Essay

Für eine wohlwollende Indifferenz

Von Pascal Bruckner
12.11.2013. Der Begriff der "Islamophobie" rückt Kritik an einer Doktrin in Rassismus-Verdacht. Gestraft sind mit dem Begriff vor allem liberale Muslime.
Aus totalitären Regimes wissen wir, dass auch Sprachen krank werden können. "Islamophobie" gehört zu jenen giftigen Wörtern, die das Vokabular vernebeln und verfälschen. Von den Verwaltern der französischen Kolonien am Anfang des 20. Jahrhunderts ersonnen, um ihre "Eingeborenen" vorm Virus der Moderne zu schützen, taucht dieser missverständliche Ausdruck zur Zeit der iranischen Revolution wieder auf. Aber mit anderer Bedeutung: Er macht den Islam zu einem unantastbaren Objekt, entzieht ihn der Kritik und umstellt ihn mit Drohungen. Er träumt vom Status des Antisemitimus und ist Schutzschild eines Fundamentalismus, der sich ins Gewand des Opfers hüllt. Eine raffinierte Begriffsschöpfung, denn sie stellt das Delikt der Blasphemie gegenüber den großen Systemen des Glaubens wieder her. Akte religiöser Intoleranz - das Ansprayen von Moscheen, die Belästigung verschleierter Frauen, die in die Zuständigkeit der Gerichte fallen - und der freie Blick auf eine Doktrin werden gleichgesetzt.

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Die Grafik zeigt die Häufigkeit des Worts "Islamophobie" in englischsprachigen Büchern von 1995 bis 2008. Sie wurde mit dem Google Ngram Viewer erstellt und basiert auf den Daten von Google Books. (D.Red.)



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Der Hauptwiderspruch des heutigen Antirassismus liegt darin, dass er in seinem Kampf gegen Diskriminierung alles Mögliche mit "Rassen" gleichsetzt - Kulturen, sexuelle Neigungen, und auch die großen Religionen. Rassismus verfolgt Menschen für das, was sie sind - schwarz, arabisch, jüdisch, weiß - und legt sie darauf fest. Die Meinungen über bestimmte Bekenntnisse aber können wechseln und sind zurecht Gegenstand der Auslegung und der Interpretation. Man hat absolut das Recht, Konfessionen zu verabscheuen und das auch zu sagen, so wie man das Recht hat, nicht marxistisch, liberal oder sozialistisch zu sein. Verboten ist nur, Gläubige zu verfolgen oder anzugreifen und Anschläge auf ihre Besitztümer oder ihre Vertreter zu verüben. Seit der kemalistischen Revolution in der Türkei ist der Islam gespalten in Fortschrittliche und Traditionalisten. Die verlorene Größe des Islam erfüllt sie mit Trauer, aber auch mit Ressentiments und Hass. Diese Wunden wollen die Fundamentalisten möglichst rasch heilen, indem sie Kreuzrittern, Ungläubigen und Zionisten die Schuld geben, während die Reformer den Islam weiter öffnen möchten, um einen Vitalitätsschub zu erreichen.

Der Begriff der "Islamophobie" will westliche Schuldgefühle wecken. Aber in erster Linie dient er als Machtmittel gegen liberale Muslime, die es wagen, ihre Religion zu kritisieren, die eine Reform der Familienpolitik und Geschlechtergleichheit fordern und die sich das Recht anmaßen, nicht an Gott zu glauben oder den Ramadan mitzumachen.

Sie sollen bei ihren Glaubensbrüdern als Büttel des Kolonialismus angeprangert werden, um jegliche Hoffnung auf Veränderung im Keim zu ersticken. Mit Zustimmung nützlicher Idioten von rechts und links, die stets auf der Lauer nach neuen Formen des Rassismus und neuen Unterdrückten liegen.

Seit gut zwanzig Jahren erleben wir, wie ein Meinungsdelikt konstruiert wird, ganz ähnlich wie es einst die Sowjetunion mit den "Feindes des Volkes" machte. Es soll Frauen stigmatisieren, die sich danach sehnen, den Schleier abzulegen und ohne Scham barhäuptig durch die Straßen zu laufen, die aus Liebe, und nicht aus Zwang heiraten wollen. Man zielt auf Franzosen, Deutsche und Engländer maghrebinischer, afrikanischer oder türkischer Herkunft , die das Recht auf religiöse Indifferenz fordern und sich von ihrer Herkunft lösen wollen. Kurz: Man verschiebt die Frage aus einem intellektuellen oder theologischen Kontext in den der Strafe: Jeder Einwand, jeder Scherz, jedes Zögern wird mit Sanktionen bewehrt.

Ein schlagendes Gegenbeispiel: Obwohl christliche Minderheiten in Ländern des Islam verfolgt, getötet und zur Flucht gezwungen werden, gibt es das Wort "Christianophobie" nicht und wird es auch nie geben. Seltsamerweise fällt es uns schwer, das Christentum nicht als eine Religion der Eroberung zu denken, selbst wenn sie ein Martyrium erlebt, zumindest im Nahen Orient. In Frankreich, einem Land mit antiklerikaler Tradition, darf man sich über Moses, Jesus und den Papst lustig machen und sie in allen möglichen obszönen Posen zeigen, aber unter keinen Umständen soll man über den Islam lachen. Nur er soll der Schande und dem Spott entzogen sein. Welche Anmaßung! Zumal antireligiöse Handlungen in Frankreich eher Christen treffen, obgleich sie auch gegenüber Juden und Muslimen zunehmen. Gerade weil das laizistische Frankreich seine muslimischen Bürger als gleichberechtigt ansieht, hat es für das Kopftuchgesetz gestimmt: Man hätte sie natürlich auch wie die Briten (die anfangen, ihre Meinung zu ändern) auf ihre Andersartigkeit und ihre archaischen Sitten festlegen und sich der Verantwortung entziehen können.

Der Islam gehört zu Frankreich und Europa und hat ein Recht auf freie Religionsausübung, angemessene Gotteshäuser und Respekt. Vorausgesetzt, er respektiert die republikanischen Regeln, verlangt keinen extraterritorialen Status, spezielle Rechte, Geschlechtertrennung in Schwimmbädern, beim Unterricht und in Kantinen und andere Gefälligkeiten. Was man dem Islam wünschen mag , ist nicht "Phobie" oder "Philie", sondern eine wohlwollende Indifferenz auf einem Markt der Spiritualität, der für alle Glaubensrichtungen offen ist. Aber genau diese Indifferenz wollen die Fundamentalisten nicht. Denn das hieße, dass der Islam eine Religion unter vielen ist, und das finden sie unerträglich. Er soll nicht gleich sein, denn er ist allen überlegen. Da liegt das Problem!

Pascal Bruckner

Aus dem Französischen von Lea Kosch

Der Artikel ist zuerst in Le Monde vom 31.10.2013 erschienen. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors.