Im Kino

Schmutzigster Nahkampf

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Elena Meilicke
25.01.2012. Nach vier Jahren Pause kehrt der koreanische Festivalliebling Kim Ki-duk zurück: mit "Arirang", einem Essayfilm voller Spiegelungen und doppelter Böden. Nicolas Winding Refns "Drive" ist bei aller Keuschheit alles andere als asexuell und lässt den Geist Kenneth Angers in zeitgenössischer Retroästhetik wiederaufleben.

Im Zimmer friert das Wasser zu Eis, mittendrin steht ein Zelt, um die Nacht etwas erträglicher zu machen. Die Ramen-Nudeln werden auf dem Holzofen zubereitet. Für das gedämpfte Licht am Abend sorgt ein über die Glühbirne gestülpter, ausgetrockneter Fischkopf. Immerhin: Eine selbstgebaute Espressomaschine steht bereit, die, der Crema nach zu schließen, ganz passablen Kaffee zaubert. Im Zelt: Ein riesiger Mac-Bildschirm. Eine Canon Mark II, eine vergleichsweise günstige, professionelle Digitalkamera, die gerade das Filmschaffen im niedrigen Budgetsektor zu revolutionieren verspricht, steht ebenfalls bereit. Eine eigentümliche Kombination aus Heidegger?scher Berggipfel-Archaik und Hi-Tech - die angerissenen, bräunlich verschwielten Hornhautkontinente an der Ferse, die die Kamera dann und wann ins Blickfeld führt, bilden einen harschen Kontrast zum Komfort von Espresso und Steve-Jobs-Utopie. Kann man in dieser abgelegenen Berghütte einen Film drehen? Man kann.

Kim Ki-Duks letzter Film liegt bald vier Jahre zurück. Keine halbe, eine ganze Ewigkeit für das einst von Festival zu Festival herumgereichte Wunderkind des Korea-Filmbooms um 2000, das ansonsten im Jahrestakt, und manchmal öfter, häufig prämierte, meist hochkontroverse Filme nach Venedig, Cannes und Berlin und von dort aus in die ganze Welt pumpte. 15 Filme, 12 Jahre. Ein Kinoathlet im ganz buchstäblichen Sinne, wenn man sich das letzte Kapitel seines "Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling" vergegenwärtigt (an einer Stelle in "Arirang" schaut Kim es sich unter bittersten Tränen an), in dem der Regisseur selbst als geläuterter, buddhistischer Mönch schon aus Selbstgeißelungsgründen den Naturelementen herkulisch trotzt. Ich erinnere mich an die Berlinale 2002, wo Kim seinen harschen Film "Bad Guy" zeigte: Ins altehrwürdige Kino International wollte dieser aufstrebende, ehrgeizige, vielleicht eine Spur zu arrogante, drahtige und betont sportlich auftretende Regisseur nicht passen, der da die verschüchterten Fragen eines teils traumatisiert wirkenden Publikums erst gar nicht an sich heranließ.



Nicht passen zu diesem Erinnerungsbild will nun wiederum der vom Alkohol aufgedunsene, in Depressionen versunkene, graumelierte, ungepflegte Mann, der, eigener Aussage nach, seit 2008 im zurückgezogenen Exil dieser Berghütte sein Dasein fristet und Wunden leckt: Beim Dreh seines bis dahin letzten Films wäre eine Darstellerin bei einem Unfall fast ums Leben gekommen, was den Regisseur in eine tiefe Sinnkrise stürzte, auch sollen sich einstige Weggefährten aus anscheinend opportunistischen Karrieregründen von ihm abgewendet haben. Auch Eitelkeiten spielen eine Rolle: Einmal klagt Kim sein Leid darüber, dass Würdenträger seiner Heimat ihn wohl weniger seiner Filme, sondern vielmehr seines Erfolgs bei internationalen Filmfestivals wegen für die Mehrung des koreanischen Ansehens in der Welt ausgezeichnet und also seine Filme, denen man genau dies nun wirklich nicht zutraut, wohl nie gesehen haben. Zwischen Kim und der Filmindustrie steht, so scheint es, ein unüberbrückbarer Abgrund von Verletzungen, Eitelkeiten und Depressionen: Kim Ki-Duk, ein vom Gipfel des Triumphs gefallener Elender, zerrissen zwischen Lebenserfüllung vor roher Naturkulisse und dem Wunsch, endlich wieder Filme drehen zu können.

