Magazinrundschau

Zeitalter der falschen Welten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.02.2024. Auch das Russland, das aus den Trümmern des Putinismus hervorgeht, wird versuchen, die europäischen Eliten dem Willen des Kreml zu unterwerfen, vermutet die Historikerin Francoise Thom in Desk Russie. Im Merkur fordert der Soziologe Stefan Hirschauer eine Präzisierung des Begriffs "Antisemitismus" in der deutschen Debatte. Jan-Werner Müller sorgt sich in der LRB um das Demonstrationsrecht in Demokratien. In HVG überlegt Ivan Sandor, wie die Literatur "diskreditierten Worten" ihre Bedeutung zurückgeben kann. Und Eurozine berichtet, wie sich Litauen in puncto Homophobie immer mehr Russland annähert.

Desk Russie (Frankreich), 12.02.2024

Viele Hoffnungen hegten sowohl der Westen als auch russische Oppositionelle ob der Kandidatur von Boris Nadejdine für die diesjährigen russischen Wahlen. Nun hat die Wahlkommission seine Aufstellung allerdings verhindert, angeblich wegen ungültiger Unterschriften. Aber, schreibt die Historikerin Françoise Thom, der rasante Aufstieg des Putin-Gegners zeigt trotzdem deutlich: Die Ära Putin ist vielleicht früher vorbei als viele seiner Anhänger befürchten. Die politische Stimmung gleicht jener vor dem Ende der Herrschaft Stalins, meint Thom: "Dieser Präzedenzfall ermöglicht es uns, besser zu entschlüsseln, was heute in Russland passiert." Während die russische Politik "von einem Extrem ins nächste" stürze, werden die "vertraulichen Kontakte" mit dem Westen mehr, verhaltener Widerstand regt sich auch bei den Mächtigen und "Professor Solowej verbreitet abfällige Gerüchte über Putin und bereitet die Entweihung des 'nationalen Führers' und die Denunzierung des 'Personenkults' vor, indem er Putin als einen alten, leidenden Mann in Pampers mit einem Fuß im Grab darstellt." Nadeschdin ist der einzige, der ein Programm zur kontrollierten Entputinisierung formuliert hat, das unsere Aufmerksamkeit verdient, meint Thom, da sich darin vielleicht der Schlüssel für die Entwicklung Russlands in den kommenden Jahren findet. Aber, auch Nadejdine wird die tief verankerte Idee einer russischen Hegemonie in Europa nicht ablegen, warnt Thom, so sehr er Putin kritisiert, ist er doch ein entschiedener Unterstützer des Ukraine-Krieges und hält die Gebietsannexionen für legitim: "Das Russland, das aus den Trümmern des Putinismus hervorgehen wird, wird nach Investitionen, Technologie und Konsumgütern verlangen. Es wird seine Abhängigkeit von Europa erkannt haben, aber es wird versuchen, sie zu überwinden, indem es versucht, die europäischen Eliten dem Willen des Kreml zu unterwerfen. Daher muss der Westen von Anfang an feste Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen und die Wiederaufnahme des Handels mit diesem Land stellen und trotz der Sirenenrufe aus Moskau in dieser Hinsicht nicht von der Stelle kommen. Die Räumung aller den Nachbarländern abgenommenen Gebiete ist der einzige ernstzunehmende Indikator für einen echten Willen zum Wandel und die Aufgabe der hegemonialen Ziele in Europa. Solange Russland nicht aus seiner Dominanzlogik ausbricht, wird es ein gefährlicher Gesprächspartner für die Demokratien bleiben. Nadeschdin war kein Antikriegskandidat, er war der Kandidat des mit anderen Mitteln geführten Krieges."
Archiv: Desk Russie

Merkur (Deutschland), 01.02.2024

Der Soziologe Stefan Hirschauer analysiert die Mechanismen, die zur weltweiten Polarisierung im Nahostkonflikt beitragen. Er diagnostiziert eine starke Vereinfachung bei beiden Konfliktparteien und vermisst in der Diskussion eine Präzisierung politisch gebrauchter Begriffe. Gerade in der deutschen Debatte werde der Begriff des "Antisemitismus" so breit gefasst, dass er alles "subsumiere", meint er: "Die antisemitischen Züge der Hamas, mit denen sie ursprünglich sowohl an den muslimischen wie auch an den europäischen Antijudaismus anschloss, sind nicht nur in ihrer Charta von 2017 hinter den Territorialkonflikt zurückgetreten, sie eignen sich auch grundsätzlich schlecht, um ihr Feindbild zu verstehen. Der Islamismus der Hamas befeuert den Konflikt nicht, weil er vor allem die Juden hasst (wie es Europas Christen und Deutschlands Faschisten taten), sondern weil er alle Andersgläubigen und besonders den westlichen Lebensstil der säkularen Israelis als Frevel von 'Ungläubigen' verabscheut. Weder verkörpert die Hamas genau den Antisemitismus, den Deutschland gerne vollständig überwunden hätte, noch ist ihr Hassobjekt dasselbe wie in Europas Geschichte. Umgekehrt fällt es in Europa umso schwerer, Antizionismus von Antisemitismus zu trennen, seitdem sich der Staat Israel mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018 so eng mit dem Judentum assoziierte, dass seine arabischen Mitbürger automatisch zu Bürgern zweiter Klasse wurden. Die israelische Regierung sorgte auch deshalb für diese kulturelle Verquickung, um ihre Besatzungspolitik hinter einem moralischen Schutzschild aus Anti-Antisemitismus der Kritik europäischer Staaten zu entziehen. Die israelische Soziologin Eva Illouz sieht hierin eine geschickte Instrumentalisierung des Kampfs gegen Antisemitismus für die Annexionspolitik. Wenn man daher im Land der Täter des Holocaust den Terroranschlag der Hamas bloß verurteilen will, stellt der 'Antisemitismus' zweifellos den höchstrangigen Kraftausdruck der politischen Rhetorik zur Verfügung, um Empörung und Betroffenheit auszudrücken, und er wird auch stigmatisierend eingesetzt, um der Kritik an der Politik von Israels Regierung (ob durch Muslime oder jüdische Antizionisten) die gerade noch legitime Lautstärke vorzugeben. Wenn man diesen Konflikt aber auch analytisch begreifen will, muss man sich auf die antizionistische Perspektive der Palästinenser und die islamistische der Hamas einlassen."

Weitere Artikel: Der Historiker Thomas Etzemüller denkt mit Blick auf die Zwischenkriegszeit darüber nach, wie es heute gelingen kann, die Demokratie zu bewahren.
Archiv: Merkur

London Review of Books (UK), 08.02.2024

Nicht nur Autokratien, auch Demokratien schränken das Demonstrationsrecht zunehmend ein, befürchtet der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der in die USA, nach Großbritannien und Deutschland blickt: "In Deutschland wurden in den Wochen nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober viele pro-palästinensische Demonstrationen verboten, selbst in Fällen, in denen es keine Anzeichen für eine unmittelbare Gefahr für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Hinweise auf antisemitische Äußerungen gab. Die Verbote scheinen einen beunruhigenden Trend zur Einschränkung des Gedenkens an die Nakba in Berlin fortzusetzen. Nachdem das Innenministerium Anfang November alle Aktivitäten mit Bezug zur Hamas Anfang November verboten hatte, rätselten Juristen, ob die Worte 'From the river to the Sea' unter allen Umständen eine Straftat darstellen. In einer schlampig verfassten Mitteilung des Ministeriums ass der Satz eindeutig mit der Hamas verbunden sei; die Berliner Polizei schloss sich dieser Lesart an, ebenso wie die Staatsanwaltschaften in anderen Bundesländern. Bei bestimmten Kundgebungen wurde die Anzahl palästinensischer Flaggen begrenzt; Sprechchöre waren nur erlaubt, wenn sie von einer Bühne aus begonnen wurden. Demonstranten berichteten, dass sie allein wegen des Tragens des Kufiya festgenommen wurden. Ein Landesminister schlug vor, dass nur deutsche Staatsbürger das Recht haben sollten, Proteste zu organisieren (die Verfassung nennt 'Deutsche', das entsprechende Bundesgesetz bezieht sich jedoch auf 'jeden'). Ein anderer Minister fragte sich, ob das Sprechen der deutschen Sprache bei Demonstrationen zur Pflicht gemacht werden könne. Suella Bravermans Versuch, die Polizei zu veranlassen, alle pro-palästinensische Märsche im Vereinigten Königreich als 'Hassmärsche' zu behandeln, könnte in Deutschland Realität werden."

