Im Kino

Eine ganze Reihe von Scheusalen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
16.01.2014. Ja, auch Brad Pitt und Hans Zimmer sind mit an Bord, doch im Kern geht es Steve McQueens Sklaverei-Drama "12 Years a Slave" um die aufrichtige Bergung eines Erfahrungsschatzes. Alexander Paynes schöner neuer Film "Nebraska" ist ein postheroisches road movie, das sich auf seinem Weg zu Lincoln nur zu gerne ablenken lässt.

Dieser Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) ist ein geachteter Gentleman in den feineren Kreisen im New York des Jahres 1841. Seine Künste als Geigenspieler sind geschätzt, man grüßt ihn auf den Straßen und in den Läden mit zuvorkommendsten Floskeln und hält gerne Konversation mit ihm. Es ist der Traum des gelingenden Lebens, dessen Verwirklichung Solomon Northup und der enge Kreis seiner Liebsten beträchtlich nahe kommen.

Bis er auf die Herren trifft, die Gentlemen zu sein nur vorgeben, ihn dann unter Drogen setzen, demütigen, auspeitschen und in den Süden nach New Orleans verkaufen. Denn Solomon Northups Hautfarbe ist dunkler als ihre. Das Scheusal, das ihn als erstes in einer ganzen Reihe von Scheusalen mit der Peitsche malträtiert, prügelt es ihm gehörig ein: "Ich bin ein Sklave", soll Northup sagen. Zum Sklaven ist man nicht geboren, zum Sklaven wird man gemacht. Dasselbe gilt für die Hautfarbe als Identitätsmerkmal: Wenn Solomon Northup zu Beginn noch die Freiheiten seines bürgerlichen Lebens in vollen Zügen genießt, spielt seine Hautfarbe - gemessen an den Gepflogenheiten des Hollywoodkinos - auf fast schon irritierende Weise keine Rolle: Für einen Film, der ansonsten viel Wert darauf legt, den grassierenden Rassismus in all seinen Abscheulichkeiten grafisch vors Auge zu führen, mag die "Farbblindheit" dieser Sequenzen zu Beginn vielleicht ja wirklich verblüffend sein. War der Umgang mit freien Afroamerikanern - ja, die gab es - im Norden der Staaten tatsächlich so frei von Rassismen? Was sich vielleicht als Lässlichkeit ankreiden lassen könnte, ist in Wahrheit nichts anderes als die Postulation eines Idealzustands: Die Haut eines Menschen sollte noch nicht einmal zweitrangig sein. Und diese Szenen führen einem, ihrem ganzen entspannten Duktus zum Trotz, nochmals schlagartig vor Augen, welche Narrative im Erzählfundus des Hollywoodkinos, das sich ja insbesondere in seiner linksliberalen Ausprägung oft anhören lassen muss, so ziemlich jedes politisch korrekte Thema bereits bearbeitet zu haben, noch fehlen.

Vorderhand erzählt "12 Years a Slave" die wahre Geschichte des historischen Solomon Northup, der in die Sklaverei entführt, systematisch degradiert und erst nach zwölf Jahren, nach einer juristischen Intervention früherer Freunde aus dem Norden, befreit wird. Die Sklaverei als gewaltige Entmenschlichungsmaschinerie - das ist die Makro-Geschichte, die Steve McQueen, von Haus aus bildender Künstler und seit "Hunger" (2008) und "Shame" (2011) der aufstrebende Regiestar des intelligenten Arthouse-Kinos, insbesondere in der ersten Hälfte seines Films mit einiger Wucht erzählt: Da sind die großen Mühlen der Mississippi-Dampfer, die sich wie Mähdrescher-Klingen durch das Bild pflügen, dort das düstere Holz der Zellen auf dem Kahn, nicht zuletzt: Eine fahrige, brutale Montage, ein Getöse auf der Tonspur - das alles steht im krassen Kontrast zu den in sich ruhenden New-York-Szenen. Für Solomon Northup geht eine Welt, ein Leben verloren.


Doch in die Stationen dieses Leidensdramas, wo es von Plantage zu Plantage, von Demütigung zu Demütigung geht (in den USA warf der ohnehin streitbare Kritiker Armond White dem Film des "Torture Porn" vor - das ist in manchen brutalen Szenen tatsächlich nicht von der Hand zu weisen), mischt sich auch eine Mikro-Geschichte: Immer wieder beobachtet McQueen in kleinen Erzählepisoden, was Sklaverei den Sklaven antut. Immer wieder stößt man auf klirrende Momente der Entsolidarisierung, auf Inseln im narrativen Fluss, die den Streitgesprächen unter den Versklavten gewidmet sind. Dass sie - wenigstens in der Originalfassung, die bei der Pressevorführung zu sehen war - in altmodisch verschnörkeltem Englisch gehalten sind (es fehlt nicht gar so viel und man könnte Shakespeare zum Vergleich heranziehen), bedingt einen angenehm verfremdenden Effekt. Meist geht es um die essenzielle Frage: Wie umgehen mit der eigenen Position? Liebkind machen und auf eine schlichte Linderung der eigenen Lage hoffen?

