Essay

Die rhapsodische Kamera

Von Daniele Dell'Agli
05.02.2014. Das einzige Kollektiv, das Miklós Jancsó mit utopischer Energie aufladen wollte, waren die Cinéasten. Sie lehrte der große Virtuose der Plansequenz, dass jede Veränderung der Verhältnisse mit einer Veränderung der Wahrnehmung beginnen muss. Dem großen ungarischen Regisseur zum Gedächtnis.
"Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben", seufzte der späte Nietzsche und vermutete einen grundsätzlich anderen Weltbezug bei den Völkern der uralischen Sprachfamilie, da hier der Subjektbegriff "am schlechtesten ausgeprägt" sei. An diese - wissenschaftlich umstrittene - Spekulation fühlt sich erinnert, wer aus gegebenem Anlass einen Rückblick auf das Werk des ungarischen Regisseurs Miklós Jancsó versucht und sich fragt, warum dieses wie kein anderes der jüngeren Filmgeschichte der Vergessenheit anheimgefallen ist, nachdem es mindestens eine ganze Dekade lang (1964-1974) für Aufsehen unter Cinéasten gesorgt hatte. Immerhin bieten Jancsós Filme eine extrem elaborierte, in sich schlüssige und unverwechselbare Ästhetik, die prima vista zwar hermetisch anmuten mag, aber durch die obsessive Wiederholung der gleichen Themen und Stilmittel eine gewisse Selbstverständlichkeit gewinnt.

Ihre Zumutungen scheinen demnach prinzipieller, sprich mentalitätsgeschichtlicher Natur zu sein und ex negativo die These zu belegen, dass die Globalisierung der Filmsprache, die in den letzten Jahrzehnten selbst ambitionierte iranische oder chinesische Produktionen dem europäischen Kinogänger konsumierbar gemacht hat, im Umkehrschluss die Voraussetzungen zerstört, sich auf ein Autorenkino einzulassen, dessen Werke kompromisslos ihren eigenen Kosmos nach eigenen Gesetzen entfalten. Für das Verständnis von Jancsós Filmen heißt dies, um den riskanten Vergleich wieder aufzunehmen, dass die Fremdheit einer anderen Grammatik der Weltwahrnehmung, wie sie etwa der agglutinierende Satzbau des Ungarischen nahe legt, der ohne die uns vertrauten Flexionen auskommt, angesichts einer filmischen Syntax wieder begegnet, die gänzlich auf die Montage verzichtet, um stattdessen ihre Welt allein aus "gottlosen" (weil die Subjektstellung ad absurdum führenden) Plansequenzen erstehen zu lassen.


Miklós Jancsó

Er wisse nicht, was Montage sei, habe auch nie verstanden, wie das funktioniert: Einstellungen aus Schuss und Gegenschuss aneinanderzureihen. Dieses - aus dem Munde eines Filmregisseurs - mindestens kokette Statement enthält in nuce die Ästhetik Miklós Jancsó. Der Mann, der als radikaler Virtuose der Plansequenz in die Filmgeschichte eingegangen ist und vergleichsweise spät, mit 45 Jahren zu seinem Stil und zu internationaler Anerkennung fand, wurde am 21. September 1921 in Vác, einem kleinen Ort in der Nähe von Budapest geboren, und es scheint, als ob er die historische Tragik einer kleinen Nation in Mitteleuropa, die viele seiner Filme zum Gegenstand haben, bereits in die Wiege gelegt bekam: durch die Verbindung einer rumänischen Mutter mit einem ungarischen Vater. Diese - auch makropolitisch - konfliktträchtige "transsilvanische" Konstellation mag dazu geführt haben, dass sein Jurastudium zunehmend durch ethnologische und kunstgeschichtliche Interessen überlagert wurde, und es ihn nach Kriegsende dorthin verschlug, wo man lernen konnte, Distanz zu einer realgeschichtlich zwischen Nationalismus und Stalinismus zerriebenen Gegenwart zu gewinnen: an die Hochschule für Bühnen- und Filmkunst von Budapest.

Doch es bedurfte eines ganzen Jahrzehnts zumeist noch anonymer Gehversuche als Kurz- und Dokumentarfilmer, der Infragestellung aller ethischen und ästhetischen Orientierungen durch die Niederschlagung des Volksaufstands 1956 sowie der kulturellen Liberalisierung Anfang der sechziger Jahre, bis er seine persönliche Handschrift im Umgang mit dem Medium entwickeln konnte. Dies geschah wie bei den anderen Exponenten dessen, was man bald das "neue ungarische Kino" nannte - darunter Zoltán Fábri, István Szábo und András Kovács - in Auseinandersetzung mit dem polnischen Expressionismus à la Andrzej Wajda und den mittlerweile zugänglich gewordenen Werken des westeuropäischen Autorenkinos, allen voran Antonionis und Bergmans.