Tom Crewe beschäftigt sich mit den Anfängen schwuler Literatur. Eine wichtige Rolle in seinem Essay spielt "The Novel of an Invert", eine "Fallstudie", die auf Briefen basiert, die ein junger italienischer Adeliger an Emile Zola geschickt hatte. Obwohl die Briefe auf Selbsterlebtem basierten, wurden sie, wie Crewe ausführt, in der Folge zu einer Art Blaupause literarischer Darstellung von Homosexualität, insbesondere was den individualistischen Zugang mit einem Fokus auf dem Erkunden der eigenen Sexualität angeht. Anschließend an eine Einschätzung Zolas schreibt Crewe: "Sexualität hängt eng damit zusammen, wie gesellschaftliches Leben funktioniert, und wenn die Gesellschaft nach heterosexullen Mustern konstruiert ist, können Homosexuelle jedes ihrer Elemente in Unruhe versetzen. Die queere und schwule Literatur ist jedoch nie aus dem individualisierenden Schatten der Fallstudie herausgetreten und hat große Teile des sozialen Lebens nie voll behandelt. Die Forderung, den Blick zu weiten - und schwule Menschen, um mit Zola zu sprechen, mit Familie, Nation und Menschheit interagieren zu sehen -, ist besonders wichtig, wenn wir uns der Vergangenheit zuwenden, also einer Zeit, als die Gesellscahft kulturell und juristisch so stark von Heterosexualität geprägt war, wie es heute nicht mehr möglich ist (wobei das in vielen nichteuropäischen Ländern immer noch der Fall ist). Über schwule Männer im Großbritannien der 19. Jahrhunderts zu schreiben, sollte bedeuten, über sie als Söhne, Brüder, Freunde, Liebhaber, Ehemänner, Väter, Großväter, Mitglieder einer sozialen Klasse, Angestellte, Arbeitgeber, Denker, Leser, Politiker, Imperialisten und so weiter zu schreiben."

HVG (Ungarn), 07.02.2024

Der 93-Jährige Schriftsteller Iván Sándor spricht über Möglichkeiten, Worten in der aktuellen Epoche der Instrumentalisierung und Entleerung ihre Bedeutung wiederzugeben: "Jede Epoche hat versucht, das zu verfälschen, was die Mächtigen nicht als in ihrem Interesse oder nicht von Vorteil in ihrem Alltag empfanden. Jedoch ist die jetzige das Zeitalter der falschen Welten. In Ungarn stecken wir bis zum Hals in der Verschönerung der Realität im Interesse der Macht. Die Worte haben ihre Bedeutung verloren. Sie können für alles verwendet werden. Wir sehen es, wir leben es, wir erfahren es. In meiner schriftstellerischen Auffassung müssen wir jene Ausdrucksmittel für den Roman finden, die die diskreditierten Worte erneut transparent machen. So treten in meiner Poetik des Romans Bilder, Musik und Rhythmus in den Vordergrund. Ich wechsle zwischen einzelnen Äußerungen, inneren Monologen, Dialogen, Träumen, und ich unterbreche den Text nur mit Absätzen, von denen viele ohne Punkt, Großbuchstaben und Semikolon auskommen, denn, wie gesagt, alles hängt zusammen, auch wenn wir im gegebenen Augenblick nicht daran denken."
Archiv: HVG
Stichwörter: Sandor, Ivan

Guardian (UK), 12.02.2024

Yohann Koshy blickt auf die Unruhen zurück, die Leicester im September 2022 erschütterten, als sich Hindus und (zumeist indischstämmige) Muslime zwei Tage lang Straßenschlachten lieferten. Er zeichnet die Rolle von Hindunationalisten und muslimischen Influencern in dem Konflikt nach und geht auch auf die Vorgeschichte ein. Leicester galt lange als eine Musterstadt des Multikulturalismus, in der das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft vergleichsweise friedlich gelang. Dennoch wurden möglicherweise schon vor Jahrzehnten entscheidende Fehler begangen: "Nach den Ausschreitungen im Jahr 1981 - innerstädtische Revolten gegen Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt - stellten die Zentralregierung und lokale Behörden Gelder für Gruppierungen von ethnischen Minderheiten zur Verfügung; bezahlt wurden davon Gehälter, Community-Outreach-Personal und religiöse Feierlichkeiten. Manche glauben, dass dies eine zwar nicht perfekte, aber wertvolle Reaktion auf den damaligen Rassismus war. Andere argumentieren, dass dadurch die antirassistische Bewegung geschwächt wurde. Die innerstädtischen Gelder in Leicester, schreibt etwa der Politikwissenschaftler Gurharpal Singh, 'wurden zur Grundlage von Patron-Klienten-Beziehungen zwischen den lokalen Autoritäten und den ethnischen Gruppen der Gegend'. Dieses Arrangement löste die Einheit auf, die zwischen den einzelnen Minderheiten bestanden hatte, sagt Priya Thamotheram, der ein Community Center in Leicester betreibt: 'Jetzt geht es nicht mehr darum, was wir gemeinsam haben, was uns vereint, sondern eher darum, was an uns besonders ist, sodass wir uns auch melden können und an Gelder gelangen'."
Archiv: Guardian