Mit einer Nabelschau ist "Arirang" nun aber gerade nicht zu verwechseln, nicht Authentizität der Neurose, sondern die Ambivalenz einer im Verdacht der Fiktionalisierung stehenden, dokumentarisch-essayistischen Form sind hier zentral: Schon gleich zu Beginn spricht Kim vom Schauspiel und dass er einen Film drehen wolle, der Dokument, Drama und Fantasy zugleich sein könne, überhaupt sind seine ersten Worte - "Ready? Action!" - Regieanweisungen. Mindestens drei Kims sind zudem anwesend: Im langen, zermürbenden, im Videoschnitt aufgelösten Zwiegespräch derer zwei - der eine anklagend, der andere weinerlich um Selbsterklärung bemüht -, deren Status aber, sobald es einem zu sehr zu Herzen geht, durch einen dritten Kim, der sich beim Betrachten der Szene auf dem Computer offenbar bestens, zumindest aber selbststrafend amüsiert, ins Unklare gehoben wird. Was dieses Bespiegeln und Selbstkommentieren noch nicht schafft, besorgt schließlich das Finale: Kim greift zur Waffe, fährt durchs Land, bringt lakonisch Menschen um, und schließlich auch, nach einem letzten Furz, sich selbst.

Ein Motiv zieht sich durch fast alle Filme Kims: das der langen Passion, der oft anlasslos sühnenden Leidensgeschichte im schmutzigsten Elend, die Unmenschlichstes abverlangt und der Unmenschliches gelegentlich auch selbst - beziehungsweise eben doch immer von einem oft des Sadismus bezichtigten Regisseurs - auferlegt ist. Mit "Arirang" und dem zugrunde liegenden Leidensprozess, den man selbst noch allen Spiegelungen und doppelten Böden zum Trotz beim Wort nehmen mag, hat sich Kim Ki-Duk nun selbst konsequent in den Rang eines solchen Leidenden aus seinem Werk erhoben und nicht zuletzt die tiefste Talsohle einer Schaffenskrise zum Erfolg umgemünzt: Das Festival in Cannes prämierte "Arirang" 2011 in der Sektion "Un certain regard?.

Thomas Groh

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"Drive" beginnt mit einer Exposition, die so gut und in sich geschlossen ist, dass man den anschließenden Vorspann im ersten Moment für einen Abspann hält. Ein schäbiges Zimmer in Downtown LA, ein Mann lehnt sich ans Fenster, vor ihm die samtige Dunkelheit und glitzernden Lichtpunkte der wuchernden Stadt. Man sieht ihn von hinten, er trägt eine weiße Jacke mit goldenem Skorpion auf dem Rücken und telefoniert mit seinem Auftraggeber, erklärt ihm und uns die Regeln, nach denen das Spiel läuft: "You give me a time and a place, I give you a five minute window. Anything happens in that five minutes and I?m yours, no matter what. I don?t sit in while you?re running it down, I don?t carry a gun - I drive." Hauptberuflich Stuntman für Hollywood-Produktionen, verdient sich der namenlose Mann (Ryan Gosling) ein Zubrot als Fahrer von Fluchtfahrzeugen bei nächtlichen Raubzügen. Dass er es dabei zu höchster Meisterschaft gebracht hat, zeigt die messerscharf montierte, vom konstanten Ticken der Uhr begleitete Chronik eines Überfalls. Als die Polizeistreife am Boden Verstärkung fordert und ein Hubschrauber die Straßen mit dem Suchscheinwerfer abzutasten beginnt, wird die Verfolgungsjagd zum reinen Licht-Spiel: Dramatik, die einzig aus dem Wechsel zwischen Licht und Schatten herrührt.
 
