Im Kino

Die innere Alm

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
31.07.2014. Ein Besuch beim 13. Kongress des Hofbauer-Kommandos in Nürnberg und Fürth: Drei Schwedinnen versetzen Oberbayern in Schwingung; und eine brünette Intrigantin macht ein statisch fotografiertes Strandhaus unsicher.

"Im Kino" nennt sich diese Rubrik. Dieses "Im Kino" umfasst für uns nicht nur jene Filme, denen die deutschen Verleiher einen "regulären Kinostart" (was auch immer das im Einzelnen heißen mag, oft genug touren gerade die interessantesten Filme lediglich in ein, zwei Kopien durch winzige Programmkinos) gönnen. Schon seit geraumer Zeit besprechen wir an dieser Stelle auch regelmäßig Filme, die nur auf DVD erhältlich sind, oft sogar nur als Importfassungen; oder wir weisen auf Filme hin, die ihre Premiere in Festival-, oder Kunstkontexten erleben und danach nicht selten bis auf weiteres unsichtbar bleiben. Was Kino ist oder nicht ist, lässt sich längst nicht mehr kategorisch bestimmen, was "im Kino" ist oder nicht ist, erst recht nicht.

Diese Woche blicken wir auf ein Phänomen, das vom Normalbetrieb des Kinos (wenn es denn einen solchen noch gibt) besonders weit entfernt ist - allerdings nur auf den ersten Blick. Denn zwar begannen die "Außerordentlichen Kongresse des Hofbauerkommandos", die seit einigen Jahren in Nürnberg und Fürth stattfinden, als eine Art klandestines Privatfilmfestival; und zwar werden auf diesen Kongressen ziemlich ausnahmslos Filme vorgeführt, die nicht nur einem anderen, vergangenen Kino angehören, sondern die mit dem aktuellen deutschen Kinoprogramm, das sich zwischen europäischem Förederkino und amerikanischen Blockbustern aufspannt, kaum kompatibel wären: widerborstige, eigensinnige Exploitationfilme, Low-Budget-Erotika voller unheimlicher Gefühle, oder auch erstaunliche Ausgrabungen des ephemeren Films wie der beeindruckende FWU-Lehrfilm "Dir muss er ja nicht gefallen" (merh hier), eine der großen Entdeckungen des letzten, 13. Kongresses.

Gleichzeitig aber gelingt es dieser vermeintlich abseitigen Veranstaltung (und zwar eindrücklicher als allen Dolby-Surround-3d-Multiplexspektakeln und Roterteppich-Berlinalepremieren), vielleicht doch noch einmal, einen Eindruck davon zu gehen, was es bedeutet, "im Kino" zu sein, für Filme wie für das Publikum. Zum einen, weil die vorgeführten Filme außerhalb des Kinosaals nicht verfügbar sind, weil sie nie digitalisiert wurden, nie Teil jener multimedialen Wertschöpfungskette geworden sind, die längst an die Stelle des klassischen Kinodispositivs getreten ist; zum anderen, weil man als Kongressbesucher in den langen Kinonächten im Nürnberger KommKino und im Fürther Uferpalast plötzlich wieder erlebt, wie das Gemeinschaftserlebnis Kino den Alltag komplett suspendieren kann. Wie man sich das alles konkreter vorzustellen hat, kann man zum Beispiel hier nachlesen.

Zwei Perlentaucher-Autoren waren bei dem 13. Kongress am letzten Wochenende mit dabei - und stellen zwei der erstaunlichsten, oder wenigstens aberwitzigsten Ausgrabungen vor.

Lukas Foerster

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Die Schwedin ist im bundesdeutschen Kino der siebziger Jahre viele Dinge. Unbedingt sehr blond. Ein bisschen blöd, vielleicht, aber darin sehr freundlich. Ungebremst lebenslustig. Und, nicht zuletzt: ungehemmt, meistens nackt und stets an erotischen Eskapaden interessiert. Damit verkörpert sie das Gegenteil von alldem, für das der sogenannte "Lederhosenfilm" steht. Denn der seinerzeit wahnwitzig erfolgreiche krachlederne Softsexfilm ist in seinem Kern eigentlich gar kein Sexfilm, sondern ein Antisexfilm, und in den schönsten Momenten seiner schönsten Filme, so scheint es jedenfalls von heute aus betrachtet, weiß er das auch.

Man muss sich nur den erfolgreichsten und bis heute populärsten Film des Subgenres anschauen, Franz Marischkas "Liebesgrüße aus der Lederhos"n" (1973). Eine unfassliche sexualökonomische U- oder Dystopie - je nach Perspektive - tut sich auf, wenn der Frage nachgegangen wird, wie denn die Welt wäre, wenn die jungen, schönen Frauen die hässlichen alten Männer für Sex bezahlen würden statt umgekehrt. Oder die in Tristesse schwelgenden Meisterwerke des jüngst im Zuge der Hofbauer-Kongresse wiederentdeckten und neu bewerteten Jürgen Enz, in denen, wie Oliver Nöding treffend zuspitzt, "zwischen Liebe und Hirntod […] ein schmaler Grat" verläuft, in denen die Protagonisten der provinziellen Ödnis ihrer Existenz in die sexuelle Entgrenzung zu entkommen versuchen und letztlich doch immer wieder von ihren Zinnteller- und Bockwurstleben und der desolaten Realität nüchternster körperlicher Verrichtungen eingeholt werden.

