Link des Tages

Günter Grass, die SS, das Bekenntnis

Eine Presseschau mit vielen Links
16.08.2006. Musste Günter Grass lügen, um der Bundesrepublik die Wahrheit predigen zu können? Warum schwieg der Kritiker des Beschweigens? Warum lüftete der Verächter des Miefs nicht das Geheimnis? Seit Zidanes Kopfstoß hat keine Frage die Feuilletons stärker bewegt.Aktualisiert am 22.8.2006
Am Samstag, den 12. August 2006, erklärte Günter Grass in einem zweiseitigen Interview mit der FAZ, dass er bei Kriegsende in der Waffen-SS gedient hatte.

Bislang hatte es in den Biografien des 1927 geborenen Schriftstellers geheißen, er sei 1944 als Flakhelfer eingezogen worden und habe dann als Soldat gedient. Nach einer Verwundung am 20. April 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nun erklärte Grass, er sei nicht in der Wehrmacht, sondern in der Waffen-SS gewesen, in der 10. SS-Panzerdivision "Frundsberg".

Eine Chronik der Ereignisse

12. August 2006

Günter Grass im Interview mit der FAZ:
"Das musste raus, endlich. Die Sache verlief damals so: Ich hatte mich freiwillig gemeldet, aber nicht zur Waffen-SS, sondern zu den U-Booten, was genauso verrückt war. Aber die nahmen niemanden mehr. Die Waffen-SS hingegen hat in diesen letzten Kriegsmonaten 1944/45 genommen, was sie kriegen konnte. Das galt für Rekruten, aber auch für Ältere, die oft von der Luftwaffe kamen, 'Hermann-Göring-Spende' nannte man das. Je weniger Flugplätze noch intakt waren, desto mehr Bodenpersonal wurde in Heereseinheiten oder in Einheiten der Waffen-SS gesteckt. Bei der Marine war's genauso. Und für mich, da bin ich meiner Erinnerung sicher, war die Waffen-SS zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit, die immer dort eingesetzt wurde, wo es brenzlig war, und die, wie sich herumsprach, auch die meisten Verluste hatte."

Er habe sich vor allem freiwillig gemeldet, um "rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet." Später glaubte er, "mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben". Die fünfziger Jahren schienen Grass nicht die rechte Zeit, sich zu offenbaren. "Wir hatten Adenauer, grauenhaft, mit all den Lügen, mit dem ganzen katholischen Mief. Die damals propagierte Gesellschaft war durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hatte."


Das Interview (hier ein Auszug) führen Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel. Anlass ist die bevorstehende Publikation von Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" im September. Grass schildert darin seine Kindheit in Danzig, Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft sowie seine Anfänge als Künstler im Nachkriegsdeutschland. Im Vorspann zum FAZ-Interview (hier ein längerer Auszug) wird für die darauf folgende Woche eine achtseitige Sonderbeilage der FAZ mit "ausführlichen Exklusivauszügen aus dem neuen Buch" angekündigt. Die Beilage werde außerdem "zahlreiche Rötelzeichnungen von Grass sowie zum Teil bislang unbekannte Fotodokumente aus der Jugend des Schriftstellers" beinhalten. "Günter Grass hat an der Gestaltung des Inhalts mitgewirkt", heißt es.

Im Leitartikel auf der Seite 1 der FAZ kommentiert Frank Schirrmacher: "Das ist, um es deutlich zu sagen, keine Frage von Schuld und Verbrechen. Grass war ein halbes Kind. Auch später hat er sich nie zum Widerstandskämpfer stilisiert." Und doch: "Wer die Rhetorik der Nachkriegs-Entschuldigungen und -Beschuldigungen kennt, glaubt, nicht recht zu hören. Der Autor, der allen die Zunge lösen wollte, der das Verschweigen und Verdrängen der alten Bundesrepublik zum Lebensthema machte, bekennt ein eigenes Schweigen, das, folgt man nur seinen eigenen Worten, absolut gewesen sein muss... Was wäre gewesen, wenn Franz Schönhubers Waffen-SS-Traktat 'Ich war dabei' auf seine Gegenstimme gestoßen wäre, unter der Überschrift 'Ich auch'?"


12./13. August

Noch am Wochenende gibt es erste Reaktionen:

Michael Wolffsohn (59), Historiker: "Auch Du, GG... ? Auch Du ein Wahrheitströpfler!" Für Wolffsohn kam das Bekenntnis viel zu spät. "Im April 1985 hatte er eine goldene Gelegenheit. Damals diskutierten Deutschland und die Welt heftig über den Bitburg-Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan: Sollten sie gemeinsam auf den dortigen Friedhof gehen, wo auch Soldaten der Waffen-SS lagen? Sie gingen... Damals, im April 1985, hätte GG aufstehen und erklären sollen: Auch ich war dabei." Doch meint Wolffsohn auch: "Durch sein beharrliches Schweigen wird GGs moralisierendes, nicht sein fabulierendes Lebenswerk entwertet." (Netzeitung)

Martin Walser (78), Schriftsteller: "Der Mündigste aller Zeitgenossen kann 60 Jahre lang nicht mitteilen, dass er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch. Grass hat durch die souveräne Platzierung seiner Mitteilung diesem aufpasserischen Moralklima eine Lektion erteilt." (Stuttgarter Nachrichten)

Ralph Giordano (83), Autor: "Wenn ich mich als Überlebenden des Holocaust einmal genau prüfe, dann hat diese Eröffnung von Günter Grass an meinen Sympathien für ihn nichts gemindert. Schlimmer als einen politischen Irrtum zu begehen, ist sich mit ihm nicht auseinander zu setzen. Öffentlich oder innerlich. Innerlich hat Grass sich - davon bin ich überzeugt - all die Jahrzehnte auseinander gesetzt. Und nun hat er es öffentlich gewagt. Dazu kann ich nur sagen: Gut, Günther Grass, dass Sie das getan haben!" (WDR)

Walter Jens (83), Literaturwissenschafter: "Grass' Bekenntnis ist abgewogen, präzise und vernünftig. Ein Meister der Feder hält Einkehr und überlegt sich: Was hast du im langen Leben zu berichten vergessen? Das hat er getan, und er verdient meinen Respekt." (zitiert in verschiedenen Zeitungen)

Erich Loest (80), Autor: "Was Grass sagt, ist ohne Vorwurf hinzunehmen. Er war sehr jung und stand unter keinem anderen Einfluss, der ihn abgehalten hätte. Ich habe mich auch zur Waffen-SS melden wollen, aber mein Schuldirektor hat das verhindert. Grass sollte uns sagen, warum er erst jetzt darüber schreibt." (Tagesspiegel)

Klaus Theweleit (64), Essayist und Kulturwissenschafter: "Es handelt sich um die Reklameaktion eines Publicity-Süchtigen, der ein neues Buch geschrieben hat. Wenn Grass den Umfragen entnimmt, dass nicht 102 Prozent der Deutschen ihn kennen, dann fällt ihm so etwas ein." (Tagesspiegel)

Klaus Bölling (77), Publizist und Regierungssprecher von 1974-1981: "Ein moralisches Urteil mag ich mir nicht anmaßen. Auch schmälert seine Enthüllung nicht sein literarisches Werk. Als Generationsgenosse frage ich mich nur: Warum hat ein so gescheiter Mann, der Praeceptor Germaniae, als der er sich sieht, das nicht längst erzählt?" (Tagesspiegel)

Hellmuth Karasek (72), Literaturkritiker: "Mit einem früheren Bekenntnis seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft hätte Grass möglicherweise den Nobelpreis riskiert. Grass hat den Nobelpreis wie kein anderer deutscher Autor verdient. Aber auf einmal kommt alles in ein neues Licht." (NDR)

Joachim C. Fest (79), Historiker: "Ich würde von diesem Mann nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen kaufen. Ich verstehe nicht, wie sich jemand 60 Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation erheben kann, gerade in Nazi-Fragen - und dann erst bekennt, dass er selbst tief verstrickt war." (Bild)

Dieter Wellershoff (80), Schriftsteller, meint, die Äußerungen von Grass sollten nicht dazu benutzt werden, ihn moralisch abzuurteilen. "Man lebt in der Welt, in die man hinein geboren wird." Dass Grass sein Schweigen über die eigene Rolle im Nationalsozialismus erst jetzt breche, wollte Wellershoff nicht bewerten. Möglicherweise habe er "Kritikwütigkeit" gefürchtet. (Kölner Stadtanzeiger)

Laut Gazeta Wyborcza erklärte Lech Walesa in Radio Gdansk: "An seiner Stelle würde ich mir überlegen, auf die Ehrenbürgerwürde von Danzig zu verzichten".