Natürlich geht es im Folgenden darum, dass der Driver die Regeln, die er sich selber gesetzt hat, nicht einhalten kann. Dieser wortkarge Mann, der eigentlich nur Auto fährt, der die Übergänge und Transporte bewerkstelligt, aber mit kriminellen Machenschaften nichts zu tun hat, wird involviert und hineingezogen ins große Schmutzgeschäft, als eine Frau in sein Leben tritt. Der Driver verliebt sich in seine verheiratete Nachbarin Irene (Carey Mulligan), die eine alleinerziehende Mutter auf Zeit ist und auf ihren Mann Standard (Oscar Isaac) wartet, der im Gefängnis sitzt. Von nun an wechselt "Drive" ein paar Mal die Tonart: 'shifting gears? könnte man angesichts dieses so autoversessenen Genre-Mashups sagen, der vom Neo Noir erst zur heiteren Romanze, dann zum alptraumhaften Horror/Gore/Slasher-Film mutiert. Ein Überfall, den die Rivalen Standard und Driver gemeinsam begehen, geht fürchterlich schief, Standard stirbt und Driver wird von sämtlichen Mobstern LAs gejagt. Sex und Gewalt stehen im Folgenden umgekehrt proportional zueinander: während Mulligans stupsnasige Niedlichkeit und Goslings schüchternes Lausbuben-Lächeln den Inbegriff kontrollierter und aseptischer Erotik darstellen, alles total keusch und unschuldig bleibt und sauber sublimiert wird, sind die blutigen Gewaltexzesse in "Drive" immer schmutzigster Nahkampf. Da der Driver eben keine Schusswaffe trägt - "I don?t carry a gun, I drive" - muss er sich mit beliebigen Gegenständen aus seinem näherem Arbeitsumfeld zufrieden geben: Hammer, Auto, bloße Hände und gestiefelte Füße, also Waffen, die auf perverse Weise stets genau jene direkten Berührungen einfordern, die dem Paar versagt bleiben.
 

Das heißt allerdings nicht, dass "Drive" Sex umstandslos durch Gewalt ersetzen würde. Denn natürlich ist nichts schamloser als Sublimierung und "Drive" ist deshalb ungefähr so asexuell wie die "Twilight"-Tetralogie - will heißen, der Film trieft vor Sex. "Drive" lebt von Goslings Sexappeal, der so sorgfältig und pausenlos in Szene gesetzt wird, dass viele Einstellungen wie Werbeaufnahmen für Unterwäsche oder Diesel Jeans wirken. Aber gerade diese exzessive Zurschaustellung Goslings als Posterboy macht Spaß, weil sie das, was im amerikanischen Mainstream-Kino normalerweise an heterosexueller Männlichkeit zu sehen ist, entschieden übersteigt: da ist alles ein kleines bisschen 'too much' und 'over the top', die Hose zu eng, die Jacke zu weiß, die Schuhe zu extravagant: Ryan Goslings Driver ist Camp und Disco, pures Poppertum. Natürlich kann man das als regressive Retromanie abtun, als bloßes Spiel mit Zeichen in einem hermetisch abgeschlossenen, simulierten 80er-Jahre-Universum. So hat unter anderem die Spex in ihrer letzten Ausgabe versucht, Refns Referenz-Rhizom zu entwirren, nur um dann ausgerechnet die interessanteste und offensichtlichste unter all diesen Referenzen zu vergessen: Kenneth Angers "Scorpio Rising" von 1964. Ein Film voll viriler Biker in schwarzem Leder, dazwischen sekundenkurze Aufnahmen von nackten Genitalien, Jesus Christus und Hitler; eine Kombination aus düster-queerer SM-Ästhetik und Pop-Collage. Der auffällige goldene Skorpion auf der weißen Jacke des Drivers ist ein direktes Zitat aus "Scorpio Rising" und seinen Kameramann Newton Thomas Sigel hat Regisseur Refn nicht zuletzt deshalb gewählt, weil dessen erster Filmjob die Mitarbeit an Kenneth Angers "Lucifer Rising" (1970-80) war. Mit dem Bezug auf "Scorpio Rising" verkoppelt Refn nicht nur auf selbstreflexive Weise die eigene Retromanie mit einer der Urszenen von Referenz- und Zitatpop in den 60er Jahren, sondern macht auch deren queeren Kontext fruchtbar. Die Frage, ob das jetzt Subversion oder nicht eher Appropriation ist, muss vorerst offen bleiben; auf jeden Fall macht es Freude zuzuschauen, wie "Drive" einem ehemaligen Mitglied des Mickey-Mouse-Clubs die Camp-Ästhetik eines Kenneth Anger unterjubelt.
 
Elena Meilicke

Arirang - Südkorea 2011 - Originaltitel: Arirang - Regie: Kim Ki-Duk - Darsteller:(Mitwirkende) Kim Ki-Duk - Länge: 100 min.

Drive - USA 2011 - Regie: Nicolas Winding Refn -Darsteller: Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston, Albert Brooks, Oscar Isaac, Ron Perlman, Christina Hendricks, Tina Huang, Joe Pingue, Cesar Garcia - Länge: 101 min.