Vorgeblättert

Leseprobe zu Pete Dexter: Paperboy. Teil 1

16.01.2013.
MEIN BRUDER und Yardley Acheman nahmen sich zwei Zimmer im Prescott Hotel in Lately und zahlten für einen Monat im Voraus. Mrs. Prescott, die seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes im letzten Sommer das Hotel allein führte, stand regungslos da und lächelte höflich, während Yardley sich eintrug, ohne dass ihm zuvor das Gästebuch angeboten worden wäre, dann betrachtete sie lange seine Unterschrift, als könnte sie an ihr ablesen, ob sie es mit diesen jungen Männern riskieren sollte oder nicht.
     "Gibt's ein Problem?" fragte Yardley mit einer für den Raum viel zu lauten Stimme.
     Sie zuckte zusammen, schaute vom Gästebuch auf, lächelte und schüttelte den Kopf. "Nur Sie beide?" fragte sie und warf mir einen raschen Blick zu.
     "Nur wir beide", sagte mein Bruder.
     Sie nickte und starrte wieder auf die Unterschrift. "Mein Mann hat früher immer die Rezeption gemacht …"
     "Gibt's ein Problem?" fragte Yardley noch einmal. "Wenn es ein Problem gibt, Lady, können wir auch woandershin gehen."
     "Nein", sagte sie und nahm die Kreditkarte, die er auf den Tisch geworfen hatte, "es ist nur, dass mein Mann immer die Rezeption gemacht hat, und ich weiß noch nicht genau, wie alles funktioniert."
     Yardley Acheman starrte die Frau an, während sie nach dem American-Express-Gerät suchte und dann seine Kreditkarte zweimal einlegte, beim ersten Mal falsch herum. Ihre Finger zitterten unter seinem Blick.
     Sie gab ihnen zwei Zimmer im zweiten Stock mit gemeinsamem Bad. Die Zimmer rochen klamm, und der Linoleumboden vor der Badewanne und an den Fußleisten wellte sich. Über dem Heizungskörper war ein mit Farbe verklebtes Fenster, das sich selbst dann nicht öffnen ließ, als Yardley Acheman auf die Heizung kletterte und es mit ganzer Kraft aufziehen wollte.
     "Wir sagen ihr, dass sie das in Ordnung bringen soll", sagte er zu niemand Bestimmtem. Ward und ich sahen uns einen Moment an, dann drehte Ward sich um und ging aus dem Zimmer hinüber in sein eigenes.
     Ein uraltes Messingbett stand an der Wand, und darüber hing das Vaterunser in einem Bilderrahmen. Die Farbe um das Vaterunser warf Blasen, blätterte ab und zeigte Risse, als hätte an genau dieser Stelle die Schlacht um Gut und Böse stattgefunden.
     Ein Bodenventilator stand in einer Ecke gegenüber der Tür, eine kleinere Ausgabe davon stand auf der Kommode.
     Ward öffnete seinen Koffer und zog dann die Schubladen der Kommode auf. Er musterte sie einen Moment, ging ins Bad und feuchtete ein Handtuch an. Yardley Acheman kniete immer noch auf der Heizung, hämmerte gegen das Fenster und versuchte, es zu öffnen. Der Lärm war im ganzen Haus zu hören, doch daran dachte ich erst, als Mrs. Prescott mit rotem Kopf und ein wenig außer Atem erschien und vorsichtig an die offene Tür klopfte.
     "Alles in Ordnung?" fragte sie.
     Yardley Acheman hörte auf, gegen das Fenster zu hämmern, hielt sich aber noch am Rahmen fest, wandte sich um und starrte sie an, bis sie einen Schritt auf den Flur zurückwich.
     "Er wollte das Fenster öffnen", sagte mein Bruder.
     "Tut mir leid, das Fenster lässt sich nicht öffnen", sagte sie so leise, dass wir sie kaum verstehen konnten. "Aber die Fenster in Ihrem Zimmer sind offen."
     Yardley Acheman stieg langsam von der Heizung herunter, die Rippen des Heizkörpers zeichneten sich auf den Knien seiner Hose ab.
     "Es ist ein Fenster", sagte er, "es muss sich öffnen lassen."
     Sie lächelte, schien ins Leere zu blicken und schüttelte den Kopf. "Es war noch nie geöffnet", sagte sie, und dann war sie verschwunden.
     Mein Bruder ging zurück in sein Zimmer, wischte die Schubladen mit dem Handtuch aus und musste noch zweimal ins Bad, um das Tuch auszuspülen. Yardley Acheman ließ das Fenster in Ruhe, folgte meinem Bruder, setzte sich auf dessen Bett und beobachtete ihn. "Das ist ihre Aufgabe", sagte er. "Es ist mir egal, wo das Hotel steht, aber es ist wohl kaum meine Aufgabe, das Zimmer zu putzen, bevor ich es benutzen kann. Das ist nicht der Sinn eines Hotels."
     Yardley Acheman hatte die Schubladen in seinem Zimmer ungeöffnet gelassen. Seine Sachen steckten noch in zwei großen, teuren Lederkoffern, die er einfach mitten im Zimmer stehen gelassen hatte. Er stellte seine Schreibmaschine auf einen wackligen Tisch am Fenster, vor dem eine sonnengebleichte Jalousie hing. Durch die Jalousie drang gelb gefiltertes Licht ins Zimmer.
     Mein Bruder hörte auf, die Schubladen sauber zu machen, und räumte nun sorgfältig seine Sachen ein, sortierte Socken, Unterwäsche und Hemden genauso, wie Mutter es uns beigebracht hatte. Langsam, um die Sachen nicht wieder durcheinanderzuwerfen, schloss er die Schubladen und stellte dann die Koffer in den Schrank.
     Yardley Acheman beobachtete ihn unterdessen vom Bett aus. "Weißt du, Jack", sagte er und wandte sich eher an Ward als an mich, "es geht das Gerücht, dass dein Bruder ein Zwangsneurotiker ist."
     Er war von der Sorte Mensch, die es genoss, eine Beleidigung auszusprechen, wenn durch die Anwesenheit einer dritten Person die Reaktion abgemildert wurde. Er war auch von der Sorte Mensch, die bestens mit den psychologischen Syndromen vertraut war, die gerade in Mode waren, da er regelmäßig in den Klatschspalten der Zeitschriften darüber las.
     Mein Bruder schaute ihn an, begriff, dass die Bemerkung nicht ernst gemeint war, und lächelte zaghaft. Es war ein unnatürliches Lächeln, als müsste er einen Moment innehalten und sich daran erinnern, welche Bewegungsabläufe dazu nötig waren.
     Auf dem Weg nach draußen kamen wir an der kleinen Wohnung von Mrs. Prescott vorbei. Die Tür stand offen, und Mrs. Prescott saß in ihrem Zimmer und wünschte sich, uns nie hereingelassen zu haben.