14. August 2006

Süddeutsche Zeitung. Gustav Seibt ist weniger von der Tatsache schockiert, dass Günter Grass Mitglied der Waffen-SS war, als von dem späten Bekenntnis. "Bedenkenlos aber war nicht selten vor allem Grass' Neigung zum scharfen moralischen Urteil. Noch jetzt, bei seinem 'Geständnis' zeigt er sich tief angewidert vom Mief der Adenauerzeit - und bekundet doch im selben Moment, dass er genau an diesem Mief durch sein Verschweigen Anteil hatte. Und ist nicht der enorme inszenatorische Aufwand, mit dem Grass jetzt die Öffentlichkeit ins Bild setzt, ein letzter Versuch, den Makel moralisch abzufangen und die Eindeutigkeit zu retten? Es bleibt, angesichts von Umständen, die eher Torheit als Schuld erkennen lassen, ein Nachgeschmack von Eitelkeit."

Neue Zürcher Zeitung. "In der Pose des selbstgewissen und von Eitelkeit nicht freien Moralisten versucht Günter Grass noch aus seinem Schuldgeständnis ein ästhetisch-ethisches Kapital zu schlagen." Roman Bucheli nimmt das späte Geständnis von Günter Grass, in der Waffen-SS gewesen zu sein, nicht gut auf. Vor allem die ungebrochene Rechthaberei von Grass stößt ihn ab. "Aber es kommt noch ärger. Die FAZ - die sich in dem Interview nicht durch hartnäckiges Nachfragen profiliert - spielt Grass gegen Ende des Gesprächs das Stichwort Celan zu. Grass lebte in den späten fünfziger Jahren vier Jahre in Paris und war damals mit Paul Celan befreundet. Über ihn lesen wir nun: 'Meistens war er ganz in die eigene Arbeit vertieft und im Übrigen von seinen realen und auch übersteigerten Ängsten gefangen.' Keinen Gedanken scheint Grass darauf verschwenden zu wollen, dass Celans 'übersteigerte Ängste' gerade in solchen gespenstischen Leerstellen des Schweigens, wie sie nun Grass einräumt, ihren Grund gehabt haben könnten."

taz. Auf den vorderen Seiten der taz kommentiert Gerrit Bartels Günter Grass' langes Schweigen über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS. "Grass wird jetzt damit leben müssen, dass man ihm, jenseits aller psychischen Verdrängungsmechanismen, genauso Kalkül unterstellen kann. Dass es ihm also offensichtlich gerade nach dem Welterfolg mit der 'Blechtrommel' nicht mehr gelegen erschien, seine Vergangenheit auch in ihren dunkelsten Ecken auszuleuchten - nicht zuletzt in späteren Jahren, da ihm der Literaturnobelpreis wichtiger und wichtiger wurde und er beim langen Warten darauf schon daran dachte - wie er in 'Beim Häuten der Zwiebel' bekennt - dem Nobelpreiskomitee einen Brief zu schreiben mit der Bitte, ihn keinesfalls zu küren; eine vorauseilende Nichtannahme also. Ein ehemaliger Waffen-SSler wäre für diesen Preis wohl nicht in Frage gekommen."

Frankfurter Rundschau. Der Autor Wilhelm von Sternburg hält Günter Grass' Geständnis auch nach mehr als sechzig Jahren für anerkennenswert. "Traurig aber, dass Günter Grass es auf eine so laute Weise tut und einen Zeitpunkt wählt, der ihn nicht ehrt. Alleine der Verdacht, hier promote jemand sein Buch, ist angesichts des historischen Hintergrundes fatal. Denn dieser ist wahrhaftig nicht dazu geeignet, zur Erzeugung eines neuen Bestsellers missbraucht zu werden. Das nimmt dem Bekenner viel an Glaubwürdigkeit. Grass hatte bessere Gelegenheiten seine 'Beichte' abzulegen. Jetzt hat er mit einer Zeitung gedealt, und beide machen dabei ein gutes Geschäft."

Frankfurter Rundschau. Harry Nutt hätte sich das Bekenntnis schon früher gewünscht. "Wie viel anders und wie viel aufgeklärter wären die verspannten geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahre verlaufen, wenn Grass sein Bekenntnis selbstkritisch in den Ring geworfen hätte? Die für die Geschichte der Bundesrepublik so wichtige und über weite Strecken so schmerzliche Auseinandersetzung um Schuld und Verstrickung, aber auch Schuldstolz und Entlastung hätte weniger fundamental und selbstgerecht geführt werden können, wenn den Widerspruch seiner Jugend ein politisch-künstlerischer Leuchtturm wie Grass als Fallbeispiel angeboten hätte."

Die Welt. Burkhard Spinnen ruft nach "Behutsamkeit" und erinnert daran, dass Günter Grass aus diesem Fehler gelernt habe wie wenig andere. "Mein Vater erhielt noch eine Zeitlang Einladungen irgendeines militärischen Veteranenclubs. Meine Mutter erinnert sich an seine Kommentare dazu: 'Kannste alles wegwerfen!' Günter Grass ist über solche Einsichten und Anweisungen weit hinausgegangen. Er gehört zu der Minderheit seiner Generation, die gezeigt hat, was jenseits eines Berührungsverbots für Massenwahn und verbrecherische Ideologien gedacht und gefordert werden kann. Der 'Makel' in der eigenen Biografie hat schließlich nicht allein Fleiß und Selbstkritik befördert, sondern zu einer lebenslangen Anstrengung für die Verbesserung der Verhältnisse geführt. Daher Behutsamkeit, soviel wir Söhne und Töchter solchen Vätern gegenüber nur aufbringen können." Eckhard Fuhr stellt im Kommentar auf der Meinungsseite knapp fest: "Er ist nun einmal unser Nationaldichter."

Berliner Zeitung. Stephan Speicher bewundert die geschickte Medienstrategie von Günter Grass. Ein paar Fragen hat er dann aber doch noch: "Wenn Grass sagt, er sei ohne sein Zutun zur Waffen-SS gelangt, dann ist das glaubwürdig, so ging es vielen. Einen Vorwurf kann man ihm daraus nicht machen. Aber zwei Dinge erführe man doch gern. Was hat Grass in den letzten Kriegswochen erlebt? Im Interview wird er danach nicht befragt, in seinem neuen Buch gesteht er, sich nicht erinnern zu können. 'Aber dann reißt der Film. Sooft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat.' Das ist merkwürdig; es ist doch jene Zeit, der der Autor seine größte Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die meisten Männer seiner Jahrgänge erinnern sich ganz gut. Irritierender noch ist die Frage, warum er sich so spät erst zu Wort meldete - gerade weil ihm kein ernsthafter Vorwurf zu machen ist."

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler fragt im Interview: "Warum muss das alles jetzt erst und so quälend herauskommen? Er hätte es sagen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm damals, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, jemand einen Strick daraus gedreht hätte." Und Michael Jeismann erzählt die Geschichte der SS-Panzerdivision Frundsberg, deren letzter - nicht ausgeführter - Auftrag es war, Hitler aus Berlin herauszuholen: "Mit anderen Worten: Grass hätte Hitler befreit. Man blieb aber in Spremberg, Grass befreite Hitler nicht."

Die Presse. In der österreichischen Zeitung schreibt Anne Catherine Simon: "Hat er geschwiegen? In der Novelle 'Katz und Maus' schildert Grass exemplarisch eine vom NS-Regime verführte Jugend. Nie leugnete er, dass er dazu gehörte und bis 1945 an Hitler glaubte." Doch warum sprach er nicht schon früher offen über seine eigene Verstrickung, fragt Simon. 1985 zum Beispiel, "als Helmut Kohl und US-Präsident Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchten, wo auch Soldaten der Waffen-SS liegen? Empörend fanden das viele - darunter Grass. Nicht die Kinder, nur seine Frau habe davon gewusst, heißt es. Umso überraschender kommt, was der österreichische Autor Robert Schindel am Samstag der Presse enthüllte: 'Grass hat es mir schon vor über 20 Jahren gesagt. Er sprach mehrmals darüber, privat.' Warum nicht öffentlich? Wollte er seine Position, gar den erhofften Nobelpreis nicht aufs Spiel setzen?"