Alle bisherigen Filme von Steve McQueen handeln von Menschen in Extremsituationen - "12 Years a Slave" ist von allen derjenige mit den auffallendsten Zugeständisse ans Erzählkino. Als piktoriale Meditation über einen Zustand funktioniert er nur in Auszügen (so sucht McQueen immer wieder fast schon nostalgisch anmutende Bilder und rhythmisiert seinen Film mit oft nahezu abstrakten Inserts). Man kann sicherlich problematisieren, dass "12 Years a Slave" sich damit der vornehmlich "weißen" Form des oscar-affinen Melodrams annähert und andient. Auch die Tatsache, dass sich mit Paul Dano, Benedict Cumberbatch, Paul Giamatti, Michael Fassbender und Brad Pitt zumindest in der zweiten Besetzungsreihe weiße Hochprominenz für Gastauftritte eingefunden hat, rückt den Film in die Nähe des Verdachts, dass sich hier weiße Männer durch noble Selbstbescheidungen von der guten Sache etwas Abglanz erhoffen (was den italienischen Verleih schließlich dazu getrieben hat, Brad Pitt, der dramaturgisch wichtig, aber eben auch keine fünf Minuten in Erscheinung tritt, so werbewirksam wie grenzenlos peinlich als Jesusfigur aufs Plakat zu hieven). Nicht zuletzt umsäuselt Hans Zimmers traurig-melodramatische Musik den Film zwar einerseits hocheffektiv, andererseits aber eben auch durchaus kalkuliert, auf typische Oscar-Bait-Weise.

Vielleicht sind das aber auch Reibeflächen, die McQueen bewusst sucht, die es ihm vielleicht sogar gestatten, seinen ansonsten durch und durch radikal auf Seiten der Versklavten verorteten Film so wirkmächtig im Diskurs zu positionieren, wie ihm dies gelungen ist. Das tränenrührende Melo und der ästhetisch ambitionierte Furor gehen zuweilen Hand in Hand, dann wieder stehen sie quer zueinander, wie zwei Formen im Widerstreit. Steve McQueens zu jeder Zeit hochkonzentriertem Film tut das gut. Er schildert die Erfahrungen, Sehnsüchte und Entbehrungen eines Menschen und stellt sich, schlussendlich, ganz und gar in diesen Dienst. Wenn dem Erzählkino auch zuweilen zu misstrauen ist, so ist doch gerade dies, die aufrichtige Bergung eines Erfahrungsschatzes, seine nobelste Aufgabe.

Thomas Groh

12 Years a Slave - USA 2013 - Regie: Steve McQueen - Darsteller: Chiwetel Ejiofor, Benedict Cumberbatch, Michael Fassbender, Dwight Henry, Paul Giamatti, Lupita Nyong'o, Brad Pitt - Laufzeit: 134 Minuten.

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Der äußere Anlass der Reise ist von Anfang an mehr als nur phony: David Grants Vater Woody (Bruce Dern, völlig zurecht überall gelobt für seine Darstellung) hat in der Post den Werbeflyer eines Zeitschriftenvertriebs gefunden, der ihn als Gewinner einer vollen Million Dollar auszeichnet. Oder auszuzeichnen scheint, denn es handelt sich natürlich um einen scam, um das Totholzkorrelat einer Spam-Mail. Woody Grant gibt trotzdem keine Ruhe, bis David (Will Forte; wie Dern bislang meist eher ein Nebendarsteller - es gehört zum Charme des Films, dass er vom Starkino sanft, aber bestimmt Abstand hält) sich mit ihm auf den Weg zur auf dem Flyer angegebenen Adresse macht, auf einen Weg also, der, wie im Monomythos, von Anfang an eher ein innerer, als ein äußerer ist.

Dieser innere Weg ist erst einmal keiner, den das Kino nicht schon das eine oder andere Mal begangen hätte, und auf seine Art ist auch dieser eigene, innere Anlass ein wenig phony, nämlich Ausdruck gesteigerter Arthaus-Harmlosigkeit: Für David Grant geht es darum, Abstand zu gewinnen von seinem in falscher Routine und ewigen Verschleppungen (gleich am Anfang wird er von seiner langjährigen Freundin vor die Alternativen Heirat oder Trennung gestellt) zu ersticken drohenden Alltag; für Woody Grant darum, der Entmächtigung, die das Alter mit sich bringt, eine letzte, verzweifelte Eigenhandlung entgegen zu setzen; und beiden zusammen geht es darum, ein Verhältnis zueinander zu finden, das nicht nur auf wechselseitige Genervtheit hinaus läuft.

Das manifeste Ziel der Reise ist ein durchschauter Schwindel, das psychologische eine Ansammlung von Klischees. Dass Alexander Paynes "Nebraska" dennoch ein sehr schöner Film geworden ist, liegt daran, dass das Ziel von Anfang an nur dazu da ist, aus den Augen verloren zu werden. Schon ein früher Zwischenstopp am Mount Rushmore bringt das auf den Punkt: "Irgendwie unfertig" wirke es, meint Woody über das präsidiale Monument; Eintritt bezahlen, um es aus der Nähe zu betrachten, möchte er erst gar nicht.

Das ist keine besonders subtile Szene, klar, aber der Film löst diesen antiheroischen Gestus auch als Ganzer ein: Es geht in "Nebraska" um Amerika als ein ewig und irgendwie auch zwingend unfertiges Projekt, um ein Amerika, das sich damit abgefunden hat, dass die eine frontier nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat, und dass aufmerksame, neugierige Introspektion allemal interessanter ist als die Suche nach der einen, großen nationalen Aufgabe. Für einmal wird aus dieser Perspektive doch noch das Ziel der Reise interessant: Nach Lincoln, Nebraska, sollte es gehen, auf dem Weg in die nach dem ikonischsten aller Präsidenten benannten Kleinstadt bleiben die beiden Protagonisten allerdings in Woodys Heimatort hängen, einem Nest, das nach dem dunkelromantischen Dichter und Romanautor Nathaniel Hawthorne benannt ist, nach einem Mystizisten, der sich eher für die Seele als für die Fitness seines Heimatlandes interessierte - und dieses Hawthorne, von dem Woody Grant innerlich, das wird schnell deutlich, nie recht losgekommen ist, kann man im Gegensatz zu Lincoln, Nebraska auf keiner realweltlichen Landkarte findet.


Die souverän komponierten, nie aufdringlichen Schwarz-Weiß-Bilder, in denen Payne seine Geschichte entwirft, kommen erst in diesem Hawthorne zu ihrem Recht (vorher haben sie gelegentlich etwas Schwermütiges, Erdrückendes). Genau wie die wunderbare, der Folk-Tradition entlehnte Filmmusik von Mark Orton. Dieser Soundtrack - der schönste, den ich seit langem gehört habe in einem aktuellen amerikanischen Film - rückt "Nebraska" in die Nähe der Folk-Fiktion "Inside Llewyn Davis", dem jüngsten Film von Joel und Ethan Coen, wie überhaupt der Blick auf die etwas skurrile Welt und die noch etwas skurrileren Typen, die diese Welt bevölkern, mit dem Blick des Coen-Kinos durchaus verwandt ist: Es bleibt schon immer ein Blick von außen, und den Verdacht, dass da außerdem von oben herab geblickt wird, wird man nicht immer ganz los. Was "Nebraska" angenehm von diesem benachbarten Projekt abhebt: Paynes Blick ist nicht einfach nur weniger zynisch, sondern vor allem entspannter. Payne zwängt die Figuren, die auch in der eingestandenen Fiktionalität etwas Vorgefundenes behalten, nicht wie die Coens in auf maximale Schadenswirkung ausgelegte Entführungs-, oder Erpressungsgeschichten, interessiert sich allgemein nicht für Genreformeln, fühlt sich in der anekdotischen Form genauso wohl wie in der poetischen Tradition seiner nur vorsichtig ironisch überformten Americana.

In Hawthorne lenkt sich jedenfalls der Zweck des Trips endgültig um: Aus dem psychotherapeutischen road movie wird eine Reise in die biografische, familiäre Vergangenheit des Vaters - und auch eine fast schon kulturhistorische und in Details sogar ethnografische Reise, die in ein anderes, ein ländliches Amerika führt, eines, das gerade während ökonomischer Krisen als erstes abgehängt wird. In Hawthorne scheint die Zeit seit Jahrzehnten still zu stehen, die voluminöse, weitgehend beschäftigungslose Verwandtschaft lümmelt sich auf den Sofas und macht sich gleichzeitig über die ganz andere, urbane Behäbigkeit des Neuankömmlings David lustig, in den Kneipen werden Kränkungen auf ewig erinnert und wach gehalten. Und, ein vielleicht völlig nebensächliches Detail, das mir aber doch einiges auszusagen scheint über den Begriff von Amerika, der sich in dem Film formt: In jeder Scheune scheint ein Dieselgenerator zu stehen; längst ausrangierte, aber dennoch nicht entsorgte Maschinen, die trotzig echte Autonomie behaupten, wo längst nur noch passiver Widerstand geleistet werden kann.

Lukas Foerster

Nebraska - Regie: Alexander Payne - Darsteller: Bruce Dern, Will Forte, June Squibb, Obo Odenkrik, Stacy Keach, Mary Louise Wilson, Rance Howard - Laufzeit: 115 Minuten.