft. Heller kam zu dem Schluss, dass 'reine Demokratie' - Demokratie ohne 'Absicherungen'- sich in 'reinen Terror' verwandelt."

Magazinrundschau vom 06.02.2018 - Dissent

Der Begriff des "Neoliberalismus" gehört zu den Passepartouts linken Denkens und wird eingesetzt, wenn "Kapitalismus" oder "Globalisierung" gerade nicht passen. Der sozialdemokratische Intellektuelle Daniel Rodgers versucht eine Klärung des Begriffs, auf die auf dieser Seite dann einige Genossen und Genossinnen antworten: "Das Problem mit dem Neoliberalismus ist weder, dass der Begriff keine noch dass er unendlich viele Bedeutungen hat. Es liegt darin, dass er auf vier unterschiedliche Phänomene angewandt wird. 'Neoliberalismus' steht erstens für die spätkapitalistische Wirtschaft unserer Zeit, zweitens für eine ganze Reihe von Ideen, drittens für global zirkulierende politische Maßnahmen und viertens für die hegemoniale Kraft jener Kultur, die uns umgibt und gefangen hält. Diese vier Neoliberalismen sind natürlich engstens verwoben. Aber der bloße Akt der Bündelung, indem man all ihre Differenzen, losen Enden und ihre Verbindungen in einem einzigen Wort zusammentackert, könnte gerade verdunkeln, was wir klar sehen wollen. Wie würde jedes einzelne dieser Phänomene ohne jene Identität, die ihm das Wort 'Neoliberalismus' andichtet, aussehen?"

Magazinrundschau vom 01.11.2016 - Dissent

Timothy Shenk führt ein faszinierendes Gespräch mit Matthew Karp, der in seinem Buch "This Vast Southern Empire " die Ideologie der amerikanischen Sklavenhalter nachzeichnet und vor allem die ihrer führenden Intellektuellen und Politiker: Zehn der zwölf Präsidenten zwischen 1789 und 1850 waren Sklavenhalter. Der amerikanische Süden dominierte bis zur Wahl Abraham Lincolns die amerikanische Außenpolitik: "Immer wieder beharrten Sklavenhalter, dass 'moderne Zivilisation' und Sklaverei absolut vereinbar seien. Ökonomisch, argumentierten sie, war Sklavenarbeit notwendig, um Grundnahrungsmittel zu produzieren. Und ideologisch passte er in eine Welt, die immer mehr vom Freihandel dominiert war, zu expandierenden europäischen Reichen und zu einer sich verhärtenden rassistischen Wissenschaft. Daran glaubten die führenden Sklavenhalter-Politiker meiner Meinung ganz fest. Wir müssen diesen Glauben verstehen um die Politik vor dem Amerikansichen Bürgerkrieg zu verstehen."

Magazinrundschau vom 17.05.2016 - Dissent

Auch hierzulande wurde Andrew Sulllivans großer naserümpfender Essay über Donald Trump als Frucht einer "Hyperdemokratie", in der die Eliten die Kontrolle verloren haben, mit frommer Miene weiterverlinkt (unser Resümee). In Dissent antwortet Jedediah Purdy sehr polemisch und benennt den reaktionären Kern von Sullivans Argumentation: Die angeblich aus der Demokratie erwachsende Gefahr der Tyrannei, um die sich Sullivan mit Rückgriff auf Platon Sorgen macht, "ist demnach eine Auswirkung von Demokratie auf Politik. In dieser Tradition ähnelt demokratische Kultur einem milden Bild der Warnungen Platons als selbstsüchtig, gierig, eher emotional als vernünftig, getrieben von Hass und einem Ressentiment gegen Eliten... Von diesem Standpunkt hätte Demokratie ein beständiges Problem, das nur durch ein sensibles und selbstreflektiertes Management durch die Eliten zu beherrschen wäre." Purdy kritisiert weiter, dass Sullivan den demokratischen Impuls, der von der Kampagne Bernie Sanders' komme, geringschätze und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik verkenne.