Standard. Robert Menasse nimmt Günter Grass demonstrativ in Schutz: "Das größere Problem bei der Geschichte", so Menasse, "habe ich eigentlich mit den Selbstgerechten wie Walter Kempowski." Der hatte wissen lassen, dass Grass' Geständnis "ein bisschen spät gekommen sei". Menasse: "Wer als 17-Jähriger talentiert und sensibel ist, obendrein von zu Hause weg will, der ist sehr leicht für alles Mögliche verführbar. Grass' Mitgliedschaft bei der Waffen-SS wäre doch nur dann unentschuldbar, wenn er später starrsinnig darauf bestanden hätte, das Richtige getan zu haben. Wenn er, mit einem Wort, in dem Geist von damals weitergelebt hätte."

Mlada fronta dnes. "Wenn er auch kein niederträchtiger Mensch war, so hat Günter Grass doch gezeigt, dass er ein Schwächling war", kommentiert Teodor Marjanovic Grass' überraschendes Bekenntnis in der tschechischen Zeitung. "Grass war in der heutigen aufgeregten Zeit eine moralische Instanz. Er war ein Mensch, dessen großes Werk es den Deutschen ermöglicht hat, ohne Grimasse und Heuchelei in den Spiegel ihrer nazistischen Vergangenheit zu schauen. Und nun hat Grass zugegeben, dass er ein Leben lang darüber geschwiegen hat, was er selbst während des Zweiten Weltkriegs war. Na und?, fragt da vielleicht manch einer. Sogar Papst Benedikt XVI. war Mitglied der Hitlerjugend und wurde zur Wehrmacht eingezogen. Aber: Der Papst desertierte aus der Armee und verschwieg seine Vergangenheit nicht. Der Fall Grass ähnelt eher dem Fall Kurt Waldheim: Der ehemalige UN-Generalsekretär hatte verschwiegen, dass er im Krieg Einheiten kommandierte, die Gräueltaten in Westbosnien verübten. Wir können Grass glauben, dass er 'nicht einmal geschossen' hat... Ein Beigeschmack bleibt trotzdem. Sein Bekenntnis kommt unerträglich spät."

Canarias 7. Der Chefredakteur des spanischen Zeitung, Francisco Suarez Alamo, glaubt nicht, dass das Eingeständnis von Grass dessen Image schaden wird. "Fast alle werden Verständnis zeigen, und manche werden gar die Geste des Autors preisen. So ist das, wenn man mit klar definierten Ideologien lebt: Am Ende wird alles vergeben. Grass wird als junges Nazi-Opfer dargestellt werden, das nicht wusste, was um ihn herum geschah, als Geisel eines Unterdrückungssystems. Doch es ist offensichtlich der Passivität jugendlicher und erwachsener Ignoranten geschuldet, dass andere die Konzentrationslager mit Leichen füllen konnten."

Le Soir. In der belgischen Zeitung meint der Autor Jacques De Decker: "Grass' gesamtes Werk, oder fast das gesamte, durchleuchtet das deutsche (schlechte) Gewissen nach den Erschütterungen des vergangenen Jahrhunderts. Grass hat sich dieser Tragödien und der daraus entstandenen Traumata nicht als Denker oder Theoretiker angenommen, sondern als Poet und als manchmal visionärer Grafiker... Grass als Provokateur? Er hat nie aufgehört, einer zu sein: in seinen Schriften, in seinen Zeichnungen und in seinen öffentlichen Äußerungen. Die jüngste, abgegeben als Vorspiel zum ersten Buch, in dem er sich ungeschminkt zeigt - bislang hat er nur unter dem Deckmantel der Fabel und Metapher von sich selbst erzählt - ist eine neue Art, sein Projekt bis zum Ende zu verfolgen und seinen Nachkommen verständlich zu machen."

La Stampa. Der Politologe Gian Enrico Rusconi interpretiert die Erklärung von Grass als "feine Veränderung des kollektiven Blicks auf die deutsche Vergangenheit... Die jungen Generationen mussten mehr als die vorhergehenden beweisen, dass sie die nationale Schande voll und ganz empfinden. Und Günter Grass war - im Namen der kollektiven Schuld - gleichzeitig Protagonist und Gefangener dieses kritisch-emanzipatorischen Prozesses. Erst vor kurzem hat Deutschland zu neuer nationaler Würde gefunden, und Grass konnte sich einen anderen Blick auf sich selbst erlauben - ohne Nachsicht, um sich zu befreien. Sein Geständnis ist keine harmlose Angelegenheit, es ist ein Signal für die gesamte Nation. Es ist eine Art 'literarische Erlaubnis' für den Beginn einer kollektiven Erfahrung, die der Schriftsteller einmal mehr wird interpretieren wollen."

Rzeczpospolita. In der polnischen Zeitung sieht Krzysztof Gottesmann Parallelen zwischen Günter Grass und den ehemaligen Mitarbeitern der polnischen Staatssicherheit: die Aufarbeitung der Geschichte sei beiderseits der Oder schwierig: "Die Polen und die Deutschen haben die zwei größten Kataklysmen des 20. Jahrhunderts erlebt: den Kommunismus und den Nationalsozialismus... Bis heute kommen die einen wie die anderen damit nicht klar. Das Aufarbeiten der dunklen Seiten der Geschichte, der eigenen Schande, der persönlichen Schuld und Unterlassungen, der Verwicklungen der einzelnen Menschen ist ein wichtiger Teil der nationalen Abrechnung... Grass, das Gewissen vieler Deutscher, brauchte über 60 Jahre, um über seine Vergangenheit zu sprechen. Aber auch um ein Geständnis abzulegen und die Verantwortung zu übernehmen. Hat seine Glaubwürdigkeit darunter gelitten? Mit Sicherheit ja. Man kann das Werk eines Künstlers nicht von seinem Schöpfer und dessen Leben trennen."

Außerdem zitiert die Rzeczpospolita verschiedene Prominente, darunter den Danziger Schriftsteller Pawel Huelle, der meint, Grass' Geständnis sei "spät, aber besser als gar nicht ans Tageslicht kommt. Schlimmer wäre es, wenn diese Tatsache von einem Reporter irgendwann aufgespürt worden wäre." Es sei verwunderlich, so Huelle weiter, dass Grass 60 Jahre damit gewartet habe, aber diese Fakten rüttelten nicht an seinem Verdient als Literat und Förderer der deutsch-polnischen Verständigung.

Britische und amerikanische Zeitungen beschränken sich auf die Zusammenfassung der Ereignisse in den deutschen Medien.


15. August 2006

Berliner Zeitung. Arno Widmann findet in seiner Reflexion über den Casus Grass eine geradezu brechtianische Formel: "Wegweiser sind keine Vorbilder." "Der Wegweiser aber geht den Weg nicht. Günter Grass ist ihn nicht gegangen. Er wollte ihn nicht gehen. Er hat Konsequenzen aus der Niederlage des Dritten Reiches gezogen, er hat die Lage analysiert, aber nicht sich selbst. Er hat wie die meisten - Franz Fühmann ist eine großartige, bewundernswerte Ausnahme - den Sprung in die neue Welt der Demokratie nur geschafft, indem er sich von sich trennte. Er ist aus der Haut gesprungen in der Hoffnung, sich so zu entkommen. Es ist ihm - man weiß nicht, soll man schreiben geglückt oder doch besser nicht geglückt?"