Jancsós dritter Spielfilm "Igy Jöttem" (So kam ich, 1965) erzählt indirekt von diesem umwegigen, mehrfach verzögerten und gebrochenen Werdegang anhand der Geschichte eines bei Kriegsende auf seinem Heimweg zwischen die Fronten geratenen Jugendlichen, der abwechselnd die ethnische und die politische Identität wechseln muss, um überhaupt überleben zu können. Zugleich gibt "So kam ich" Rechenschaft über die Entdeckung und Erprobung jener Stilmittel, die künftig - in der Grundstimmung des am Schluss erklingenden "Allegro Barbaro" von Bartok - ein ästhetisches Programm markieren werden, das im nächsten, auch international viel beachteten Spielfilm "Die Hoffnungslosen" (ebenfalls 1966) erste Konturen gewinnt.


Die Hoffnungslosen (1966)

Hier finden sich bereits alle Elemente seiner Filmkunst versammelt: seine Vorliebe für tragische Episoden aus der ungarischen Geschichte, die er modellhaft auf Machtkämpfe rivalisierender Gruppen oder gruppeninterner Rivalitäten reduziert; die Weite der Puszta, die mangels strukturierender Merkmale den Blick zwar ungebunden schweifen lässt, den Individuen aber im doppelten Sinne des Wortes keinerlei Perspektive bietet. Vergeblich sucht man in dieser Landschaft nach vertrauten Elementen urbaner oder technischer Zivilisation (erst in den siebziger Jahren tauchen fahrende oder fliegende Maschinen auf); Jancsós Pleinair-Aufnahmen setzen ganz auf eine geometrisierende Choreographie der Handlung und ihrer Akteure: stumm verharrende, singende oder tanzende (beziehungsweise marschierende und schießende) Kollektive; manische Peripatetiker (gesprochen wird fast ausschließlich im Gehen) und ebenso ruhelose Kentauren (die mit ihren Pferden verwachsenen Reiter). Sie alle sprechen und handeln wie in Trance, gehen mangels psychologischer Charakterisierung ganz in der Äußerlichkeit ihrer Erscheinung und im Rhythmus ihrer Bewegungen auf: Personae anstelle selbstbestimmter Individuen, Masken, durch die je nachdem einsilbige Dialogfetzen und Befehle ("Die Hoffnungslosen", "Sterne an den Mützen", 1967, "Stille und Schrei", 1968), ideologische Diskurse ("Schimmernde Winde", 1969, "Roter Psalm", 1972) oder rituelle Einsetzungsformeln ("Meine Liebe Elektra", 1974) tönen.


Sterne an den Mützen (1967)

Vieles, was Victor Turner in seinen Studien über den "Ernst des menschlichen Spiels" zum Zusammenhang von Übergangsriten und Ortswechsel, von Schwellenzuständen und Gemeinschaftsbildung geschrieben hat, liest sich wie ein Kommentar zu Jancsós Dramaturgie. Insbesondere, wenn er bei der Beschreibung der grundlegenden Ambiguität von Arbeit und Spiel, Täuschung und Ernst, Sakralem und Profanem, die dem Ritual wie dem Theater eigen ist, daran erinnert, dass der Begriff Ambiguität sich von ambigere = wandern, umherschweifen, irregehen herleitet, womit zugleich die Haupttätigkeit von Jancsós Figuren bezeichnet wäre. Wann immer sie dazu ansetzen, sich der Logik des Geschehens zu entziehen, verlaufen sich ihre Schritte im Nirgendwo, unschlüssig schlendern sie im Kreise, um bald von der Umarmung des Kollektivs wieder eingefangen zu werden und im Schulterschluss den Reigen der gemeinsamen Kraft und Disziplin einzuüben. Die offene Ebene wird abwechselnd zum Käfig für desorientierte Individuen und zum Spielraum für vitale Ensembles, deren ambivalente Gruppendynamik - solidarischer Halt und molekularer Terror - sich unabhängig von den politischen Vorzeichen durchsetzt. Nicht selten fängt eine Sequenz im Geiste Becketts an, um bei Orff zu landen.

