Im Kino

Das Ding aus einer anderen Welt

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
16.05.2008. Eigentlich sind Filmfestivals in hässlichen Städten vorzuziehen: Da kann man sich ganz auf das Geschehen auf der Leinwand konzentrieren. Aber manchmal hat man Pech und wird zu einem hoch spannenden Festival wie "Indielisboa" in der wunderschönen Stadt Lissabon eingeladen. Schon marschiert man mit Sylvie Testud über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs.
Filmfestivals in hässlichen Städten und an hässlichen Orten haben ihre Vorzüge: Man wird nicht unnötig durch Schönes und Aufregendes abgelenkt, das man jetzt gerade gar nicht brauchen kann, weil man schließlich stundenlang im Dunkeln herumsitzen möchte oder muss oder doch wollen sollte. Lissabon ist darum, anders als, sagen wir, Berlin im Umfeld des Potsdamer Platzes, ein ziemlich ungeeigneter Festivalort: Zu verführerisch das alles, Stadtteil für Stadtteil, von der mittelalterlichen Alfama zum von der Höhe herrlichen Ausblick bietenden Bairro Alto - und dazwischen die Baixa, nach dem großen Erdbeben 1755 im Schachbrettmaß aufklärerischer Denkungsart wieder aufgebaut. Der Atlantik lockt in Cascais, das denkbar unaufklärerische barock-manuelinische Schnörkel-Kloster und die allerbesten Sahnetörtchen lohnen die Straßenbahnfahrt in den Vorort Belem. Da ist man schon froh, dass sich wenigstens etwas abseits der historischen Altstadt ein paar architektonische Abscheulichkeiten finden lassen, meist von Banken in Auftrag gegebene, schockierend hässliche Exemplare dümmlich-grob-bunter Postmoderne.

Es muss also, wer das mit fünf Jahren noch sehr junge, aber verdammt ehrgeizige und darum zu allem Überfluss wirklich hoch spannende Festival Indielisboa besucht, Kompromisse schließen. Zwischen dem Cineasten und dem Touristen in sich. Da ist es von Vorteil, dass man sich durch die Stadt zu bewegen gezwungen ist, um vom einen, etwas außerhalb der Innenstadt gelegenen Zentrum des Festivals ins andere Zentrum zu gelangen, zum sehr prächtigen Art-Deco-Kino Sao Jorge (mit einer sehenswerten Art-Deco-Männertoilette), das an der Avenida de Libertade liegt, einem gleichfalls prächtigen Boulevard unweit der Baixa. Man nimmt den vom Festival zur Verfügung gestellten Shuttle Bus oder die Metro oder man geht zu Fuß, vorbei an den plumpen Monstern der Postmoderne. Um dann wieder wehmütigen Herzens im Kino zu sitzen, während draußen immerzu allerschönster Frühling in Lissabon ist.

Der richtige Mann, einen mit seinen Filmen ein wenig zu trösten, ist da der Katalane Jose Luis Guerin, dem bei "Indielisboa" eine Werkschau gewidmet war. Der nämlich ist notorisch in der Weltgeschichte unterwegs. Mit "Innisfree" (1990) zum Beispiel. Für diesen Film hat er den Ort Cong aufgesucht, ein Kaff irgendwo in Irland, an dem das einzig Besondere ist, dass hier John Ford im Jahr 1952 seinen Film "The Quiet Man" (dt: "Der Sieger") gedreht hat. Genau dafür interessiert sich nun Guerin. Ihn treibt die weniger filmgeschichtliche als ethnologische Frage um: Was bleibt von diesem Ereignis an diesem Ort und in der Erinnerung der Leute? Alte Männer erinnern sich an die Dreharbeiten, Kinder nehmen Aufstellung und erzählen den Plot des Films. Es gibt Auszüge aus "The Quiet Man", mal nur auf der Tonspur, dann auch im Bild, mal bewegt, dann wieder unbewegt.

So entsteht eine ungeheuer dichte Textur - Guerin selbst meint im Podiumsgespräch während des Festivals nicht ganz zu Unrecht: Wir wollten damals zu viel. Und es ist wahr: Man kommt kaum hinterher mit der eigenen Wahrnehmung der fremden Wahrnehmung des längst Vergangenen. "Innisfree" sucht nicht die Konzentration, sondern die Abschweifung. Er überlässt sich auch einmal minutenlang den Kneipengesprächen der Männer, die mit John Ford nichts zu tun haben. Es gibt Szenen, in denen Guerin einer jungen Frau und einem Jungen folgt auf ihrem Weg durch das Dorf und darüber hinaus. Der Film macht - unerschrocken eine Schicht auf die andere lagernd - Abwesendes anwesend, schenkt aber auch dem Anwesenden, der Gegenwart seine ganze Aufmerksamkeit. Beides hat hier Gewicht, das Vergangene und das Heutige, aber auch die Erinnerung und eine Zukunft, die sich vom Vergangenen notwendig löst.