Welt. Tilman Krause will wegen der vom Steidl-Verlag verhängten Sperrfrist zwar noch keine Rezension schreiben, aber das Soldatenkapitel aus Grass' Memoiren liest er doch schon mal - und findet offensichtlich Gefallen: "Eine bewegende Huldigung vor seinem erzählerischen Vorbild Grimmelshausen stellt jene Waldszene dar, in der er als soldatischer Simplex, von der Truppe entfernt, durch Absingen von Kinderliedern ausmachen will, ob der sich durch Geräusche ankündigende Mensch, den er im Dunklen nicht sehen kann, Freund oder Feind ist: Er singt solange 'Hänschen klein ging allein', bis es ihm rauh, aber unendlich erleichternd 'In die weite Welt hinein' entgegenschallt. Über solchen grandiosen Verdichtungen vergisst man die Sache mit der Waffen-SS nur zu gern."

Zitiert wird in einem etwas unübersichtlichen Online-Dossier, das aus gestrigen und heutigen Artikeln besteht, auch das dpa-Interview mit Grass: "Man will mich zur Unperson machen."

Recht böse setzt sich, ebenfalls in der Welt, der Publizist Wolf Lotter mit der Rolle Grass' in der alten Bundesrepublik auseinander: "Der Staatsdichter ist wie kein Zweiter seiner Generation zur moralischen Instanz im Lande geworden, zum guten Deutschen, einer, der zum Wandel fähig schien, weil er ihn selbst erlebt hatte. Dieses 'Ich war dabei, um mich zu ändern' war der Mehrheit der Deutschen sympathischer als jene Menschen, die offen gegen den Nationalsozialismus kämpften. Die Kopie, um nicht zu sagen: der Opportunist, war weit kompatibler zur Realverfassung der Bundesrepublik als das Original, dem man doch nicht trauen wollte. Der kleine Flakhelfer war der ideale Kandidat für die moralische Lufthoheit des 'besseren Deutschland'. Folgerichtig dichtete Grass vor allem Autobiografisches."

Spiegel Online. Henryk M. Broder zeigt sich nicht besonders erschüttert von Günter Grass' Geständnis: "Der senkrechte Fall des Bürgers Grass veranschaulicht, wie stark auch in einer liberalen und permissiven Gesellschaft das Verlangen nach Autoritäten und Wegweisern ist, die einem sagen, wo es lang geht. Umso heftiger fällt dann die Enttäuschung aus, wenn einem plötzlich bewusst wird, dass man dem Falschen hinterher gelaufen ist. Aber dafür kann Grass nichts, im Gegenteil. Der Politiker Grass hat immer wieder Beweise seiner anmaßenden Inkompetenz geliefert, die von seinen Anhängern beharrlich als die weisen Worte des großen Vorbeters missverstanden wurden... Ärgerlich an der Affäre ist nur eines: Dass auf dem Umweg über Grass die Waffen-SS rehabilitiert wird. Wenn Grass dabei war und sich die Hände nicht schmutzig gemacht hat, können die Jungs so schlimm nicht gewesen sein, eine kämpfende Truppe eben, mit einem etwas abgehobenen Bewusstsein, der Rohstoff aus dem Romane geformt werden. Das Denkmal ist gestürzt. Der Sockel bleibt."

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Erich Loest, den das Thema - ganz wie die FAZ - sehr beschäftigt, schreibt "Ich bin seit Tagen sehr aufgeregt und kann an nichts anderes mehr denken." Recht verstehen kann er das späte Bekenntnis nicht, aber er versichert: "Ich zähle mich weiterhin zu seinen Freunden, zu jenen, die sagen: Er ist spät, aber er ist doch noch mit der Wahrheit ans Licht gekommen." In einer Meldung ist zu erfahren, dass der Schriftsteller Robert Schindel von Grass' Waffen-SS-Mitgliedschaft wusste, weil es der Autor in privater Runde erzählt hat. Schindel lässt auf Grass im übrigen nichts kommen: "Die Moralapostel, die jetzt auftreten, sind im höchsten Maße lächerlich."

Parallel abgedruckt werden in der FAZ ein Auszug aus Helmut Kohls Memoiren, in dem es um Bitburg und die Waffen-SS geht, und Günter Grass' Kohl-Kritik aus dem Jahr 1985. Die Medienseite vermeldet, dass Ulrich Wickerts neue Sendung "Wickerts Bücher" unplanmäßig schon übermorgen erstmals ausgestrahlt wird. Stargast: Günter Grass.

taz. Der Fall Grass wird auf den Tagesthemenseiten verhandelt. Klaus Hillenbrand fühlt sich betrogen, Christian Semler stellt sich im gleichen Artikel vor den Schriftsteller.

Frankfurter Rundschau. Christian Thomas glaubt, dass Günter Grass die intolerante Stimmung im linken Lager davon abgehalten hat, früher etwas von seiner Episode bei der Waffen-SS zu erzählen. "Grass' Bekenntnis lenkt den Blick nicht nur auf den Umgang des Adenauer-Staats, auf die Kiesinger und Globke, sondern obendrein auf die oppositionellen Milieus einer formierten Gesellschaft. Auch in den Jazzlokalen, den Galerien und in den Lesungen, diesen Schluss lässt das Bekenntnis eines stets selbstgerechten Moralisten ebenfalls zu - muss ein Rigorismus geherrscht haben, der eine durch Prominenz und Prestige geschützte Person wie Grass vor einem Bekenntnis zurückschrecken ließ."

Zudem informiert Peter Rutkowski in der FR über Waffen-SS und die Division "Frundsberg".

Spiegel Online. Der österreichische Autor Robert Schindel erzählt im Interview, Grass habe ihm und und anderen Schriftstellern vor mehr als 20 Jahren in einer kleinen Runde von seiner SS-Zeit erzählt: "Er hat erzählt, dass er zur Waffen-SS rekrutiert wurde. Er hatte sich damals zuvor freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet, dort haben sie ihn nicht genommen. Aber weil es schon seine freiwillige Meldung gab, haben sie diese Meldung genommen, um ihn zur Waffen-SS zu rekrutieren - das war damals offensichtlich Usus. Das hat er erzählt... Wir haben eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde darüber gesprochen, er hat auch ein bisschen von seiner Verwundung erzählt, dann sind wir zu anderen Themen übergegangen - das hat niemanden von uns erstaunt."


16. August 2006

Berliner Zeitung. Dokumente über Günter Grass' Mitgliedschaft in der Waffen-SS sind in der Wehrmachtsauskunftsstelle Berlin-Wittenau seit Jahrzehnten öffentlich einsehbar, berichtet Christian Esch. "Die 'Vorläufige Erklärung des Kriegsgefangenen' enthält die Auskunft, dass Grass am 8. Mai 1945 bei Marienbad gefangen genommen wurde, dass er im Zivilberuf 'Schüler' war, zuletzt aber Lade-Schütze bei der 'SS-Panzer-Division Frundsberg, Panzerabteilung'. Gezeichnet: Günter Grass, Kriegsgefangener mit der Nummer 31 G-6078785. Das Dokument wurde offenkundig nach seiner Überstellung in ein neues Kriegsgefangenenlager am 3. Januar 1946 ausgefüllt, sein Alter ist mit 18 Jahren angegeben. Das Dokument ist öffentlich zugänglich - 'es hat nur bisher niemand danach gefragt', sagt Peter Gerhardt, der stellvertretende Leiter der Wehrmachtsauskunftsstelle... Grass ist eine öffentliche Person, deren Daten nicht nur an Familienmitglieder weitergegeben werden. 'Jeder Biograf hätte die Akten einsehen können', sagt Gerhardt."

Die Zeit. In der Online-Ausgabe ist Evelyn Finger von Grass und der FAZ gleichermaßen angewidert: "Es ist bezeichnend für den windelweichen Verhüllungsstil der Interviewer, dass sie die Frage 'Warum erst jetzt?' erst nach 120 Zeilen stellen und dass sie dem Interviewten seine wahrhaft dadaistische Antwort durchgehen lassen: 'Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe.' Günter Grass bricht also jetzt sein Schweigen, weil er so lange geschwiegen hat. Und die FAZ macht daraus ein bombastisches Geständnisevent, mit vierspaltigem Inszenierungsfoto aus dem deutschen Wald, mit einem demütig zusammengesunkenen Grass im Profil. Im Bühnenvordergrund viel Schatten, im Hintergrund goldenes Licht. Das ist die von der FAZ verheißene Aufklärung, die auf zwei ganzen anzeigenfreien Seiten leider nicht stattgefunden hat. Das Skandalöse am Grass-Skandal ist nämlich nicht die Nachricht, dass ein 17-Jähriger kurzzeitig bei der Waffen-SS war und dass ein prominenter Schriftsteller zu feige war, diese fatale Zugehörigkeit einzugestehen. Skandalös ist die übertriebene Mea-culpa-Geste, mit der Grass jede wirkliche Auseinandersetzung verweigert. Unter dem pathetischen Vorwand einer Generalbeichte hat er allein seine Verteidigung organisiert."