"Schimmernde Winde" (1969), ein vergleichsweise heiterer, beschwingter Film, der auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung die Aporien revolutionärer Ungeduld anhand der Kampagnen der ungarischen Volkskollegien 1947 schildert (ein Lehrstück dialektischer Phantasie und eine wunderbare Hommage an den Geist von '68), markiert auch ästhetisch eine Wende in Jancsós Schaffen: die strenge und karge Schwarzweiß-Fotografie der frühen Werke weicht jetzt einer zunächst noch dezent symbolträchtigen Farbgebung, die in den siebziger Jahren zu opulenten, an der Renaissance-Malerei inspirierten und dann wieder surrealistisch gebrochenen Tableaux vivants anschwillt, während die eurythmische Trias aus Reiten, Tanz und Gesang den Inszenierungen zunehmend den Charakter von Freilichtspielen, einer düsteren Folklore mit Musical- und Happening-Charakter ("Roter Psalm", "Ungarische Rhapsodie", 1979; "Allegro Barbaro", 1979) verleiht.


Schimmernde Winde (1969)

Die filmdramaturgisch ungewöhnliche Einheit von Ort, Zeit und Handlung wird von Jancsó durch eine Aufnahmetechnik realisiert, die zumindest in seiner Handhabung einmalig ist: seit "Stille und Schrei" (1968) komponiert er seine Filme ausschließlich aus Plansequenzen. "Ich benutze eine Arriflex mit 100 bis 150 Metern Film, was etwa einer Länge von 5 Minuten entspricht; ich versuche jede filmische Idee in eben diesen fünf Minuten zu realisieren... Die Plansequenz würde ich definieren als die Kontinuität einer Idee in Bewegung." Das Verfahren, das er bei Antonioni entdeckte, kam seinem Unbehagen an der Montage als einer "unnatürlichen, den Zuschauer gängelnden Technik" ebenso entgegen wie seiner Neigung, mit einem rudimentären Skript am Set zu improvisieren.

Doch im Gegensatz zu seinem Vorbild beschränken sich die langen Kamerafahrten bei ihm nicht darauf, feststehende Objekte abzutasten oder bewegte parallel zu begleiten. Vielmehr organisieren seine Plansequenzen das Blickfeld dynamisch, fließend, als kinetischen Sog; der Zuschauer sieht sich in die Perspektive eines ständig Richtung, Entfernung und Winkel wechselnden Auges versetzt, einer rhapsodischen Kamera, die durch den paradoxen Effekt von kontinuierlicher Blickführung (durchgehende Einstellung) bei gleichzeitiger Diskontinuität der Erzählung (wechselnde Kadrage) als solche "spürbar" wird und die filmische Illusion wie einen luziden Traum an der Schwelle zum Erwachen ständig aufzulösen droht. Die Ambiguität der Darstellung erweist sich somit zugleich als eine der Erzählung wie des Darstellungsprinzips selbst: das Zusammenspiel von Travelling, Schwenk und Zoom auf der einen und einer ausgeklügelten Choreographie auf der anderen Seite lässt die Figuren permanent die Positionen und damit die Fronten wechseln. Nicht nur ästhetisch und psychologisch, auch moralisch-politisch wird ihm jede Identifikation verweigert.

Ein derart radikaler Einsatz der Plansequenz unterläuft die übliche Zerlegung des Raums in der Einstellung und ihre Anordnung als zeitlichen Ablauf in der Montage; bei durchschnittlich dreißig zusammenhängenden Einheiten pro Film (der gewöhnliche amerikanische Spielfilm bringt es auf mindestens 1.200 Einstellungen, Antonionis "Der Schrei" auf 520, der gravitätische "Stalker" von Tarkowskij bei allerdings fast doppelter Normallänge noch auf 90) wirkt jeder Augenblick endlos gedehnt, ein Zeitraum, in dem alles gleichzeitig zu geschehen scheint, auch wenn es nur sukzessiv gezeigt werden kann; die Gesetze der Kausalität und Wahrscheinlichkeit sind aufgehoben, die Handlungsabläufe erscheinen prinzipiell revozierbar, wo sie nicht ohnehin als solche vorgeführt werden ("Meine Liebe Elektra", "Roter Psalm"); der stillgestellten Zeit entsprechen auf der Handlungsebene die sinnlosen Kreisbewegungen der Akteure. Woran etwa zeitgleich Pasolinis Tragödienprojekt ("Das Mattäus-Evangelium", "Ödipus Rex", "Medea") scheitern musste - die Faszination mythischer Stoffe durch eine archaisierende Darstellungsform hindurch zu aktualisieren - gelingt Jancsó mühelos dank seiner extremen Inszenierungstechnik. Diese wiederum, die so manchen berühmteren Kollegen inspiriert hat - von Tarkowskij und Angelopoulos über Iosseliani und den späten Kurosawa bis zum Theater der Ariane Mnouchkine und nicht zuletzt dem Antiken-Projekt der Berliner Schaubühne - dürfte Jancsó auch die breite Resonanz gekostet haben.


Ungarische Rhapsodie (1979)

"Die Technik und das Ritual", der Titel eines für das italienische Fernsehen gedrehten Films (1972), fasst am bündigsten Jancsós ästhetische Intention zusammen: mit den Mitteln einer modernen Technik die Spannung zwischen sakralem Zauber und profaner Reflexivität, zwischen mythischem Verhängnis und aufgeklärter Selbstbehauptung auszuloten und in eine kohärente Form zu bannen. Man hat ihm vorgeworfen, dass er sich mehr für Probleme der Kameraführung als für seine Stoffe interessiert; dass der historische Bezug abstrakt, Geschichte generell zur Wiederkehr der immergleichen Konstellationen und zwanghaften Abläufe verdammt bleibt: doch abgesehen davon, dass solch eine nihilistische Weltsicht von jeder beliebigen Faktensammlung bestätigt wird, verkennt der Vorwurf je nachdem des Formalismus (von links) oder der Geschichtsfälschung (von rechts) den politischen Gehalt von Jancsós ästhetischer Strategie: dass nämlich jede Veränderung der Verhältnisse mit einer Veränderung der Wahrnehmung beginnen muss, soll nicht post festum alles beim alten bleiben.

Der experimentelle Charakter seiner Parabeln, ihr Spiel mit der filmischen Illusion, die Technik der Plansequenz, die den Zuschauer auf den Schauplatz der Geschehnisse mitnimmt, stets auf der Seite jener, die gerade nicht im Bild sind, aber jeden Moment durch einen Kameraschwenk ins Blickfeld rücken können (während die Zuschauer sich in die soeben verlassene Position versetzt sehen), all das spricht dafür, dass dieser Regisseur "sein" Volk nicht in der Puszta, sondern im Kinosaal rekrutiert; dass es die Cinéasten selbst sind, die dieses imaginäre Kollektiv bilden, das er mit utopischen Energien aufladen möchte, von denen selbst der frühe Pasolini sich nichts hätte träumen lassen. Dass Jancsó geglaubt hat, dieses Publikum ohne alle wohlfeilen Identifikationsangebote gewinnen zu können, zeugt von einer "revolutionären" Naivität, wie sie wohl nur zu Zeiten der heroischen Moderne möglich war.

Unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Umbrüche im Ungarn der neunziger Jahre vollzieht Jancsó eine denkbar radikale Abkehr von den Stilmitteln, die drei Jahrzehnte lang mit seinem Namen assoziiert waren: Keine Plansequenzen, keine Puszta-Choreografien, keine ritualisierten Geschichtstragödien mehr. Geblieben ist die Auseinandersetzung mit der ungarischen Geschichte und ein gewisser Hang zum Surrealismus, der sich seit "Gottes Laterne" in Budapest, mit dem Jancsó 1999 ein überraschendes Comeback zumindest beim ungarischen Publikum gelang, allerdings nicht länger in rätselhaft-symbolschwangeren Tableaus als vielmehr im absurden Witz schwarzer Komödien äußert. Neu ist neben einer episodischen Erzählweise wider alle dramaturgische Logik eine Vorliebe für Nahaufnahmen, die zwar der Individualisierung der Protagonisten - sie treten endlich aus dem kollektivistischen Rausch des Frühwerks - dienen, jedoch abermals keine ihrer Identität gewisse Personen vorführen. Der Preis der neuen Freiheit seit dem Zusammenbruch des Kommunismus, daran lässt der alte Jancsó keinen Zweifel, ist völlige Desorientierung - der Werte, der Lebensformen, der kulturellen Sinnressourcen. Dass er sich von dieser deprimierenden Zeitdiagnose nicht wie sein jüngerer Landsmann (und Schüler) Béla Tarr zu düster-melancholischen Abgesängen inspirieren lässt, sondern noch als über Achtzigjähriger in seinen letzten Filmen einen ebenso satirischen wie anarchischen Gegenzauber entfesselt, gehört zu den nicht wenigen Paradoxien dieses hierzulande noch zu entdeckenden Filmschaffens. Am 31. Januar ist Miklós Jancsó im Alter von 92 Jahren in Budapest gestorben.

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P.S. Für seine innovative Filmsprache wurde Jancsó - soll man sagen "trotzdem" - mit zahlreichen Kritikerpreisen, dem Preis für die beste Regie in Cannes 1972 (für "Roter Psalm") und dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk in Venedig 1990 ausgezeichnet. Warum er ausgerechnet in Deutschland ein Unbekannter geblieben ist, muss die Filmgeschichte eines Tages herausfinden.


Hier Jancsós "Sterne an den Mützen" mit englischen Untertiteln: