Essay

Multikulturalismus ist nicht gleich Kulturrelativismus!

Von Jesco Delorme
08.03.2007. Multikulturalismus ist nicht gleich Kulturrelativismus. Er könnte auch ein liberaler Kulturalismus sein, wie ihn der kanadische Philosoph und Politologe Will Kymlicka propagiert. Dann wäre die Frage, auf welcher Basis Minderheiten Gruppenrechte einfordern können.
Um es nun in aller Deutlichkeit zu sagen: Alle bisherigen Teilnehmer an der Perlentaucher-Debatte bejahen explizit den Glauben an bestimmte universell gültige Werte; nicht einer vertritt eine kulturrelativistische Position! Es ist - gelinde gesagt - unbegründet, dies Ian Buruma, Timothy Garton Ash und Stuart Sim zu unterstellen. Weshalb, Herr Bruckner, Frau Kelek, Herr Cliteur, Herr Gustafsson und Frau Ackermann, tun Sie es dennoch?

Die Antwort fällt aus meiner Sicht eindeutig aus: Sie begehen den Fehler, anzunehmen, die Position des Multikulturalismus impliziere notwendig eine kulturrelativistische Haltung oder gehe in dieser auf!

Betrachten wir die Überlegungen eines der prominentesten Vertreter des Multikulturalismus - des Kanadiers Will Kymlicka. Er fasst unter diesem Begriff alle Ansätze, die behaupten, es gäbe bestimmte Ansprüche ethnisch-kultureller Gruppen, die im Einklang mit den liberalen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit stehen und es rechtfertigen, Minderheiten gesonderte Rechte zu gewähren. Multikulturalismus steht somit - im Unterschied zum Kommunitarismus - nicht in Opposition zum Liberalismus; die liberale Ordnung ist vielmehr auch seine Ermöglichungsbedingung. Daher bezeichnet Kymlicka die von ihm vertretene Position als "liberalen Kulturalismus". Der Multikulturalist fordert bestimmte Gruppenrechte als Ergänzungen der liberalen Ordnung, die bislang einseitig geprägt ist vom Bild des weißen, heterosexuellen Mannes mittleren Alters und ohne Behinderungen. Diese beansprucht jedoch universelle Gültigkeit, nicht relative! Der Multikulturalist vertritt ein monistisches oder pluralistisches Weltbild, kein kulturrelativistisches!

Die eigentliche Frage lautet nun: "Anhand welcher Kriterien lassen sich Ansprüche, die den Liberalismus ergänzen, von jenen unterscheiden, die ihn unterminieren?" Frau Ackermann und Frau Kelek mögen recht haben oder auch nicht, wenn sie sich dagegen wenden, aus Rücksicht gegenüber religiösen Gefühlen Sparschweine aus Banken zu räumen, Strände für muslimische Frauen abzusperren, muslimische Krankenhäuser zu gründen oder das Tragen von Kopftüchern zu erlauben. Sie müssen uns jedoch ihre Kriterien und Gründe nennen! Was unterscheidet etwa ein Stück abgeschirmten Strand, an dem muslimische Frauen unbeobachtet von Männeraugen baden können, von der örtlichen Sauna, die ihnen an bestimmten Tagen ähnliches ermöglicht? Inwiefern geht von dem einem eine Gefahr für unsere politische Ordnung aus, vom anderen jedoch nicht?

Um diese Frage zu beantworten, sollten wir zunächst darin übereinkommen, welches die für das liberale Gesellschaftsmodell wesentlichen Werte sind. Erst dann können wir überprüfen, ob bestimmte individuelle oder auch kollektive Handlungen diese bedrohen. Skizzieren wir also die Physiognomie genuin liberalen Denkens.

Die idee maitresse des Liberalismus ist der ethische Individualismus: der einzelne Mensch genießt Vorrang vor dem Kollektiv - er ist autonom. Zur politischen Willensbildung dürfen nicht überindividuelle oder metaphysische Größen wie Gott, die Geschichte oder das Volk herangezogen werden. Einzig individuelle Präferenzen sind legitime Grundlage politischer Entscheidungen.

Staatlicher Gewalt begegnet der Liberalismus stets mit Skepsis. Die Bürde der Rechtfertigung liegt auf Seiten derer, welche die Freiheit des Einzelnen einschränken wollen. Um staatlicher Bevormundung vorzubeugen dürfen zudem die tatsächlichen Wünsche erwachsener Menschen nicht mit Verweis auf ihre Emanzipation oder ihre "eigenen Interessen" ignoriert werden.

Schließlich gebührt allen Individuen ein Gleichmaß an Achtung und Rücksicht. Dies bedeutet übrigens keineswegs, blind gegenüber Unterschieden zu sein oder Gleichmacherei zu betreiben, Herr Sim! Bereits Aristoteles forderte, Gleichheit als proportionale Gleichheit zu verstehen. Personen im strikten Sinne gleich zu behandeln ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie tatsächlich gleich sind. Unterscheiden sie sich hingegen in normativ relevanten Hinsichten, so ist es gerechtfertigt, ja mitunter geboten, sie proportional zu diesen Unterschieden ungleich zu behandeln.

Dem liberalen Staat kommt die vornehme Aufgabe zu, den Menschen bei der Verfolgung seines individuellen Lebensentwurfes vor Eingriffen Anderer zu schützen, sofern dieser Entwurf jedem Mitmenschen die gleiche Freiheit zuspricht. Ihm kommt jedoch nicht das Recht zu, festzulegen, wie dieser Lebensentwurf im Einzelnen aussehen soll.

Ich erkenne nun beim besten Willen nicht, inwiefern ein Badestrand für muslimische Frauen und auch die anderen oben genannten Beispiele den hier skizzierten Geist des Liberalismus notwendig in Zweifel ziehen sollen. Für den Badestrand gilt dasselbe wie für die Damensauna: es sollte frau freistehen, diesen oder jene zu besuchen. Erst wenn dies nicht ihrer freien Entscheidung obliegt, wird unsere politische Ordnung in Frage gestellt. Daraus folgt dann jedoch nicht, der Strand oder die Sauna müssten geschlossen werden. Dies wäre eine ungerechtfertigte Beschneidung der Freiheit eben jener, die sich freiwillig zu einem Besuch entschließen. Vielmehr muss derjenige, der auf die Betroffene Zwang ausübt, durch den Staat daran gehindert bzw. bestraft werden.

Bruckner, Kelek und die anderen Kritiker Burumas sind sich offensichtlich nicht darüber im Klaren, wie anspruchsvoll ihr eigenes politisches Denken ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie sich einreihen in die Phalanx jener, die das Tragen eines (muslimischen) Kopftuches verdammen?

Das von ihnen implizierte Argument ist hinlänglich bekannt: Das Kopftuch sei Ausdruck des fundamentalistischen Islam - oder in der verschärften Fassung, nämlich jener der bayerischen CSU und ihres verlängerten Arms, dem Bayerischen Verfassungsgericht: es könne als Ausdruck einer fundamentalistischen Haltung verstanden werden. Als solcher stelle das Kopftuch unter anderem die Emanzipation der Frau in Frage und leiste dem Patriarchat Vorschub.

Liberale müssen sich über dieses Argument wundern bzw. sich über die bayerische Version empören. Der Liberalismus kennt keine Kollektivschuld oder Sippenhaft. Schuld ist immer individuell gefasst und muss anhand des individuellen Verhaltens zweifelsfrei nachgewiesen werden. Dabei reicht die bloße Möglichkeit einer bestimmten Interpretation nicht aus - hier ist ein Nachweis der Faktizität erforderlich! Was immer "der Islam" (gleiches gilt übrigens für "die Mehrheit" oder "die abendländische Kultur") nach Meinung von Frau Kelek für Ansichten vertreten mag - keiner Muslima, der nicht zweifelsfrei Proselytenmacherei nachgewiesen wird, darf verwehrt werden, ein Kopftuch umzubinden, wenn sie sich freiwillig dazu entschließt. Bedeutet Emanzipation nicht eben dies: eigene Entscheidungen treffen zu dürfen?

Pascal Bruckner preist die französische Praxis der Laizität. Doch auch sie erweist sich bei genauer Betrachtung als eklatant illiberal: Atheisten und Agnostiker ignorieren die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens weitgehend. Gläubige begegnen ihr durch religiöse Überzeugungen, die ihnen mitunter das Tragen bestimmter Kleidungsstücke vorschreiben. Zwei Reaktionen auf ein und dasselbe Phänomen. Beiden ist die gleiche Achtung entgegen zu bringen. Eine liberale Gesellschaft zwingt niemanden, bestimmte religiöse Praktiken auszuführen. Ebenso wenig darf sie es dem Menschen verwehren, wenn er sich dazu freiwillig entschließt!

Seine Gegner scheinen das Kopftuch als Prüfstein der liberalen Gesinnung ihrer Trägerinnen zu betrachten. Dem möchte ich entgegenhalten: Es ist vielmehr der Prüfstein unserer eigenen liberalen Überzeugungen. Diese verraten wir, wenn wir es verbieten!

Zurück zum Kulturrelativismus. Er schreckt uns zu recht - es droht ein "Anything goes!". Denn selbst wenn der Anspruch auf muslimische Badestrände meiner Ansicht gerechtfertigt ist, gilt dies sicher nicht für Forderungen wie jene, ethnisch-religiösen Gruppen ein Recht auf Familiengerichtsbarkeit einzuräumen - die auch in Deutschland zu so genannten "Ehrenmorden" geführt hat.

Anhand welcher Kritierien können wir legitime Ansprüche von Minderheiten identifizieren? Kymlicka nennt zwei: Sie müssen die Freiheit der Individuen - insbesondere die Assoziationsfreiheit - innerhalb der Gruppe wahren und der Gleichheit zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen dienen.

Lassen sie uns also den Multikulturalismus ernst nehmen und ausloten, wie viel Differenz der Lebensentwürfe unsere liberale Gesellschaftsordnung tatsächlich erlaubt. Wollen wir Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund in unsere Gesellschaft integrieren, stehen wir sodann vor einer dreifachen Herausforderung: Politisch ist ihnen die Moral des Liberalismus nahe zu bringen. Moralisch sind wir gefordert, uns dabei selbst an seine Grundsätze zu halten. Philosophisch stehen wir schließlich vor der Aufgabe, für seine Vorzüglichkeit gute Gründe zu liefern.

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Jesco Delorme hat in Göttingen, Berkeley und Berlin Politikwissenschaft und Philosophie studiert und bereitet gerade eine Promotion über das Verhältnis von Liberalismus und Pluralismus vor.

Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.