Vorgeblättert

Leseprobe zu Elizabeth Taylor: Blick auf den Hafen. Teil 1

25.07.2011.
Kapitel zwei

Beth saß inmitten ihrer Zeitungsausschnitte beim Frühstück. "Ihre Beobachtungsgabe", las sie, "ihre große Menschlichkeit." Sie hielt, während sie ihren Kaffee trank, die Papierstreifen in die Höhe, recht zufrieden mit dem Bild, das hier von ihr entworfen wurde.
     "Ich komme zu spät zur Schule", sagte Stevie.
     Robert ließ die Zeitung sinken. "Beth, was ist mit Stevie?"
     "Dann lauf und wasch dir das Gesicht, Liebes", sagte Beth.
     "Ich will aber nicht alleine gehen."
     "Prudence, geh du mit ihr."
     Robert konnte sehen, wie verkrampft das Kind war, kurz davor, eine Szene zu machen. Als sie zurückkam, wusste er, dass Prudence die Sache noch verschlimmert hatte, indem sie ihr den Mantel zu hastig angezogen und die kleinen Zöpfe gestrafft hatte, bis sie die Augen nicht mehr hätte schließen können. Plötzlich brach Stevie in Tränen aus und stand breitbeinig da, die Fäuste vor den Augen, der Mund sperrangelweit offen.
     "Was ist denn nur los?", fragte Beth verwundert.
     "Sie hat das Gummiband unter meinem Kinn schnappen lassen."
     "Ach, Herrgott!", rief Prudence und warf sich wieder in ihren Stuhl.
     "Jetzt kann es nicht mehr wehtun. Wo ist dein Taschentuch? Du willst doch nicht mit roten Augen zur Schule gehen."
     Aber Stevie hatte noch lange nicht die Absicht, die Szene zu beenden. Sie brüllte ohne Pause, unerbittlich.
     "Da ist nicht mal ein roter Striemen", sagte Beth, die mit dem Finger zwischen dicklichem Kinn und Gummiband entlangfuhr.
     "Es dürfte doch einigermaßen offensichtlich sein", sagte Robert leise und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, "dass das Gummiband nicht das Geringste damit zu tun hat."
     Prudence erkannte an dem Ausdruck "das Geringste", dass ihr Vater die Geduld verloren hatte. Als er hinausgegangen war, wechselte Stevies Geheul von Dur zu Moll.
     "Könntest du mir sagen, was los ist?", fragte Beth höflich.
     "Warum kann ich nicht an Gott glauben wie die anderen Mädchen", schluchzte Stevie. "Ich will das so gern."
     "Dann tu es doch, tu es", sagte Beth kühl.
     "Du hast gesagt, dass das alles nicht wahr ist."
     "Das war nur meine Meinung. Du bist mit all dem Unfug über das Höllenfeuer nach Hause gekommen. Natürlich musste ich dir da erklären, dass das Unfug ist."
     Prudence, die gern auf Nummer sicher ging, fand, dass ihre Mutter das Schicksal unnötig herausforderte.
     Ich möchte aber viel lieber daran glauben."
     "Warum fängst du mit all dem an, wenn du gerade gehen musst. Da ist Robert schon mit dem Wagen. Komm her, Herzchen, damit ich dir die Augen trocknen kann. Sei ein braves, vernünftiges Mädchen, dann darfst du an Gott glauben, so viel du möchtest, und an die Unbefleckte Empfängnis und an die Heilige Wandlung und an die Grotte von Lourdes und alles ?" Ihr Sarkasmus hatte etwas Pedantisches.
     "Ich wollte ja nur an Gott glauben", sagte Stevie schmollend, "damit ich immer zur Andacht gehen kann."
     Robert hupte.
     "Jetzt lauf schon, sonst wird Robert ungeduldig." Sie küsste Stevies pochendes Gesicht und trat ans Fenster, um zu beobachten, wie sie ins Auto einstieg. Es war ein grauer und blauer Küstentag. Der Himmel sah aus wie eine Kinderzeichnung. Robert winkte und fuhr davon.
     "Ich möchte wissen, warum man in England nie Wunder erlebt", sagte Prudence, die noch über Religion nachdachte.
     "Wer ist 'man'?", fragte ihre Mutter. Sie strahlte keine Wärme auf ihre Kinder ab. Schon das Alter der beiden, die fünfzehn Jahre Unterschied zwischen Prudence und Stevie, deutete darauf hin, dass sie zufällig gezeugt worden waren, ohne innere Verbindung zu ihr selbst, fremde, unerwartete Blüten.