Eurozine (Österreich), 12.02.2024

Litauen ist eines der pro-europäischsten Länder in der EU, schreibt Rasa Navickaitė. Was allerdings den Umgang mit Homosexualität und LGBTQ-Rechten angeht, nähert es sich gefährlich dem Land an, dass es am meisten fürchtet: Russland. Die Historikerin zeichnet die Affäre um ein Kinderbuch der Autorin Neringa Macaitė mit dem Titel "The Amber Heart" nach (das Buch ist hier gratis auf Englisch verfügbar). Die geplante Veröffentlichung des Buches löste einen riesigen Skandal aus: "Ursprünglich im Dezember 2013 von der Litauischen Universität für Erziehungswissenschaften mit finanzieller Unterstützung des Kulturministeriums veröffentlicht, wurde es schnell zum Mittelpunkt einer Kontroverse. Einige Nichtregierungsorganisationen und Politiker hatten ihre Besorgnis über den angeblich schädlichen Inhalt des Buches zum Ausdruck gebracht. Am meisten beunruhigten sie die Geschichten über die Liebe zwischen einem Prinzen und einem Schneider, die 'Händchen hielten und liebevolle Blicke austauschten, während sie im königlichen Garten spazieren gingen', und über eine Prinzessin, die 'mit der Tochter des Schuhmachers in ihren Armen einschlief'. Das Buch wurde von der Universität selbst aus dem Handel zurückgezogen, Macaité scheiterte bei allen juristischen Institutionen mit ihrer Klage, berichtet Navickaitė, erst vor dem Europäischen Gerichtshof bekam sie Recht. Leider konnte sie ihren Sieg nicht mehr feiern, sie erlag einem Krebsleiden. Anders als in Russland wird die Homophobie in Litauen nicht direkt vom Staat orchestriert, schreibt die Autorin, "stattdessen entsteht sie aus einem Netzwerk politischer, nichtstaatlicher und religiöser Organisationen und Institutionen (insbesondere im Zusammenhang mit der katholischen Kirche), die alle darauf abzielen, Einfluss auf die parlamentarische Politik und die Gesellschaft insgesamt auszuüben. Am deutlichsten zeigt sich dies im Fall von 'The Amber Heart' und dem komplizierten System der öffentlichen Empörung, das von Nichtregierungsorganisationen und politischen Interessengruppen gefördert wurde und eine institutionelle (Selbst-)Zensur zur Folge hatte. Solche moralischen Paniken sind natürlich nicht nur in Litauen anzutreffen und können auch im Lichte des jüngsten Aufschwungs der Anti-Gender-Bewegungen in Europa gesehen werden (die großzügig von russischen Geldern unterstützt werden). Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Zensur von Pro-LGBT-Informationen in Litauen in den letzten Jahren durch eine gesetzliche Bestimmung ermöglicht wurde, die von den Drahtziehern des Kremls kopiert wurde. Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Situation in nächster Zeit ändern wird."
Archiv: Eurozine

The Nation (USA), 23.01.2024

Nicht nur die Sacklers, sondern viele der reichsten US-amerikanischen Familien haben ihren Reichtum mit dem Handel mit Opium erworben, erinnert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh.  Über Umwege durch die Türkei und China versuchten die Amerikaner, die Marktmacht der East India Company zu beschneiden - und dabei vor allem die ziemlich vielversprechende Goldgrube ausgenutzt, die der Opiumhandel für viele der Familien in Indien war. "Der Wissenschaftler Jacques Downs schreibt: 'Fast ausnahmslos sind diejenigen Amerikaner, die im letzten Vierteljahrhundert des Old China Trade in Opium gemacht hatten, nach nur wenigen Jahren mit Vermögen wieder nach Hause gekommen.' Wer waren diese glücklichen Amerikaner? Es ist kein Zufall, dass sich ihre Namen wie eine Litanei der nordöstlichen Oberschicht lesen: Astor, Cabot, Peabody, Brown, Archer, Hathaway, Webster, Delano, Coolidge, Forbes, Russell, Perkins, Bryant und so weiter. Sie stammten größtenteils aus den privilegiertesten Reihen der weißen Siedlergesellschaft, Familien britischer Herkunft, die seit langem im Nordosten heimisch waren. Viele von ihnen sind in Eliteschulen wie der Boston Latin School, Milton Academy, Phillips Academy Andover, Phillips Exeter Academy und so weiter ausgebildet worden und haben in Harvard, Yale, der University of Pennsylvania oder der Brown University studiert (letztere ist nach einer bekannten Familie aus Providence benannt, die mit Sklaven und Opium gehandelt hat). Im frühen 19. Jahrhundert zu einer Oberschichtfamilie im Nordosten zu gehören, war anders als zu den anderen weißen Eliten in Europa oder sogar dem Süden der USA zu gehören. Die nordöstliche Elite war nicht primär eine Gruppe von Landbesitzern, sondern arbeitende und handelnde Klasse, durchaus einer wechselhaften, jungen und erratischen Wirtschaft unterworfen. Unternehmen sind so häufig gescheitert, dass selbst die am besten vernetzten Familien immer mit einer Prise Unsicherheit leben mussten." Für Ghosh liegt das Potential dieser historischen Gegebenheit vor allem in der Erkenntnis, dass es die Amerikaner selbst waren, die die nun so verteufelte Droge ins Land gebracht haben: "Wenn die Rolle, die privilegierte, weiße upper-class-Amerikaner in der Geschichte des Opiumhandels gespielt haben, besser bekannt wäre, wäre es mit Sicherheit schwieriger bis unmöglich, xenophobe und einwanderungsfeindliche Narrative rund um die Drogenproblematiken zu produzieren, wie es immer noch so häufig in den USA passiert."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Opium, Opiumhandel, Drogenhandel

Film-Dienst (Deutschland), 12.02.2024

"Barbie" war kein feministischer Film und dass es so etwas wie einen feministischen Blockbuster geben kann, sei ohnehin anzuweifeln. Mit solchen Positionen geht die Filmemacherin Jutta Brückner im großen Filmdienst-Essay nochmal ins Gericht mit dem großen Kinophänomen des letzten Sommers. Dem ganzen Hype liege ein fundamentales Missverständnis, eine nur oberflächliche Lektüre feministischer Filmtheorie zugrunde: "Als Laura Mulvey den Begriff des 'Male Gaze' prägte, hat sie damit nicht gemeint, dass er eine biologische Kategorie ist, über die man qua Geschlecht verfügt. Er ist ein ästhetischer Code, die Bestätigung des männlichen Herrschaftsanspruchs durch die Etablierung eines dramaturgischen Modells, das den Blick so lenkt, dass eine Fetischisierung der Frau entsteht. Der Begriff des 'Male Gaze' ist heute omnipräsent, hat aber seine präzise Bedeutung verloren. Das gleiche gilt für den 'Female Gaze'. Heute wird das Recht und die Notwendigkeit, dass überall auf der Welt Frauen filmisch ihre eigenen Geschichten erzählen können, oft als 'Female Gaze' benannt. Das kann auch in den bekannten filmischen Formen geschehen und ist umso notwendiger, je stärker man sich um politische Wirksamkeit bemüht. Etwas anderes aber ist es, über einen 'Female Gaze' als einer feministischen Bildsprache nachzudenken, die sich mit der Entwicklung anderer erzählerischer Möglichkeiten aus der Sicht von Frauen beschäftigt. Laura Mulvey hat ihr Konzept an den Filmen des klassischen Hollywoods entwickelt und die Möglichkeiten einer Filmsprache von Frauen im Experimentellen gesehen. ... Der kommerzielle Film hat seitdem vollkommen neue Möglichkeiten der Immersion und Überwältigung entwickelt, die man sich damals noch gar nicht vorstellen konnte. Wir erleben heute das Aufeinanderzuwachsen aller audiovisuellen Narrationen, unabhängig von Ort, Trägermaterial und kultureller Praxis, zu einer 'filmischen Metasprache' (Georg Seeßlen). Wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, wäre es gut, sich wieder an die Diskussionen der 1980er-Jahre zu erinnern. Sie würden uns helfen, die Schlagworte von 'Male Gaze' und 'Female Gaze' neu mit Sinn zu füllen. Von Wim Wenders stammt der Satz, dass die Geschichte des Kinos von kleinen Filmen geschrieben wurde, auf denen keine Last lag. Von Filmen, die unter dem Radar entstanden sind. Vielleicht, und diesen Zweifel meine ich ehrlich, käme dabei heraus, dass ein feministischer Blockbuster ein Oxymoron ist."
Archiv: Film-Dienst