In "En construccion" (2001), dem bisher einzigen Film, den er in seiner Heimatstadt Barcelona gedreht hat, verfolgt Guerin über Jahre hinweg die Bauarbeiten zu einem neuen Apartmentkomplex. Ein alter Wohnblock wird dafür abgerissen im Arbeiterviertel "El Chino" und die Bewohner beäugen das Projekt, das als Wohnanlage für die Mittelschicht das Viertel verändern wird, mit Skepsis und Neugier. Eines Tages wird aus dem Grund unter dem Neubau eine Leiche ausgegraben: Die Grube wird für den Moment zu einem archäologischen Fundort, dann wird aber eilig weitergebaut. Guerin beobachtet einzelne El-Chino-Bewohner, einen einstigen Seemann, jetzt ein Greis, eine junge Prostituierte und ihren Freund, und einige der Bauarbeiter, einer darunter, dessen Herz für den Sozialismus schlägt: Jeden Morgen, erzählt er seinem skeptischen Kollegen, singt er die Internationale.

Das Verblüffende und ganz und gar Ungewöhnliche an Guerins Dokumentationen ist, dass sie mit der üblichen Doku-Ästhetik der möglichst unbemerkten Fly-on-the-Wall-Zurückhaltung so wenig zu schaffen haben wie selbstreflexivem Ins-Bild-Rücken des Beobachters. Mit voller Absicht stellt Guerin, der oft mehrere Kameras einsetzt, dagegen auf spielfilmartige Einstellungs- und Perspektivwechsel in einzelnen Szenen, er schneidet schnell und montiert Töne und Bilder kontrastiv gegeneinander. Es ist deshalb konstitutiv unklar, was hier reine Dokumentation ist, was Inszenierung oder jedenfalls durch die Kameraanwesenheit provoziertes "unnatürliches" Verhalten.

Wie gezielt er diesen verwirrenden Grenzbereich aufsucht, macht Guerin mit seinem vollends ins Experimentalfilmhafte gekippten "Tren de Sombras" (1997) deutlich: Die Behauptung, der Film, den man während der ersten zwanzig Minuten sieht, sei aufgefundenes Amateurfilmmaterial aus den späten zwanziger Jahren, ist nichts als eine Mockumentary-Lüge. Guerin hat es selbst gedreht, macht den falschen Film aber zum Ausgangspunkt einer "echten" Recherche am Ort, an dem die Bilder aufgenommen wurden, einem Landhaus im französischen Le Thuit. Diese Recherche, eine typisch dichte, unterschiedlichste Momentaufnahmen, Töne und Szenen verwebende Guerin-Montage, verwandelt sich nach und nach in einen nächtlichen Horrorfilm aus unheimlichen Geräuschen und gespenstischen Schatten. Aber damit lange noch nicht genug: Wie der Fotograf in Antonionis "Blow Up" nähert sich der Film dann dem - gefakten - Amateurfilmmaterial, auf der Suche nach einer Spur im Bild für das geheimnisvolle Verschwinden des Mannes, der diese Aufnahmen einst - angeblich - gemacht hat. Und noch einmal dreht Guerin, die Verwirrung komplett zu machen, die Schraube weiter und stellt einzelne Szenen des "Filmoriginals" mit Darstellern von heute in Farbe nach.


Pianola spielt Bach: Pere Portabellas "Die Stille vor Bach"

Produzent von "Tren de Sombras" war der 1929 geborene Katalane Pere Portabella, eine leider noch immer ziemlich unberühmte spanische Experimentalfilm-Legende. Sein vielleicht irrstes Werk ist der Vampirfilm "Cuadecuc" (1970), der nicht nur von einem Vampir erzählt, sondern selbst ziemlich vampirisch ist, da er sich vollständig bei einem anderen Film bedient. Was man sieht in "Cuadecuc", sind Bilder, die Portabella während der Dreharbeiten zu Jess Francos trashigem Vampirfilm "Dracula" (mit Christopher Lee in der Hauptrolle) aufgenommen hat - und dann zu einem ganz anderen Film montierte. In Lissabon war nun Portabellas jüngstes Werk "Die Stille vor Bach" (2007) zu sehen, eine sehr eigentümliche Annäherung an den Komponisten. Dessen Musik und dessen Leben stehen im Zentrum des Films, der mit einem konventionellen Biopic aber herzlich wenig zu tun hat.