Spiegel Online. Daniel Haas wünscht sich, Grass hätte geschwiegen. "Tatsächlich kommt die Enthüllung spät, aber nicht zu spät. Das Gegenteil ist der Fall: Sie kommt, wenn überhaupt, zu früh. Grass hätte schweigen und die Enthüllung dem Schicksal überlassen sollen. Unwahrscheinlich, dass seine Waffen-SS-Zeit jemals zur Sprache gekommen wäre. Und wie gut wäre das gewesen. Denn wem nützt diese Offenbarung jetzt? Den Zynikern, die unken, das Interview in der FAZ sei ein Marketing-Kniff gewesen. Und den Ewiggestrigen, die sagen werden, so schlimm kann die SS nicht gewesen sein, wenn selbst Günter Grass Mitglied war. Aber die vielen Leser und Leserinnen, die sich zu Recht an Grass als einen der Großen der engagierten Literatur gehalten haben, die Jugendlichen, die die 'Blechtrommel' und 'Katz und Maus' erst noch entdecken wollen, was haben sie von diesem Geständnis? Verunsicherung und Vorurteile."

taz. In einem Interview sieht der Politikwissenschaftler Claus Leggewie im späten Bekenntnis von Günter Grass ein Dilemma der bundesrepublikanischen Intellektuellen: Die nationalsozialistische Vergangenheit sei überkompensiert worden, gleichzeitig sei man unfähig zum eigenen Schuldeingeständnis gewesen. "Transformationsprozesse nach einer Diktatur verlaufen so. Und die zwischen 1900 und 1930 Geborenen haben kontraphobisch reagiert. Nur so ist die Verve zu erklären, mit der exponierte Vertreter gegen mögliche Rückfälle und den 'Adenauer-Mief' gekämpft haben. Grass etwa wandte sich 1990 gegen die deutsche Vereinigung, weil er allen Ernstes die Wiederkehr des großdeutschen Reiches fürchtete. Er wusste ja, wie 'verführerisch' der Nationalsozialismus war, und deswegen wandte er sich auch übrigens vehement gegen totalitäre Anwandlungen der 68er. Die scharfrichterliche Strenge, die Grass kennzeichnet, ist eine Form von Überkompensation: Ich übe diese Rolle aus und exkulpiere mich so nachträglich."

Gemeldet wird ebenfalls in der taz, dass Grass der Nobel-Preis nicht aberkannt wird, in Polen aber eine Initiative gegründet wurde, ihm die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt Danzig zu entziehen.

Frankfurter Rundschau. In zwei Gastbeiträgen kommentieren der Historiker Hans Mommsen und der SPD-Politiker Egon Bahr die Debatte um Günter Grass. Hans Mommsen hält die Empörung für ebenso typisch wie verlogen. "Das sich anbahnende Spießrutenlaufen verkennt nicht nur, dass dem Siebzehnjährigen die formelle Zugehörigkeit zur Waffen-SS schwerlich zum Vorwurf zu machen ist, sondern auch das Recht des einzelnen auf eine private Bewältigung des umfassenden Wertezerfalls, der mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes eintrat und bei denen, die sich seiner bewusst werden, Sprachlosigkeit, ja Verdrängung auslöst."

Egon Bahr glaubt, dass Grass? Lebenswerk trotz des späten Geständnisses unbeschädigt bleiben wird. "Das ist wohl - neben anderen Motiven - nicht denkbar, ohne dass Grass diesen Teil seiner Vergangenheit als Makel empfunden hat, der ihn sechs Jahrzehnte begleitet hat. Sein Lebenswerk als Schriftsteller wird dadurch nicht berührt. Dass wir manches davon jetzt anders lesen, ändert auch nichts daran. Was die politischen Einmischungen angeht, so waren sie immer anregend, auch wo ich sie haarsträubend falsch fand. Literarische Qualität garantiert noch keine politische Unfehlbarkeit. An diesem Teil von Grass wird sich auch nichts ändern. Vielleicht mit der Ausnahme, dass er die Rigorosität, mit der er seinen jeweiligen Standpunkt vertritt, künftig etwas zurück nimmt."

Tagesspiegel. Jens Mühling kann mit einer aufsehenerregenden Enthüllung aufwarten: "So erklärte gestern ein anonymer Germanist, auch Grass' vehemente Ablehnung der Rechtschreibreform müsse im Lichte seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft neu bewertet werden. Der Wissenschaftler wies schlüssig nach, Grass habe die Reform des Regelwerks vor allem deshalb zu verhindern getrachtet, weil die weitgehende Ersetzung des Buchstabens ß durch den Doppelkonsonanten ss ein 'biografisches Trauma des Schriftstellers berührt' habe. Aus demselben Grund habe Grass seine Enthüllung auch in der FAZ publik gemacht, weil diese, so der Germanist, 'bis heute sz schreibt, wo die SZ ss schreibt'."

Süddeutsche Zeitung. War das Grass-Interview nur ein PR-Coup? Der Reporter Hans Leyendecker hat nachgeforscht: "Die Beteiligten jedenfalls geben sich unschuldig wie Laubsägenbastler. Grass-Verleger Gerhard Steidl beteuert, dass er die Brisanz beim Lesen zunächst gar nicht erkannt habe. Etwa im Februar habe er das Manuskript studiert, und besonders aufgefallen sei ihm die Beschreibung von Grass, wie er vom Bildhauer zum Schriftsteller geworden sei". Deshalb habe er der FAZ eine Beilage vorgeschlagen. "Ende Juni, so Steidl, sei die letzte redigierte Fassung des 480-Seiten Buchs fertiggestellt worden. Mitte Juli hat dann die FAZ das Gespräch mit Grass in dessen Dorf Behlendorf geführt. Erst als FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in dem Gespräch eindringlich Grass nach der Waffen-SS befragt habe, sei ihm, Steidl, 'klar geworden, was da diskutiert werden wird'."

Süddeutsche Zeitung. Die Reaktionen in Polen auf das Eingeständnis ihres "Lieblingsdeutschen" resümiert Thomas Urban. In der Danziger Stadtratsdebatte über die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft von Grass hat die nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" jetzt ein Angebot gemacht: "Unter einer Bedingung könnte man darauf verzichten, den Ehrenbürgertitel für Grass zum Wahlkampfthema zu machen. Der Bürgermeister müsse beweisen, dass er seine 'servile Haltung' gegenüber den Deutschen überwunden habe." (Online lesen kann man zu diesem Thema den Artikel von Paul Pflücker in der Welt.)

Gazeta Wyborcza. Das Bekenntnis von Günter Grass, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat in Polen heftige Reaktionen hervorgerufen. Politiker der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" forderten, Grass die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig abzuerkennen. Der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa erklärte, er an Grass' Stelle würde auf die Ehrenbürgerwürde verzichten. Adam Michnik reagiert auf Walesa: "In seinen Romanen und Essays, bei öffentlichen Auftritten und in Interviews war Günter Grass ein konsequenter Kritiker und Aufdecker des Nationalsozialismus, auch der Naziverbrechen an Polen. Jahrelang hatte Polen keinen konsequenteren und selbstloseren Freund in Deutschland. Er zahlte dafür einen hohen Preis. Deutsche Nazis attackierten ihn, wenn er hartnäckig wiederholte, dass Deutschland die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze anerkennen muss. Die Kommunisten wiederum attackierten ihn, weil er von Anfang an konsequent die polnische demokratische Opposition unterstützte... All das heute zu vergessen ist dumm und undankbar, all das wegen eines Fehlers eines Jugendlichen im Jahr 1944 durchzustreichen ist einfach unanständig."

Spiegel Online. Jens Todt hat einen Veteranen der Waffen-SS aufgetrieben, der in der gleichen Division wie Grass diente. "'Ich habe ein bisschen recherchiert, nachdem ich davon gehört hatte', so der ehemalige Waffen-SS-Mann Edmund Zalewski, 'aber keiner konnte sich an Günter Grass erinnern'. Nach dem Krieg arbeitete Zalewski in den Dürener Metallwerken, "doch der Kontakt zu den ehemaligen Angehörigen der SS-Truppe riss niemals ab. Zalewski ist bis heute Schriftführer der 'Kameradschaft Frundsberg', eines Veteranenvereins, dessen Mitglieder sich jährlich an Kriegsschauplätzen treffen. 'Inzwischen sind wir nur noch 60 Kameraden, das war natürlich mal anders', so Zalewski, 'aber wir sind jetzt ja allesamt um die 80 Jahre alt und mehr.'"

Washington Post. Laut einem Bericht hat John Irving Günter Grass in einer Mail an die Associated Press verteidigt. "Grass bleibt ein Held für mich, als Schriftsteller wie auch als moralischer Kompass. Seine Courage, als Schriftsteller wie als Bürger Deutschlands, ist beispielhaft, eine Courage, die noch erhöht, nicht gemindert wird durch sein jüngstes Bekenntnis", so Updike. "Der Donner in der deutschen Presse ist widerlich. Grass ist ein wagemutiger Schriftsteller und er war immer ein wagemutiger Mann."


17. August 2006

BBC. Salman Rushdie erklärt, dass die Neuigkeit ihn enttäuscht hat. Dennoch meint er, das Werk des Schriftstellers werde durch das Bekenntnis "nicht ungeschehen" gemacht und dass Grass' Vergangenheit ein "jugendlicher Fehler" war. "Grass hat sein Leben als Erwachsener damit verbracht, die Ideen zu bekämpfen, denen er als Kind ergeben war. Das allein ist eine mutige Tat. Er ist mein Freund, und das wird sich nicht ändern."

New York Sun. In einem Offenen Brief an Günter Grass erinnert Daniel Johnson Grass daran, mit welch moralischer Überlegenheit er ehemalige Nazis wie Globke, Gehlen oder Kiesinger abgekanzelt hatte. Und dann schwingt sich Johnson selbst auf einen sehr hohen Sockel: "Jetzt zeigt sich, Herr Grass, dass Sie einer der letzten Verteidiger des Dritten Reiches waren. Sie waren ein Soldat in der Waffen-SS. Im es klar zu sagen: Die Waffen-SS leitete nicht die Vernichtungslager, aber ihre Truppen - gut 900.000 am Ende - waren tief verstrickt in den Holocaust und verantwortlich für die schlimmsten Kriegsverbrechen. Wir warten mit Interesse auf Ihre Beschreibung, welchen Anteil Sie an diesen Kriegsverbrechen hatten. Aber Ihre Erinnerungen werden von den Historikern mit Misstrauen behandelt werden, nicht glaubwürdiger als die irgend eines anderen SS-Mannes, Adolf Eichmanns zum Beispiel, die er während seines Gerichtsverfahrens aufschrieb. Zweifellos wird dieser Vergleich Sie schockieren, aber Eichmann war ein Betrüger, wie Sie."

Süddeutsche Zeitung. "Das ist das wahre Methusalem-Komplott", rufen die Schriftsteller Eva Menasse und Michael Kumpfmüller angesichts der Scharen von über 70-Jährigen, die die Feuilletons mit Kommentaren zu Grass füllen. Gibt es keine anderen Themen? Den Libanonkrieg zum Beispiel? "Wo aber waren die deutschen Intellektuellen, die gesagt hätten: Wir brauchen kein Auschwitz, um uns hier zu äußern? Wir sind auf Israels Seite, nicht, weil Nazideutschland sechs Millionen Juden ermordet hat, sondern weil Israel ein demokratischer Staat ist, mit Feinden, die nicht nur ihn, sondern alle demokratisch verfassten, westlich orientierten Gesellschaften vernichten wollen?... Reden wir über die vereitelten Attentate von London, reden wir über unser Verhältnis zum Islam, reden wir über die Grenzen der Liberalität. Es geht um uns und unsere Zukunft."

Der Soziologe Heinz Bude fordert die "Nachgeborenen" dagegen auf, die "Einzigartigkeit" der "Flakhelfer-Generation" zu akzeptieren. Die könnten nämlich nicht nur über ihre "sexuellen Vorlieben" reden. Die "Kenntnis des Menschenmöglichen hat ihren Blick für Phänomene geschärft, die uns Nachgeborenen heute als unglaubliche zivilisatorische Regressionen erscheinen. Sie sind innerlich geeicht auf Tatbestände, die wir mit Begriffen wie Terrorismus, Fundamentalismus und Ethnizismus eher hilflos einzufangen versuchen."

taz. Philip Meinhold fragt sich, ob Grass bei einem früheren Geständnis vielleicht nicht so viel produziert hätte. Günter Grass' Klage, zur "Unperson" geworden zu sein, inspiriert Christian Semler zu einer kleinen korrigierenden Wortkunde.

Zeit. Geradezu bedenklich findet Jens Jessen die Selbstentschuldigungen von Grass im FAZ-Interview: "Wie er mit Schwung das 'Antibürgerliche' der Nazis herausstellt und die Faszination der 'Volksgemeinschaft' schildert, in der 'Klassenunterschiede oder religiöser Dünkel' keine vorherrschende Rolle mehr spielten, wie er dagegen die 'grauenhafte' Adenauerzeit setzt 'mit all den Lügen und dem ganzen katholischen Mief' und schließlich sogar behauptet, dass es solche 'Art von Spießigkeit' nicht einmal bei den Nazis gegeben habe - das verrät eine distanzlose Einfühlung, die für Momente vergessen lässt, dass Grass jemals erwachsen geworden ist und sich von dem Hokuspokus der nationalsozialistischen Propaganda befreit hat. Man sieht den 78-Jährigen vor sich wie einen, der sofort wieder auf eine Ideologie hereinfallen könnte, wenn sie nur antibürgerlich genug daherkäme und ein Ende der Klassengesellschaft verspräche."

Frankfurter Rundschau. Gestern ist die Grass-Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" auf den Markt gekommen, zwei Wochen vor dem eigentlichen Erscheinungstermin. "Was musste raus? Und in welcher Sprache? Einer Sprache der Schuld, der Not, der Bewältigung?" Ina Hartwig hat schon mal vorgelesen: "Grass scheint beim Ausschmücken in seinem Element, scheint sich seiner Gefühle sicher zu sein. Ähnliches gilt für die Schilderung des glühenden Triebstaus, von dem pubertierende Jungen geknüppelt werden; hinsichtlich seiner onanistischen Praktiken macht Grass die süffigsten Mitteilungen."

Der Dichter Durs Grünbein überlegt im Interview, warum Grass als 17-Jähriger in den Krieg gezogen ist. "Es gab sicherlich einen großen Drang, zur Truppe zu gehören, die Vorstellung des intensiven Lebens. Der Typus des soldatischen Schriftstellers hat davon noch gezehrt. In wenigen Wochen ist ein unglaublicher Fundus von intensiven Bildern entstanden, von euphorisch aufgeladenen Situationen, die man dann das ganze Leben lang entwickeln konnte als Film. Ich sehe auch ein Pathosgefälle zwischen einem Mitglied der Waffen-SS und einem Flakhelfer oder Pimpf. Die Flakhelfer, das wurden dann die Philosophen und Journalisten. Der echte Schriftsteller ist natürlich ein Haudegen. Deshalb ist er ja auch wichtiger. Mein erster Instinkt war deshalb: Das glaube ich nicht. Ich glaube einfach nicht, dass es stimmt. Vielleicht ist es nur eine Legende, die es braucht, ein Werk abzurunden."

Außerdem zu Grass in der FR: Peter Rutkowski listet ein paar Prominente auf, die weniger Gewissensbisse wegen ihrer NS-Vergangenheit als Grass hatten, darunter der einstige Präsident der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft Günther Niethammer, der bei der Waffen-SS auch einen Aufsatz verfasste: "Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz". In einem Interview springt Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, Grass zur Seite. Karl-Heinz Baum klärt auf, wo Akten zu Grass zu finden sein könnten. Christian Thomas meint, dass die Leute Grass jetzt mit dessen eigenen moralischen Maßstäben messen. Karin Ceballos Betancur liefert einen Bericht von der Buchhändlerfront, wo der vorgezogene Verkauf der Grass-Biografie offensichtlich eher schleppend anläuft. Mit veröffentlicht wird ein Auszug aus dem Interview mit Grass, das die ARD heute abend ausstrahlen wird.

