Magazinrundschau - Archiv

Red Bull Music Academy

2 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 16.04.2019 - Red Bull Music Academy

Pophistoriker Simon Reynolds erinnert in einem epischen Feature an den italienischen Avantgarde-Komponisten Luigi Nono, der in seiner Arbeit Klangexperimente mit einer profunden kommunistischen Weltsicht kombinierte. Die 60er und 70er waren die zentrale Phase seines Schaffens, eines seiner zentralen Klangmaterialien war die menschliche Stimme, die er in seinem eigens für solche Zwecke eingerichteten Studio-Labor auf vielfältige Weise aufnahm und verfremdete. Anders als viele andere linke Avantgardisten unter seinen Zeitgenossen hielt er sich allerdings nicht bloß im Elfenbeinturm der Kunst auf, sondern suchte den direkten Kontakt zu den protestierenden Studenten und den Arbeitern in den Fabriken. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählte die Komposition "Die erleuchtete Fabrik" - "ein wildes Stück Aufklärung für den Bourgeois mit seiner Vorliebe für klassische Musik, der zwar die Vorteile der Fabrikarbeit genießt, aber keinen blassen Schimmer von den feindlichen Bedingungen hat, unter denen sie geleistet wird. 'Ich verbrachte drei Tage mit den Arbeitern von Italsider', erinnerte sich Nono an seine Klang-Expedition im Jahr 1964 in eine Metallfabrik in Genua. 'Ich diskutierte mit ihnen, nahm ihre Äußerungen und die akustische Umgebung auf, in der sie arbeiteten. Es ging mir nicht nur darum, ein Werk über Fabrikarbeit zu gestalten, sondern darüber hinaus auch die Auswirkungen dieser besonderen Arbeitsumgebung mit all ihren Verletzungsgefahren auf das Privatleben der Arbeiter zu verstehen. Dafür war es nötig, auch die psycho-physischen Reaktionen der Arbeiter aufzunehmen anstatt sie bloß zu 'fotografieren', wie sie in der Fabrik arbeiteten.' Nono nahm 'den Lärm der Hochöfen auf, wenn geschmolzener Stahl in sie gegossen wird, dazu die lauten, zornigen Stimmen der Arbeiter, die sich schnelle Anweisungen gaben.' ... 'Die Arbeiter sind über Radio und Popsongs dem Bombardement eskapistischer Konsumption ausgesetzt', beobachtet Nono 1966 in einem Interview. 'Aber um ihr eigenes Leben und um ihrer Arbeit willen, müssen sie in Fragen der Technik Avantgarde sein: neue technische Mittel für die Produktion und Arbeit. ... Das Verständnis für die Arbeits- und Kompositionsabläufe im Studio, sowie für die semantische Analyse des Textes im Bezug darauf, wie er Musik wird, fällt ihnen leicht.'" Wir hören rein:

Magazinrundschau vom 08.05.2018 - Red Bull Music Academy

Pophistoriker Simon Reynolds hat retrospektiv ein neues Genre entdeckt: Synthedelia, psychedelische elektronische Musik aus den Sechzigern. Wie versteht er dieses "Quasi-Genre", in das für ihn Bands wie etwa Fifty Foot Hose fallen? "Zunächst: Die gemeinsame Herangehensweise an Elektronik war abstrakt und klangmalerisch, oft standen selbstgebaute Instrumente im Vordergrund. Weiterhin stehen die meisten dieser Gruppen in direkter Verbindung zur Avantgarde der Sechziger - sie stehen mit einem Bein im Psychedelic-Rock und mit dem anderen entweder im Bereich der akademischen Komposition oder im Fluxus-Underground der Multimedia-Happenings. Abschließend veröffentlichten all diese Bands ein oder zwei Alben, bevor sie sich auflösten. Anders als in Europa, wo Synthesizer in die progressive Musik eingebunden wurden und elektronischer Trance-Rock anhaltende Karrieren ermöglichte, schlugen die Innovationen von Fifty Foot Hose, Intersystems und all den anderen einfach keine Wurzeln im amerikanischen Boden. Keine der synthedelischen Bands wuchs sich zum US-Pendant von Tangerine Dream oder Kraftwerk aus. Ihre Platten überlebten als vom Charme ihrer Entstehungszeit geprägte Kuriositäten, aber auch als Herolde einer Zukunft, die nie eingetreten ist. Sie bieten damit einen verlockenden Ausblick auf das, was hätte möglich sein können."