Magazinrundschau vom 13.11.2012 - Dissent

Lawrence H. Summers, der ehemalige Präsident der Harvard-Universität hat zu Beginn des Jahres ein Studium von Fremdsprachen für überflüssig erklärt - die ganze Welt kommuniziere ja ohnehin auf englisch. Tatsächlich schließen immer mehr amerikanische und britische Bildungsinstitute ihre Fremdspracheninstitute. Paul Cohen widerspricht Summers in Dissent: "Summers' Sprachverständnis ist so utilitaristisch wie sein Ideal von Bildung. Er sieht Sprachen als neutrale Kommunikationsmedien, gleichgültige Vehikel für den Transport von Sinn. Das Medium ist für ihn ganz und gar nicht die Botschaft - und nur die Botschaft zählt, nicht das linguistische System, in dem sie geliefert wird. In solch einer funktionalistischen Konzeption der studentischen Lehrziele ist kein Raum für die Idee, dass klassische oder neue Literaturen ein in sich wertvolles Studienobjekt sind und schon gar nicht für die Vorstellung, dass eine Lektüre in den Originalsprachen etwas Spezifisches und Unerlässliches zum Verständnis hinzufügt."

Magazinrundschau vom 03.03.2009 - Dissent

Michael B. Katz lebt seit fast 30 Jahren in West Philadelphia. Er lehrt Geschichte an der University of Pennsylvania und hat u.a. über Armut und die Transformation von Städten geschrieben. Dann wurde er Geschworener in einem Mordprozess. Das Verfahren, dass er sehr anschaulich beschreibt, stürzte ihn in eine Krise: "Ich fand die Erfahrung frustierend. Ich wollte das Verfahren unterbrechen, Fragen stellen, auf Dinge aufmerksam machen, die die Anwälte übersehen hatte. Als jemand, der Seminare hält, bin ich es gewohnt, das zu tun. Ich konnte nicht. Ich war auch frustiert, weil es so vieles gab, das wir über [den Angeklagten] Manes und [das Opfer] Monroe nicht wussten. Wer waren diese Männer, über deren Leben wir nur Bruchstücke erfuhren? Was hat sie in die Straßen von Nord Philadelphia gebracht? Warum waren zwei erwachsene Männer willens sich wegen 5 Dollar zu töten? Wie konnte aus der West Oakland Street ein Ort werden, an dem ältere Männer in Zimmern leben, über deren Eingang sie ein Messer aufbewahren? Und an dem die meisten Einwohner sich weigerten, als Zeugen der Tötung einer vertrauten Person auszusagen?" Katz hat Jahrzehnte über Armut, ihren Kontext und Ideen zu ihrer Erklärung und Abschaffung geschrieben. "Aber es gibt so viel Abstraktion in der Literatur und in dem, was ich geschrieben habe." Darum entschloss er sich, den freigesprochenen Manes in Nord Philadelphia zu besuchen ...
Stichwörter: Abstraktion, Pennsylvania

Magazinrundschau vom 09.12.2008 - Dissent

Eine wütende Anklage erhebt der russische Dichter - (hier sein Blog) - Kirill Medwedew gegen die russische Intelligenzija, die sich seinen Worten in zwei Lager gespalten hat: "Die eine Hälfte dient direkt den herrschenden Strukturen des Kapitals - Banken, Verlagen, Unternehmen -, während die andere beschlossen hat, dass es trotz aller Beschwernisse - der Unmöglichkeit, in seinem Beruf zu arbeiten, der kulturellen Degradierung, der Vulgarität und der Kleingeistigkeit der neuen Herren - falsch wäre zu murren, seine Unzufriedenheit auszudrücken, Forderungen zu stellen. Es wäre nutzlos und unattraktiv, nicht mit der Zeit zu gehen." In der neuen Zeit, meint Medvedev, zählen nur Gefühle, keine Politik: "Die neue Aufrichtigkeit, oder genauer: die neue Empfindsamkeit, hat mit den schlimmsten Auswüchsen des Postmodernismus aufgeräumt: seinem unverständlichen, elitären Jargon und seiner Opposition zu großen Narrativen und globalen Konzepten. Aber sie hat auch seine unleugbar positiven Qualitäten beiseite gewischt: seine unbezähmbar kritische Perspektive und seine intellektuelle Raffinesse."