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.02.2024

Der in Los Angeles lebende Regisseur und Drehbuchautor Gyula Gazdag betrachtet sich außerhalb der gegenwärtigen ungarischen Filmindustrie und spricht  darüber, wie er Kontakt zu Filmemachern in der Region hält: "Ich habe Kontakte, und zwar nicht nur zu Ungarn. Ich sehe mir gerade zum zweiten Mal den zweiten Schnitt des ersten Spielfilms eines albanischen Regisseurs aus dem Kosovo an. Ich arbeite auch mit vielen Filmemachern in der Region zusammen, und es gibt einige, die mir regelmäßig ihre Arbeiten in verschiedenen Stadien des Filmprozesses zeigen. Darunter gibt es auch manche Ungarn. Das ist wichtig für mich, denn ich interessiere mich dafür, wie verschiedene Generationen über die Welt denken und welche Art von Filmen sie machen wollen, was jedoch nicht stammes- oder nationenspezifisch ist. Ich treffe junge Filmemacher und ihre Arbeiten an vielen Orten, und darunter sind freilich auch Ungarn. Was ich jedenfalls sehe ist, dass heutzutage ein talentierter Filmemacher in Ungarn zu sein, gleichbedeutend mit einem an die Unmöglichkeit grenzenden schwierigen Leben ist."

Quillette (USA), 13.02.2024

Die Welt ist heute weniger demokratisch als zu Beginn des 21. Jahrhunderts, schreibt Matt Johnson mit Blick auf die Ausbreitung des nationalistischen Autoritarismus in den USA, Europa und Indien, den Aufstieg des chinesischen Totalitarismus und die Wiederbelebung des russischen Imperialismus. Antworten sucht Johnson bei einem Streifzug quer durch die Schriften von Francis Fukuyama: "Laut Fukuyama besteht ein wichtiger Test der liberalen Demokratie darin, ob sie 'den Wunsch nach Anerkennung' der Bürger 'angemessen befriedigt'. Das ist in liberalen Gesellschaften nicht so einfach. Fukuyama stellt fest, dass 'ausgleichende Prozesse' wie die Einrichtung großer Wohlfahrtsstaaten und ein steigendes Bildungsniveau wohlhabende Mittelschichtsgesellschaften geschaffen haben. Aber es gibt natürliche Grenzen für die Gleichheit, die der Liberalismus bieten kann. Es gibt eine ungleiche Verteilung von Talent, Arbeitsmoral und allen anderen Merkmalen (einschließlich Glück), die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, was zu 'notwendigen und unausrottbaren' Unterschieden sowie bitteren Ressentiments führt. 'Die Tatsache, dass selbst in den vollkommensten liberalen Gesellschaften weiterhin große soziale Ungleichheiten bestehen bleiben', erklärt Fukuyama, 'bedeutet, dass es eine anhaltende Spannung zwischen den beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit geben wird, auf denen solche Gesellschaften basieren.' (…) Die Hauptkritik der Linken an der liberalen Demokratie besteht darin, dass sie nicht in der Lage ist, Gleichheit in ausreichendem Maße zu gewährleisten. Dies hat in der Vergangenheit viele linke Bewegungen dazu veranlasst, den Liberalismus im Streben nach Gleichheit gänzlich abzulehnen. Wie Fukuyama feststellt, versuchte das 'marxistische Projekt, eine extreme Form der sozialen Gleichheit auf Kosten der Freiheit zu fördern'. In ähnlicher Weise geht die Fixierung auf die Identitätspolitik heute oft mit einer Ablehnung liberaler Grundsätze wie der individuellen Rechte und der freien Meinungsäußerung einher. Eine kurzsichtige Konzentration auf Gleichheit ist mit dem Liberalismus unvereinbar, weshalb viele Linke heute von der liberalen Demokratie desillusioniert sind. Diese Enttäuschung ist besonders unter jungen Amerikanern weit verbreitet. Eine im Dezember 2023 durchgeführte Umfrage unter amerikanischen Erwachsenen ergab, dass nur 54 Prozent der 18- bis 29-Jährigen und 55 Prozent der 30- bis 44-Jährigen die Demokratie für die beste Regierungsform halten."
Archiv: Quillette