     "So früh schon ein Gast?", sagte sie jetzt, als sie Bertram vom Wirtshaus auf die Uferseite wechseln sah.
     "Wer denn?" Prudence kam zum Fenster gelaufen und stellte sich so dicht neben ihre Mutter, dass ihre Brust sich weich an sie drängte. Beth rückte unbewusst ein wenig von ihr ab.
     "O ja! Ich habe ihn gestern Abend schon gesehen. Was für ein schönes weißes Taschentuch!" Sie beobachteten, wie Bertram sich die Nase schnäuzte. "Und da kommt Tory."
     "Wie fein sie zurechtgemacht ist!"
     Bertram hatte sich umgedreht, steckte das Taschentuch wieder ein und verbeugte sich. Sie sahen Tory auf einmal warmherzig lächeln, doch als sie auf das Haus zukam, machte sie ein verwundertes Gesicht.
     "Kenne ich den Mann da draußen?", fragte sie, eine Duftwolke hereinbringend.
     "Er wohnt drüben im Wirtshaus", sagte Prudence.
     "Beth, meine Liebe, ich fahre nach London. Brauchst du etwas?" Sie war ganz in Grau gekleidet, ihr Hut federig.
     "Du fährst nach London!", wiederholte Beth, als täte man das nur in äußerster Not.
     "Das Haus macht mich wahnsinnig. Ich glaube, ich werde keine der Uhren mehr aufziehen, damit ich sie nicht mehr ticken höre."
     "Du vermisst Edward. So ist das immer in der ersten Zeit."
     "Es ist nicht richtig, Kinder derart verzweifelt zu vermissen. Ich brauche unbedingt etwas Eigenes."
     Prudence nahm ihre Katzen hoch und ging hinaus. Sie hörten sie die Haustür öffnen.
     "Was denn zum Beispiel?", fragte Beth ratlos.
     "Einen neuen Hut vielleicht." Tory lachte. "Einen Frühlingshut."
     "Aber du hast Dutzende von Hüten und trägst sie kaum."
     "Ich weiß. Der alte schwarze Schal."
     "Du hättest doch den Tag bei mir verbringen können, wenn du einsam und unruhig bist."
     "Du hast zu tun. Außerdem ist da Robert."
     "Was ist mit ihm? Er kommt nur zum Mittagessen her."
     "Robert und ich ?" Tory zögerte. "Wir ? sind uns nicht grün, was immer das heißen mag."
     Beth fing an zu protestieren, aber auf eine unaufrichtige, förmliche Art.
     "Oh, bitte verschone mich!", sagte Tory und nahm einen der Zeitungsausschnitte vom Tisch. "Ist es nicht wunderbar, den eigenen Namen gedruckt zu sehen?"
     "Nein", sagte Beth. "Es spielt keine Rolle, so oder so."
     "Und wenn sie nette Sachen schreiben?"
     "Es kommt immer zu spät, wenn es einen schon nicht mehr kümmert. Außerdem schreiben sie oft garstige Sachen. Aber auch das spielt keine Rolle."
     "Du hast ein geheimes Leben."
     "Das haben wir alle", sagte Beth hölzern und begann, das Geschirr auf dem Frühstückstisch zusammenzuräumen.
     "Beobachtungsgabe", las Tory laut. Sie legte die Zeitung weg und ging zum Spiegel. "Hast du eine gute Beobachtungsgabe, Beth?"
     Beth errötete immer wie ein Mädchen, wenn jemand sie etwas Persönliches fragte. "Ich glaube, man weiß es schon ganz früh, wenn man Schriftstellerin werden will. Und übt sich. Im aufmerksamen Hinsehen ?" Sie redete dann auch immer etwas wirr.
     "Was ist los, Tory? Du wirkst bedrückt."
     Tory lächelte sich selbst im Spiegel an. "Ja? Ich bin aber gar nicht bedrückt." Sie strich sich mit dem Finger über eine Augenbraue. "Ich muss los."
     "Falls du zufällig irgendwo diese cremefarbenen Strümpfe siehst ?", sagte Beth. "Aber nur, wenn du sowieso in so ein Geschäft gehst." Sie folgte Tory zur Tür. Prudence stand am Wasser und unterhielt sich, die Katzen auf dem Arm, mit Bertram. Die Katzen wirkten verlegen, sie wandten die Köpfe ab, als wüssten sie, dass von ihnen die Rede war.

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