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Dirk Schümer zitiert Äußerungen Ernst Noltes zum Casus Grass in der italienischen Presse - der Historiker erhofft sich durch den Fleck auf der Weste des Moralapostels "Versöhnung mit der gesamten deutschen Geschichte, auch mit ihren schrecklichsten Seiten". Patrick Bahners kritisiert die Äußerungen des Historikers Hans Mommsen zur Grass-Affäre in der gestrigen FR.

Magyar Hirlap. Julianna R. Szekely vergleicht die Debatte um Günter Grass mit der Entlarvung des ungarischen Regisseurs Istvan Szabo als Stasi-Spitzel und verteidigt beide Künstler: "Es ist ein fürchterlicher Irrtum, dass ein Ereignis im Leben eines Künstlers sein ganzes Lebenswerk entwertet. Die Werke von Günter Grass und Istvan Szabo sind auch deshalb so großartig, weil sie Schuld und Sühne, Verdammung oder Bewältigung nicht aus anmaßendem Abstand, sondern mit diesen Fragen ringend darstellen." Scheinheilig findet Szekely die Kritiker von Grass und Szabo, die offenbar "infolge einer unbefleckten Empfängnis mit reiner Seele geboren" wurden. Dabei hätten auch sie Schuld auf sich geladen, sich jedoch nie, wie Grass, der Frage gestellt: 'Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht?'"

Heti Vilaggazdasag. Tamas Laszlo Papp ist von der Entlarvung des ungarischen Filmemachers Istvan Szabo als Stasi-Spitzel und dem Geständnis Günter Grass' gleichermaßen entsetzt: "Aus Überheblichkeit haben sie so lange geschwiegen. Grass und Szabo gelten in intellektuellen Kreisen als künstlerische und moralische Autoritäten, sie waren immer von einer Gefolgschaft aus Schülern, Bewunderern und schnurrenden, sich anschmiegenden Kritikern umgeben... Die künstlerische Qualität ihrer Werke bleibt von ihren Geständnissen zwar unberührt, aber ihre menschliche und moralische Größe nicht. Wie kann jemand von uns verlangen, die Dämonen unserer Vergangenheit zu bewältigen, wenn er selbst Jahrzehnte nicht imstande war, Verantwortung zu übernehmen und ein unrühmliches Kapitel seines Lebens zu gestehen?"

Mlada fronta dnes. Für den Tschechen Viliam Buchert hat Günter Grass mit seinem späten Bekenntnis zwar den Heiligenschein verloren, zugleich aber einen wichtigen Schritt getan. Mit Blick auf Tschechiens kommunistische Vergangenheit schreibt Buchert: "Viele Menschen weigern sich, ihre Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zu bekennen. Die Frage nach dem Bekenntnis von Grass lautet: Was machen wir mit den Menschen, die einst in den Nationalsozialismus oder den Kommunismus verstrickt waren? Wer moralische Schuld auf sich geladen hat, sollte sich öffentlich dazu bekennen. Auf Buße und Aufklärung - und dafür müssen wir gar nicht gläubig sein - sollte Vergebung folgen. Die Tschechen aber winken, was die Vergangenheit betrifft, wie gewohnt ab... Günter Grass hat mit seinem Bekenntnis auch darauf hingewiesen, dass wir unsere Vergangenheit noch längst nicht bewältigt haben. Wir setzen uns nicht damit auseinander, weil wir uns nicht damit auseinandersetzen wollen."


18. August 2006

Frankfurter Rundschau. Der Schriftsteller John Irving wirft sich in einem Brief an die deutsche Presse für den Kollegen Grass in die Bresche und geißelt das deutsche Feuilleton. "Mein Freund und früherer Mentor Kurt Vonnegut würde das nationalistische Geplapper in den deutschen Medien wohl als 'shit storm' bezeichnen. Was ich aus all den Leitartikeln, den pathetischen Bemerkungen meiner Kollegen, der Kritiker und Journalisten aus den verschiedenen politischen Lagern herauslese, ist Folgendes: All dies ist eine vorhersehbar scheinheilige Demontage des Lebens und Werks von Günter Grass, ausgeführt von dem ach-so-feigen Standpunkt der nachträglichen Einsicht. Und von dieser Position aus nehmen jetzt viele der so genannten Intellektuellen sicher ihr Ziel ins Visier. Grass bleibt für mich ein Held - als Schriftsteller und als moralischer Kompass."

Im Interview nennt Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Grass "großartig und kleinmütig zugleich - das tut weh".

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Schweizer Adolf Muschg hat "als Nichtdeutscher im Jahr 2006 mit dem Gefühl realer Teilnahme" die Zwiebel gehäutet und stellt fest: "Die Scham des Überlebenden ist keine deutsche Spezialität, und da sie bestimmte, auch ehrenhafte Tabus begleitet, habe ich, glaube ich, auch verstanden, warum ein halbes Jahrhundert vergehen musste, bevor ein dem Krieg seines Führers mit genauer Not Entronnener sich herausnahm, von Glück zu reden... Erst als Repräsentant eines andern Deutschlands wagte es der alte Mann, auf jenen Simplizissimus seines Namens zurückzukommen, der sich vor einem halben Jahrhundert in die Kalbshaut einer SS-Uniform hatte stecken lassen. Das Buch ist viel mehr und viel weniger als ein Geständnis. Es hat viel zu erzählen."

Die Welt. Auch Tilman Krause hat die Zwiebel gehäutet und steht leicht fassungslos vor Grass, dem Teenager: "Wahrlich, es war folgerichtig - und das wird der Stachel im Leib dieses Autors sein, mehr als alle Dokumentation auf Papier, der auch ein langes Schweigen erklären kann -, es war folgerichtig, dass dieser Junge zur Waffen-SS gelangte. Für Naturen wie ihn, die von sexueller Frustration, Sozialneid, Ressentiment und seelischer Unempfänglichkeit geprägt waren, wurde sie erfunden."

Die Tageszeitung. Peggy Parnass verteidigt Günter Grass: "Günter Grass soll entwertet werden, seine Lebensleistung und Lebenshaltung ausradiert."

Süddeutsche Zeitung. Ivan Nagel, der sich in Ungarn als jüdisches Kind verstecken musste, während Grass in der Waffen-SS war, äußert in einem kurzen Text viel Verständnis für die Späte von Grass' Bekenntnis: "Ich hatte keinen Grund, mich zu schämen, ich war ja Verfolgter - und trotzdem konnte ich 55 Jahre lang nicht reden."

Kurt Kister erlebt die Debatte um Grass als Generationenkonflikt zwischen Flakhelfer-, 68er- und Golf-Generation. Constanze von Bullion zeichnet eine Diskussion um Grass' Stasi-Akten nach, die dieser nie sehen, aber auch nicht freigeben wollte, die aber auch enttäuschend banal zu sein scheinen.


19. August 2006

Berliner Zeitung. Christian Bommarius macht auf ein verdammtes Paradox in unserem Leben als Grassisten aufmerksam: "Hörend, die 'nachwachsende Scham' habe Günter Grass zum späten Geständnis gedrängt, fragen wir, wie steht's mit der Reue, wächst sie hinterher? Vernehmend, Günter Grass fühle sich zu Unrecht gerichtet, geben wir zu bedenken, dass es die Tat selbst ist, die richtet - erst recht das Verschweigen. Denn wer verschweigt, dem verschließt die Einsicht ins Unrecht die Lippen. Das alles nun fühlend, wissend und erkennend, betrachtend, hörend und vernehmend, fragen wir, wer gab uns wohl die Worte, so über Günter Grass zu reden, wer schärfte unsern Blick für sein Vergehen, wer erzog uns zur Feindschaft gegenüber Vergessen und Verdrängen? Ach, dreifaches Verhängnis - alles gab uns der Grass."

Neue Zürcher Zeitung. Martin Meyer findet es überflüssig, Grass seine Mitgliedschaft in der SS vorzuwerfen. "Weitaus nützlicher wäre es, die Wege und Irrwege des politischen Publizisten und gefeierten Orators zu hinterfragen. Denn Grass' politischer Moralismus markiert präzise die Begehrlichkeiten jeder überspannten Gesinnungsethik, welche die Welt auf einfache Formeln reduzieren will."

Süddeutsche Zeitung. Christa Wolf zeigt sich dezidiert unenttäuscht von Grass: "Im Gegensatz zu vielen, die sich in den letzten Tagen geäußert haben, sage ich: Günter Grass ist für mich kein anderer geworden. Allerdings habe ich auch vor seiner Mitteilung über eine ihn belastende Phase seiner frühen Vergangenheit in ihm keine "moralische Instanz" gesehen." Volker Breidecker hat sich noch einmal das Werk des Autors angesehen, um dem "offensiven Verschweigen" der Waffen-SS-Mitgliedschaft auf die Spur zu kommen. Einer Zusammenfassung aktueller Grass-Meldungen ist zu entnehmen, dass die erste Auflage der Erinnerungen ausverkauft ist, eine zweite gerade gedruckt wird.

Ijoma Mangold liefert eine sehr ungnädige Besprechung von "Beim Häuten einer Zwiebel". Die Titel-Metapher vor allem nervt ihn, denn sie steht für ein ständiges Sich-Entziehen: "Es ist kein Zufall, dass Grass immer wieder vom jungen Soldaten in der dritten Person erzählt. Grass inszeniert ein moralisches Drama, in dem er in zwei Rollen auftritt: Als empirisches und als dichterisches Ich, als Mitläufer und als Aufarbeiter, als Verdränger und als Analytiker, als Sünder und als Selbst-Erlöser durch die Kraft der Literatur. Grass will in der Tat nichts schönreden. Aber er glaubt inbrünstig an die befreiende, ja erlösende Kraft des Kunstwerks als Erinnerungskatalysator."

Die Welt. Ab einem bestimmten Alter sollte man nicht mehr im Fernsehen auftreten, meint Georg Klein mit Blick auf das Grass-Interview in der ARD: "Während das private Gespräch von Angesicht zu Angesicht die Gnade der gemilderten Wahrnehmung kennt, während dort unter vier Augen über vieles, über redundanten Starrsinn wie über späte Eitelkeit hinweggesehen werden kann, macht das Fernsehen technologisch-zwanghaft alles Unschöne und Schiefe überdeutlich wie in einer Karikatur. Der Greis, der um die Fragilität seiner Würde weiß, müsste gerade dieses Medium nach Möglichkeit meiden."

Wieviel hat Grass eigentlich aus der Geschichte gelernt?, fragt Ulrike Ackermann nach Lektüre des FAZ-Interviews: In den "Gesprächen, die Grass zum Erscheinen seines Buchs der FAZ und der ARD gewährte, ist von Reue und Scham nicht viel zu vernehmen. Auf die Frage seiner Gesprächspartner, ob er eine Vorstellung davon gehabt habe, welche Angst die Uniform der SS auslöst, verweist Grass auf den 'wunderbaren Typ des deutschen Obergefreiten, der alle Tricks kannte, dem Kameradschaft wichtig war'. Fürsorglich bestand dieser darauf, dass der Nazi-Begeisterte 17-jährige SS-Soldat Grass zum Ende des Kriegs eiligst seine Uniform wechselte. Der 78-jährige Autor sagt heute dazu: 'Mir war nicht bewusst, in welcher Gefahr ich steckte.' Offensichtlich nur ums eigene Schicksal besorgt, fällt es dem Geläuterten bis heute schwer, sich vorzustellen, was der Anblick einer SS-Uniform für andere Menschen damals bedeutet hat."

Frankfurter Rundschau. Christian Thomas liest - ohne dass es schon die große Rezension wäre - Günter Grass' Erinnerungen und bezeugt seinen Respekt vor dem literarischen Verfahren: "Grass' Erinnerungsbuch ... spricht immer wieder das prekäre Beziehungsgeflecht an, in das Autoren-Ich und der Er-Erzähler schamhaft verkapselt und schuldreich verstrickt sind. Denn erst das literarische Beharren auf dieser Grunderfahrung der Moderne ermöglicht das Sprechen, ein Sprechen über Schuld und Scham, über Erinnerung und Verdrängen, über Erinnerungsvermögen und Erinnerungsnot - letztendlich Wahrheit und Wahrhaftigkeit."


20. August 2006


New York Times.
Daniel Kehlmann sieht Grass' Eingeständnis als reine Sache der Eitelkeit: "Ambitious like most good writers, Grass must have had his eye on the Nobel Prize from early on. He knew he deserved it. The question of why he remained silent for so long about his past is in fact easy to answer: one visit with the Chilean dictator Augusto Pinochet was sufficient for Borges never to receive the prize. Would someone who had served in the SS stand a chance?"


21. August 2006

Die Welt. Im Interview mit Anjana Shrivastava versorgt Daniel Goldhagen Günter Grass mit Stoff für den nächsten Roman: "Was in der ganzen, umfangreichen Literatur über den Nazismus und den Holocaust leider fehlt bisher, ist eine starke literarische Darstellung der moralischen Degeneration Deutschlands unter dem Hakenkreuz. Jemand, der literarisch so talentiert ist wie Grass, hätte das leisten können."

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Heute äußert sich der amerikanische Autor Louis Begley über Günter Grass und die Waffen-SS: "Man hätte hoffen können, dass Grass während seines demütigenden Bekenntnisses die Rolle des Moralapostels ablegen würde, für die er nur allzu bekannt ist: Ich denke dabei an die schockierend absurde Anekdote, mit der er unterstellt, dass er zum erstenmal mit direktem Rassismus konfrontiert gewesen sei, als er hörte, wie weiße amerikanische Soldaten ihre schwarzen Kameraden 'Nigger' nannten. Hat Grass im Ernst erwartet, dass irgend jemand, der einen Funken klaren Menschenverstand besitzt und schon einmal etwas von der deutschen Rassenpropaganda vor und im Krieg gehört hat, ihm das glauben würde?"


22. August 2006


Die Welt.
"Scham" war keine gute Erklärung für das späte Bekenntnis von Günter Grass, findet Wolfgang Sofsky. "Lautstark demonstriert der Schamgebeugte, dass er das historische Lernsoll erfüllt hat. Er zeigt das Gegenteil dessen, was er zu zeigen behauptet. Er senkt nicht das Haupt, sondern erhebt es selbstgewiss und voller Mitteilungsdrang. Was unbedingt aus dem Autor heraus wollte, das war nicht das schamhaft Verschwiegene, sondern der erneute Nachweis, sich sittlich gebessert zu haben. Für seine Läuterung wollte sich der Autor noch einmal gewürdigt sehen. Angesichts solch historischer Torheit und Schamlosigkeit kann der Kritiker nur noch sein Haupt verhüllen und hinfort um Schweigen in dieser Angelegenheit bitten."

Frankfurter Rundschau. Trotz aller Unklarheiten: Günter Grass' SS-Geständnis ist nichts weniger als ein "erinnerungspolitischer Geniestreich", staunt Ina Hartwig. "Man stelle sich vor, ein Martin Walser mit seinem pompösen 'Geschichtsgefühl' hätte uns jetzt ein so unangenehmes autobiografisches Detail zugemutet, angereichert mit Rötelzeichnungen und zwiebelfeuchten Augen! Walser, der eifersüchtig über seine persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen wacht, weil er sie bedroht sieht durch eine nationale Erinnerungskultur, die er des Kitsches bezichtigt. 'Moralkeule Auschwitz', so etwas wird man von Günter Grass niemals hören. Wie Grass - als Linker - exakt jene Themen besetzt, die traditionell von Konservativen okkupiert werden, das ist psychologisch gesehen geradezu genial. Mit Grass im Gepäck lässt sich das alte Reichsgebiet gemütlich bereisen, tauchen West- und Ostpreußen wieder auf aus dem Nebel des Kalten Kriegs, unter Grass' wachsamem Auge darf über Vertreibung sinniert werden, dürfen die Deutschen sogar Opfer sein."