Stattdessen sieht man: eine Kamera, die über den Boden eines leeren Museums schleicht und auf ein Pianola stößt, das sich dann in Bewegung setzt, während es Bachs "Kunst der Fuge" selbsttätig spielt; einen U-Bahn-Waggon voller Cellistinnen und Cellisten, die Bach spielen, während sich die Kamera im schmalen Gang, den die Instrumente ihr lassen, erst rückwärts, dann wieder vorwärts windet; Spielszenen, in denen man etwas über Bachs Biografie erfährt; Musikszenen mit einem Bach-Darsteller an der Orgel; aber auch gemäldeartige Tableaus, etwa von einer Marktszene, die nur insofern mit Bach zu tun hat, als hier die Legende nachgespielt wird, derzufolge Bach von Felix Mendelssohn wiederentdeckt wurde - weil ein Bediensteter Notenpapier mit Bachwerken zufällig zum Einwickeln seiner Markteinkäufe verwendete. Mal sind diese Szenen bizarr, mal sind sie bezwingend, mal scheinen sie schulfernsehnah, mal einfach nur prätentiös - eine höchst eigenständige und eigenwillige Annäherung an den Komponisten und sein Werk ist "Die Stille vor Bach" aber allemal. (Trailer)


Julie-Marie Parmentier als Charly, Kolia Litscher als Nicholas in Isild Le Bescos "Charly" (© Tamasa Distribution)

Zwei weitere Höhepunkte des Festivals, das daneben auch noch eine höchsten Ansprüchen genügende Reihe mit jüngeren rumänischen Filmen und eine kleine Johnnie-To-Retrospektive zu bieten hatte, kamen aus Frankreich. Die Schauspielerin Isild Le Besco (zuletzt zu sehen in "Pas Douce") hatte schon mit dem einstündigen "Demi tarif" (2003, da war sie einundzwanzig) ein faszinierend stilsicheres Regiedebüt vorgelegt. Mit dem minimalistischen "Charly", ihrem ersten wirklichen Langfilm, enttäuscht sie nicht. Erst ist man irritiert, denn von Charly ist die erste halbe Stunde überhaupt nichts zu sehen. Erzählt wird nämlich zunächst die Geschichte des vierzehnjährigen Nicholas, eines antriebslosen, von seinen Mitschülern gemobbten Teenagers, der bei seinen Großeltern lebt und eines Tages reißaus nimmt.

Zufällig begegnet er dann in einem Dorf der gleichaltrigen Charly, die ihn in ihren winzigen Wohnwagen mitnimmt. Sie arbeitet, stellt sich heraus, als Prostituierte, hat einen ziemlichen Ordnungsfimmel und kommandiert ihren Mitbewohner Nicholas ständig herum. Es kommt zur Annäherung zwischen den beiden, aber nur in winzigen Schritten - und einmal in einem großen aufregenden Sprung, als sie Zeilen aus Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" miteinander proben; das Buch ist der einzige Gegenstand, den Nicholas bei sich trägt. Beide sind sie Gefangene ihrer selbst und in gewisser Weise bleiben sie es; jedenfalls denkt Le Besco nicht daran, ihnen einfach so die Freiheit zu schenken, die man sich als Zuschauer für sie ersehnt. "Charly" ist emotional und erzählerisch auf Millimeterpapier gearbeitet; die Souveränität, mit der die Regisseurin konsequent auf der Sprödigkeit ihrer Figuren beharrt, ist wirklich atemberaubend.


Männer im Krieg: Serge Bozons "La France"

Und dann war da noch ein Ding aus einer anderen Welt. Ganz unbescheiden nennt der auch noch recht junge französische Schauspieler und Regisseur Serge Bozon (Jahrgang 1972) seinen zweiten Langfilm: "La France". Er schickt darin Sylvie Testud als Camille in den Ersten Weltkrieg, auf der Suche nach ihrem Ehemann (Guillaume Depardieu), der ihr einen lapidaren Abschiedsbrief von der Front schickt. Sie werde, heißt es darin, ihn nie wieder sehen. Sie findet sich damit entschieden nicht ab. In Männerkleidern zieht sie los, trifft auf einen versprengten Soldatentrupp und lässt sich nicht abschütteln. Dieser Trupp, das zeigt sich bald, ist eine Gruppe von Deserteuren. Diesen Männern und der Figur der Camille als Mann unter ihnen folgt im wesentlichen der Film.

Es gibt keine realistischen Kriegsszenen, aber man sieht zum Beispiel in einem unvergesslichen Bild die Soldaten auf einem Floß im Dunkeln auf Wasser treiben, während im Hintergrund Gewehrsalven und Granateneinschläge krachen. Man sieht die Soldaten im Dunkeln in einem Baum (einfach so, ein kurzes Bild, nicht weiter erklärt). Und zwischendurch holen sie vier mal selbst gebastelte Instrumente von irgendwoher und beginnen zu singen. Nicht perfekt, aber der Regisseur belässt es bewusst beim einmal aufgenommenen, leicht schrägen Originalton. "La France" ist ein einzigartiger, seltsam verzauberter Film mit einer sehr ungefällig spielenden Sylvie Testud. Er entführt einen in ein finsteres Märchenland im Halbdunkel, nicht gestrig, nicht heutig, ein Nirgendwo, für dessen Besuch man auch eine wunderbare Stadt wie Lissabon mal ein paar Stunden links liegen lässt - und scheint die Sonne da draußen noch so schön.

(Hier ein auf Englisch geführtes Interview mit Serge Bozon bei Youtube, hier der Trailer von "La France" und hier die Filmwebsite)

Anmerkung: Der Autor war auf Einladung des Festivals Indielisboa, das die Hotelkosten übernahm, in Lissabon.