Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Michelle de Kretser: Der Fall Hamilton. Teil 1

17.07.2006.
EIN KLUGES KIND

Ein Name ist das erste, was sich an ein Leben heftet. Man nehme meinen: Stanley Alban Marriott Obeysekere. Er erzählt von Geographie, Geschichte, Liebe und Ungewißheit. Ich kam auf einer Insel zur Welt, die auf halbem Wege der goldenen Handelsroute zwischen Ost und West liegt ein nützliches kleines Spielzeug, das nacheinander von den Portugiesen, Holländern und Engländern in die Hand genommen und in die Tasche gesteckt wurde. Im Jahr meiner Geburt, 1902, war Sir Alban Marriott Gouverneur und erklärte sich bereit, mein Pate zu werden. Wie hätte er auch ablehnen können? Er war meiner Mutter verfallen, seit sie ihm das Fell eines von ihr erlegten Leoparden zusammen mit einer Notiz geschickt hatte. Ich werde mich heute abend zwischen fünf und sechs bei Ihnen einfinden. Das Fell ist für das kleine blaue Empfangszimmer bestimmt, das sich hervorragend zur Unzucht und so weiter eignet. Sie hieß Maud und war eine große Schönheit. Obendrein schoß sie erstklassig. In Schottland war sie mit dem Prince of Wales auf Rotwildjagd gegangen; seine Leistungen seien mittelmäßig gewesen, wußte sie zu berichten. Er überreichte ihr eine Brosche aus einer auf Silber und Onyx angebrachten Adlerklaue. Mater bezeichnete sie als wahnsinnig banal und drückte sie ihrer Aufwärterin auf der Überfahrt nach Hause statt eines Trinkgelds in die Hand.
     Mein Vater bestand darauf, mich Stanley zu nennen, obwohl meine Mutter den Namen haßte. Ich habe oft über die Bedeutung von Paters untypischer Entschlußkraft nachgedacht. Sein Vater hieß ebenfalls Stanley, weswegen er vielleicht einfach die Familientradition weiterführen wollte. Wäre es aber andererseits nicht vielleicht auch möglich, daß diese Betonung meiner väterlichen Herkunft eine gewisse Beunruhigung hinsichtlich dieses Themas verriet? Meine Mutter hatte einen gewissen Ruf. Es wurde behauptet, daß sie einmal, nur mit einem Schlüpfer bekleidet, in einem Urwaldteich geschwommen sei, obwohl Herren und Schlangen zugegen waren. Die halbe High Society Colombos folgte dem Vorbild von Lady Marriott, die untersetzt war und an Gürtelrose litt, und schnitt sie. Mater fand, daß Stanley nur zu einem Tagelöhner passe, weswegen es sich gut traf, daß meine Initialen den Namen Sam ergaben. Heute ist niemand mehr übrig, der noch wüßte, daß ich jemals anders hieß.
     Stanley Alban Marriott Obeysekere: Zwischen die Namen, die mich als Kind meines Vaters ausweisen, fällt der Schatten eines Engländers, der nur eine Amtszeit als Gouverneur diente. Kurz nach seinem Tod vor acht Jahren fand ein Paket aus einer Londoner Anwaltskanzlei den Weg zu mir auf den Schreibtisch. Es enthielt ein kleines, dunkles Ölgemälde einer stattlichen, größtenteils unbekleideten, weiblichen Figur, die vor einem Hintergrund aus zerbrochenen Marmorsäulen auf einer Waldlichtung Blumen und Beeren pflückt. Der den von mir zu Rate gezogenen Nachschlagewerken unbekannte Künstler hatte mit Tom Baltran signiert. Das begleitende Schreiben des Testamentsvollstreckers erläuterte, daß die Baltrans und die Marriotts Verwandte zweiten Grades seien. Darüber hinaus, fuhr er fort, sei der Honourable Thomas Baltran Nachfahre in weiblicher Linie des ersten Herzogs von St. Albans, illegitimer Sohn Charles des Zweiten von Nell Gwynne. Die stramme Nymphe stellte der Familienüberlieferung zufolge eine Orangenverkäuferin dar, doch dies sei reine Spekulation. Für Sir Alban, schrieb sein Testamentsvollstrecker, war es äußerst wichtig, daß dieses Gemälde, das Prunkstück seiner kleinen Sammlung, auf Sie übergeht. Er hielt seine Jahre auf Ceylon stets in wärmster Erinnerung und sprach oft von den glücklichen Zeiten, die er in Gesellschaft Ihrer Mutter verbracht hatte.
     Ein zwiespältiges Erbe, finden Sie nicht auch? Ich bewahre das Gemälde in einem Schrank auf, zusammen mit dem anderen Geschenk Sir Albans, einem silbernen Eierbecher, den ich zur Taufe geschenkt bekam. Hin und wieder stelle ich diese Gegenstände vor mich hin und betrachte sie. Ein Ei, eine Maitresse, ein unehelicher Sohn: Ihre Botschaft scheint eindeutig zu sein. Doch dann scheinen die Gegenstände wieder etwas ganz anderes zu sagen. Nach wenigen Minuten bin ich überzeugt, daß ein Eierbecher ein vollkommen normales Geschenk eines Paten darstellt und das Geschmier des Honourable Thomas nur von der fehlgeleiteten Sentimentalität eines über neunzigjährigen Greises zeugt. Dieses Argument behält kurz die Oberhand, dann schleichen sich wieder Zweifel ein. Diese Stunden enden stets auf die gleiche Art: Ich trete vor den Spiegel, wo mich in Form meines Körpers der handfeste Beweis meiner Herkunft erwartet.
     Wenn man die Herkunft eines Mannes feststellen will, muß man sein Gesicht lesen, nicht seine Geburtsurkunde. Meine Haut ist nicht minder dunkel als die meines Vaters; unser Zweig der Obeysekeres ist berühmt für seine Schwärze. Genau wie Pater bin ich von mittlerer Größe und neige im Alter zu Untersetztheit. Wir haben beide eine hohe Stirn, dicke, drahtige Haare, eine Hakennase und stark ausgeprägte Ohren. Als gutaussehend kann man uns nicht bezeichnen. Aber wir haben eine starke Ausstrahlung. Wohingegen Sir Alban, zumindest im Photoalbum meiner Eltern, groß und hohlbrüstig wirkt, mit einem spitzen Gesicht und einem wenig überzeugenden Schnurrbart. Er umklammert das linke Handgelenk mit der rechten Hand und hält sich so zusammen.
     Es dürfte mittlerweile deutlich geworden sein, daß kein falscher Anstand meiner Feder Einhalt gebieten wird. Ich habe immer großen Wert auf die Wahrheit gelegt, eine Tugend, die in meinem Berufsstand für gewöhnlich nicht besonders hoch angesehen wird. Doch es war meine Fähigkeit, genau hinzuschauen und ohne Rücksicht auf Konventionen oder Angst vor den Folgen die Wahrheit auszusprechen, mit der ich mir in anderer Hinsicht einen Namen gemacht habe. Gerade die traurige Berühmtheit des Falles Hamilton hat dazu geführt, daß dieser sich im Nebel der Gerüchte, Halbwahrheiten und Desinformationen, die in den Gesellschaftszimmern dieses Landes als Analyse durchgehen, dem Blick entzogen hat. Meine Absicht ist es, auf diesen Seiten endlich die Fakten in dieser Angelegenheit offenzulegen.


AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT

Mein Großvater, Sir Stanley Obeysekere, war ein mudaliyar, ein Amt, das einen Mann ganz oben an die Spitze unserer Inselgesellschaft brachte. Ein mudaliyar war ein Anführer, der im Landstrich seiner Vorfahren über beträchtlichen Einfluß verfügte. Traditionell war er ein fähiger Soldat und ein geschickter Diplomat, Fähigkeiten, die er in den Dienst seines Landesherrn stellte. Mit der Ankunft der Europäer veränderte sich die Rolle des mudaliyar jedoch. Das Königreich Kandy blieb im Bergland bis 1815 unerobert, doch als die Portugiesen, Holländer und schließlich die Briten immer größere Teile der Küstenprovinzen besetzten, wurden meine Vorfahren vor allem wegen ihrer administrativen Talente von den Kolonialherren geschätzt. Ihre Bildung, der Respekt, der ihnen von ihren Landsleuten entgegengebracht wurde, und ihre Kenntnis der lokalen Sitten machten sie zu idealen Angestellten der Kolonialverwaltung: als Archivare, als Vermittler und Dolmetscher, als Vorsitzende der Gerichte, die sich mit den Streitigkeiten der Einheimischen über Land, Verträge und Schulden befaßten.
     Die Europäer belohnten diese Treue mit Land: Ganze Dörfer wurden den mudaliyars geschenkt, endlose Urwälder, steuerfreie Plantagen. Paters Erbe umfaßte Landbesitz in allen südlichen Provinzen, vier Häuser in Colombo, sechs oder sieben Bungalows in Außenposten, ein Cottage in den Bergen, eine Teeplantage und eine Bleimine sowie Lokugama, unseren Landsitz, wo ich meine Kindheit in splendid isolation verbrachte.
     Ich habe keinen Zweifel, daß meine Vorfahren tatkräftige Männer waren. Ich werde es immer bedauern, daß ich meinen Großvater nie kennenlernte, der allen Aussagen zufolge ein weiser und fähiger Verwalter öffentlicher Angelegenheiten war. Ich befinde mich im Besitz eines vertraulichen Schreibens der Regierungskanzlei, in dem mein Großvater für die Ritterwürde vorgeschlagen wird. Darin wird vermerkt, daß mein Großvater ein äußerst vollständiges und präzises Wissen über die Sitten und Gebräuche der Insel besaß; er wird als Mann von höchstem Charakter, ehrenwert, sittenstreng und von unbestechlicher Treue beschrieben.
     Leider Gottes widerfuhr Sir Stanley im Alter von vierunddreißig Jahren ein schreckliches Unglück. Eines Nachmittags unternahm er eine Bootsfahrt auf dem See in Kandy, als er eine Kahnpartie englischer Mädchen bemerkte, die im Überschwang der Jugend ohne Bootsmann hinausgerudert und nun in Schwierigkeiten geraten waren. Zu seinem Entsetzen ging eines der jungen Mädchen, das unklugerweise aufgestanden war, über Bord. Zehn Jahre zuvor hatte mein Großvater noch den Hellespont durchschwommen, angefeuert von einer stinkenden Bande fürchterlicher Griechen, wie er in seinem Tagebuch vermerkte. Jetzt sprang er ohne langes Zögern ins Wasser und war nach einigen schnellen Zügen an der Seite der jungen Dame.
     Alles wäre gutgegangen, hätte sich nicht Miss Daisy Dawson, eine der schreiend im Boot zurückgebliebenen Damen, zu einer hysterischen Reaktion hinreißen lassen. Ihr Vater, Vertreter der britischen Regierung für die Provinz Jaffna, führte als mildernde Umstände das Grauen an, das seine Tochter angesichts des möglichen Kenterns (keine der jungen Damen konnte schwimmen) empfunden habe, sowie ihr äußerstes Entsetzen, als sie mit ansehen mußte, wie ihre Freundin, ein liebenswertes junges Mädchen an der Schwelle zur Frau, von einem Eingeborenen angefaßt wurde. In ihrer nur allzu verständlichen Verwirrung und Angst ließ Miss Dawson das Ruderblatt auf den Schädel meines Großvaters krachen. Natürlich ertrank er.
     Miss Dawsons Bootspartie, einschließlich des liebenswerten jungen Mädchens im Wasser, wurde von zwei schottischen Ingenieuren gerettet, deren Anwesenheit auf dem See als Beweis dafür angesehen wurde, daß mein Großvater mutig, jedoch überstürzt gehandelt hatte. Zwei weiße Männer hätten nicht tatenlos zugesehen, wie ein englisches Mädchen ertrank. Sir Stanley hätte besser daran getan, die Aufmerksamkeit der Ingenieure durch lautes Rufen auf den Unfall zu lenken. In Billardzimmern und Zeitungsglossen wurde die Ansicht vertreten, daß selbst die fähigsten Ceylonesen zur Übertreibung neigten.
     Pater war ein Kind von neun Jahren, als sein Vater ertrank. Manche sagten, daß Sir Stanley ermordet worden war; es kam auf den Standpunkt an. Sein Tod diente zum Vorwand für einen halbherzigen Versuch, antibritische Gefühle zu schüren, welcher aber augenblicklich kollabierte, da er vom Obeysekere-Klan nicht unterstützt wurde. Mein Großonkel Willy schrieb sogar einen unerschrocken formulierten Leserbrief an die Times of Ceylon, in dem er die Hitzigkeit seines Bruders bedauerte und Miss Dawson, nichts als ein unerfahrenes junges Mädchen, von jeglicher Schuld freisprach.
     Das Schicksal wollte es, daß Willy zu jener Zeit in einen Prozeß verwickelt war. Er war der Beklagte in einem von einem Mann namens Perera vor Gericht gebrachten Fall, der Willys Eigentumsansprüche auf 20 Morgen Waldland in der Nähe von Chilaw in Zweifel zog. Dieser Perera behauptete, daß sich das Land seit Generationen im Besitz seiner Familie befunden habe, auch wenn er keine amtliche Besitzurkunde vorweisen könne. Er behauptete, daß Willy eine gefälschte Urkunde für das Land erworben und dann eine Bande Verbrecher hingeschickt habe, um es mit Gewalt an sich zu reißen.
     Solche Vorwürfe - und zugegebenermaßen, solche Praktiken - waren damals durchaus üblich, denn jeder, der es sich leisten konnte, versuchte, sich Land unter den Nagel zu reißen, auf dem Exportgüter erzeugt werden konnten. Man könnte argumentieren, daß dieser Landraub erst von der Regierung in Gang gebracht worden war. Deren Brachlandverordnung hatte nämlich festgelegt, daß alles Land, das nicht ständig bestellt wurde oder urkundlich belegt jemandem gehörte, Eigentum der britischen Krone darstellte. Auf diese Weise eigneten sich die Briten viele Morgen Urwald an, die dann an Plantagenbesitzer verkauft wurden. Die lokalen Eliten zogen mit und rodeten derartig begeistert das Land, um Kaffee, Tee, Kautschuk und Kokosnüsse zu produzieren, daß sich die Regierung schließlich gezwungen sah, Maßnahmen zum Erhalt des Dschungels zu ergreifen und den Verkauf unbewirtschafteten Landes zu verlangsamen.
     Willy und Perera hatten beide ganze Heerscharen von Anwälten verpflichtet, die sich seit Jahren vor unseren Gerichten befehdeten, in denen alles mit Schildkrötengeschwindigkeit voranging. Der Fall zog sich sogar bereits so lange hin, daß Willys Gegner, den er zärtlich "den Verflixten P" nannte, ihm gewissermaßen ans Herz gewachsen war. Er erfreute die Verwandtschaft mit den Details von Ps Auftreten: seinem Haaröl, dem stabilen Regenschirm, der ihn überallhin begleitete, der Angewohnheit, mit einem langen Fingernagel in den Zähnen zu bohren, seinem zahlreichen Nachwuchs ("Mindestens fünfzehn habe ich gezählt. Riesige, haarige Brocken. Und seine Söhne erst!"). Als er erfuhr, daß die älteste Tochter des Verflixten P heiraten würde, übersandte Willy ihr einen hübschen Besteckkasten. Am nächsten Tag wurde er retourniert. Willy schlug sich mit der Hand an die Stirn. "Natürlich! Der Verflixte P benutzt ja kein Besteck. Ich hätte dem Mädchen ein paar schöne Fingerschalen schicken sollen."

Teil 2
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