NOCH AM SELBEN TAG richteten mein Bruder und Yardley Acheman ihr Büro in einem großen Raum im ersten Stock über dem Moat-Café am östlichen Ende der Stadt ein. Irgendwann vor nicht allzu langer Zeit hatte man sich die Mühe gemacht, das Dach so zu verändern, dass das Gebäude einer Burg glich, eine Attraktion für Touristen, die auf ihrem Weg zu den langen Stränden im Süden hier vorbeifuhren. Der Umbau war genehmigt worden, obwohl weder das Café noch die Straße oder das County irgendetwas mit Burgen zu tun hatten. Der Name "Moat" leitete sich nicht von einem Burggraben, sondern von Luther Moat her, einem Sklavenhändler, dem einst das Land gehört hatte, auf dem heute die Stadt steht.
     Die Verwandlung des Moat-Cafés in eine Burg war auf halbem Weg ins Stocken geraten, doch durch die erfolgten Baumaßnahmen - ein Turm, dessen Silhouette einem spitzen Papierhut glich - war oben ein kleines Zimmer entstanden, das der Hauseigentümer der Miami Times am Telefon für dreißig Dollar im Monat vermietete. Solange wir das Zimmer nutzten, roch es dort nach gekochten Zwiebeln.
     Mein Bruder und Yardley Acheman stellten zwei schwere Holztische auf, die sie von der Schulbehörde erstanden hatten und in die an hundert Stellen die Initialen von Schülern geritzt worden waren, zwei Holzstühle auf Rollen, deren Räder abfielen, sobald sie bewegt wurden, einen kleinen Kühlschrank und ein lederbezogenes Sofa. Diese Sachen nahmen etwa ein Viertel der Ladefläche des Lieferwagens ein und waren von dort, wo sie abgestellt worden waren, nämlich unmittelbar an der Ladeklappe (man kann Reportern nicht sagen, wie sie einen Lastwagen beladen sollen, weil sie dann denken, wenn Lastwagenfahrer so verdammt clever sind, warum sind sie nicht Reporter geworden?), nach hinten gerutscht und gegen die Trennwand gekracht, ein Geräusch, das sich anhörte, als hätte ich mit dem Wagen rückwärts die Laderampe gerammt, was ich an meinem ersten Tag bei der Tribune fertiggebracht hatte.
     Sie trugen die Sachen selbst nach oben, scheuerten sich die Knöchel auf, als sie die Möbel um die Kehren der Treppe bugsierten, und schabten Farbe von den Wänden. Von einem verschnörkelten Pfeiler, der das Treppengeländer stützte, schlugen sie den Aufsatz ab. Yardley fluchte pausenlos.
     Ich durfte dieser Aktion als Zuschauer beiwohnen, jedenfalls ihrer unteren Hälfte, da ich im Lastwagen vor dem Café sitzen blieb.
     Weder Yardley Acheman noch mein Bruder hatten jemals körperliche Arbeit verrichtet, weshalb sie auch erst vor der engen Tür merkten, dass sie das Sofa seitlich nicht hereintragen konnten. Ich hätte ihnen geholfen, aber der Lastwagen stand in der Ladezone - meines Wissens die einzige Ladezone in ganz Lately -, und mein Bruder wollte, dass ich im Lastwagen blieb für den Fall, dass jemand etwas anlieferte. Zwiebeln vermutlich.
     Er mochte weder den Cafébesitzer noch die Polizei oder irgendwelche Passanten verärgern, da einiges von dem, was er in Lately erreichen wollte, davon abhing, wie er und Yardley Acheman in der Stadt aufgenommen wurden.
     Mein Bruder war im County aufgewachsen und wusste, alles Fremde, selbst etwas Harmloses oder kaum Wahrnehmbares - wozu er und Yardley Acheman wohl kaum gehörten -, konnte beim geringsten Anlass zum Problem werden. Dass er aus dem Süden des Countys stammte, spielte dabei keine Rolle.
     Man war Einheimischer, oder man war es nicht.

ALS MEIN BRUDER und Yardley Acheman den zweiten Tisch die Treppe hinaufschleppten, traf Charlotte Bless in Lately ein. Ich hatte schon so lange in der Ladezone gewartet und nach Lieferanten Ausschau gehalten, dass sich ein hechelnder Retriever in den Schatten des Lastwagens geschlichen und dort hingelegt hatte.
     Sie kam in einem verrosteten VW-Bus mit Kennzeichen aus Louisiana. Der Bus war erst kürzlich mit einer neuen Lackschicht versehen worden, näherte sich von Osten und weckte schon in einer Viertelmeile Entfernung meine Aufmerksamkeit, da sich, als Charlotte Bless über die Eisenbahnschienen fuhr, die Sonne in der breiten Windschutzscheibe spiegelte.
     Einen Häuserblock vor dem Café bog sie auf die linke Straßenseite, wurde langsamer und parkte schließlich so ein, dass unsere Gesichter keine zwei Meter trennten. Die Fahrerschutzscheibe war blau getönt. Charlotte Bless blieb einen Augenblick sitzen, starrte mich an, bis ich den Blick abwandte, und dann stieg sie aus. Sie trug Jeans und ein Holzfällerhemd, das sie sich in den eng geschnallten Gürtel gestopft hatte, und kaum war sie ausgestiegen, zog sie das Hemd über Bauch und Busen straff und warf ihren Kopf in den Nacken, sodass ihr das Haar gerade über den Rücken fiel.
     Ohne mich noch einmal anzuschauen, ging sie vor meiner Windschutzscheibe vorbei und war dann aus dem Blickfeld verschwunden. Einen Moment später kehrte sie zurück, ihr Gesicht direkt unter meinem Ellbogen, der auf dem offenen Fensterrahmen lag.
     "Ist das Ihr Hund?" fragte sie.
     Der Schlag schien mich von sechs Seiten zugleich zu treffen. Ich hatte nach einem Blick auf ihren sich entfernenden, üppigen Hintern die Augen geschlossen und versucht, dieses Bild so lange wie möglich festzuhalten. Dass sie zurückgekommen war, hatte ich nicht gehört. Der Hund stand neben ihr und schaute mit offenem Maul und wedelndem Schwanz auf, als rechnete er damit, dass jeden Moment irgendwas Leckeres aus ihrer Tasche fiele.
     "Nein, Ma'am", sagte ich, schaute den Hund an und dann wieder sie. Aus der Nähe wirkte sie gut zwanzig Jahre älter als in dem Augenblick, als sie aus dem VW-Bus gestiegen war. Ihre Haut sah ledrig aus und warf am Kragen Falten. Diese Unvollkommenheiten machten mir Mut, da ich mir dachte, dass ich dadurch attraktiver wurde. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war.
     "Er lag direkt hinter Ihrem Reifen", sagte sie, und ich hörte den Vorwurf in der Stimme. Sie langte nach unten und strich dem Tier über den Kopf, einen Ring an jedem Finger. Der Hund richtete sich langsam auf und umklammerte mit den Pfoten ihr Bein, doch sie drückte ihn ebenso langsam wieder nach unten und zog das Bein weg, gerade als er mit den pumpenden Bewegungen begann.
     Ja, sie wusste, wie man mit Hunden umging.
     Ich fragte mich, ob sie mir die gleiche Wohltat erweisen würde, bezweifelte es aber, da kein Mädchen in Gainesville, das Verständnis für die Vorgänge im Kopf eines Tieres hatte, je Mitleid für das gezeigt hatte, was in meinem Kopf vorging. Und zu jener Zeit, als ich mir in allen Dingen unsicher war, schien Mitleid meine einzige Chance.
     Ich schaute zu der Stelle, wo der Hund gelegen hatte. Er hatte zwar nicht unmittelbar hinter dem Reifen gelegen, nicht einmal unmittelbar davor, aber darüber wollte ich mich jetzt nicht weiter auslassen. Weil sie es gesagt hatte, schien es irgendwie auch zu stimmen.
     "Ich hatte ihn im Auge", sagte ich.
     Sie nickte langsam, als wüssten wir beide, dass das nicht stimmte, blickte an mir vorbei zum Moat-Café und dann die Straße herunter. "Ich bin auf der Suche nach dem Büro von Yardley Acheman von der Miami Times", sagte sie.

Teil 2

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