Auch das Bergdorf, das den Hintergrund für "Drei Schwedinnen in Oberbayern" von Siggi Götz - der inzwischen unter seinem bürgerlichen Namen Siggi Rothemund gesichtslose TV-Produktionen en gros herunterfilmt - abgibt, ist solch ein Ort. Ein Ort, der die Leben der Menschen, die arglos in ihn hineingeboren werden, auffrisst und ihnen nur noch das Basale, das Überlebensnotwendigste übrig lässt - den Körper. Saufen und Vögeln - unbedingt auch, und hier kristallisiert die allumfassende Düsternis dieses oberflächlich komödiantischen Settings endgültig, in dieser Reihenfolge. Fast scheint es, als wäre dieses oberbayrische Dorf einer jener cinemythischen Orte außerhalb der Welt und der Zeit, der ahnungslose Wanderer wie in einem Spinnennetz einfängt und nie wieder gehen lässt - ein sexualdystopisches Brigadoon, ein weißbiergeschwängertes Slapstick-Dogville.

Selbst der italienische Hauptdarsteller Gianni Garko, der sich als Italowestern-Antiheld Sartana gewieft und skrupellos durch zahllose Westernstädte schoss und dabei nie seine Souveränität einbüßte, hat der alles umgreifenden Depression der bayerischen Alm nichts entgegenzusetzen - und wenn es auch wohl auf ewig ein filmhistorisches Mysterium bleiben wird, wie es ausgerechnet Garko in ausgerechnet diesen Film verschlagen hat, so liegt der Ausgang dieses eigentümlichen Experimentes so klar wie ernüchternd auf der Hand. Noch das amoralischste Ganovennest im mexikanischen Grenzgebiet ist ein besseres Pflaster als diese Welt, wo zwischen Dorfkrug und Kuhstall noch weniger Hoffnung passt als in die weiten Wüsteneien des italoamerikanischen Alptraum-Westens.

Und doch, für einmal zieht es den Hotelier Otto (Garko) hinaus in die weite Welt - oder zumindest bis nach Stockholm. Und dieses Stockholm entpuppt sich als ein Ort, an dem ein anderes Leben möglich wird. Eine kleine Welt zwar, die ausschließlich aus Innenraum zu bestehen scheint - ein Stripclub, der Schauplatz einer deliranten Discosequenz ist, und ein Hotelzimmer, mehr gibt es nicht in Schweden -, die aber doch zum Fluchtpunkt für Otto wird, der dort kurz, aber nachdrücklich, erfährt, dass die Grenzen seiner Welt nicht die Grenzen seines Denkens sein müssen. Bevor ihn das eigene, traurige Dasein auch dort einholt und sich der ungeheuer muffige Verwechslungs- und Täuschungsplot von "Drei Schwedinnen in Oberbayern", von Stockholm aus in Richtung Alm fort- oder besser zurückgeschrieben, auch diese Räume wieder erobert.

So wird die unausweichliche Gewissheit immer deutlicher, je länger der Film läuft - von Oberbayern aus betrachtet gibt es kein Außen mehr. Alle Wege führen auf die Alm, und alles in der Außenwelt flüchtig erfahrbare Glück wird von ihr - von der Inneren Alm, wenn man so will - eingeholt und restlos ausgelöscht. Oder vielleicht doch nicht so ganz restlos? Denn es gibt ja noch - die Schwedinnen. Durch ihre Verpflanzung in dieses Szenario formt Regisseur Siggi Götz seinen Film nicht nur zu einem waschechten (Sub-)Genrebastard, sondern setzt auch ein entschiedenes Gegengewicht zur Tristesse seiner lebensfeindlichen Bergbauernwelt.

Die Schwedinnen funktionieren, als Fremdkörper in dieses trübe Szenario gestellt, als ungebrochen fröhliche Agentinnen der Lebensfreude. Sie tragen in jeder Sekunde, in der sie auf der Leinwand zu sehen sind, eine lustvolle und durch nichts zu bändigende Anarchie in den Film hinein - am allerschönsten zum Ausdruck gebracht in einer schwer fasslichen Biergartenschlägerei, die in einem Schlachtfeldpanorama kulminiert, während die drei Schwedinnen ohne mit einer Wimper zu zucken freudig singend auf einem Biertisch tanzen. In Sequenzen wie diesen - und auch einer Reihe weiterer, häufig nach dem Prinzip der Kettenreaktion aufgebauten Slapsticksequenzen, in denen das Tempo plötzlich anzieht, das ansonsten den Film bestimmende stumpfe Komikprinzip des zotigen Witzereißens verstummt und momenthaft von avancierteren Körperkomik- und Aktion-Reaktion-Schemata verdrängt wird - beginnt "Drei Schwedinnen in Oberbayern" plötzlich auf eine ungeheuer befreiende Weise frei zu flottieren, seine eigene Tiefendumpfheit durch Exzess aufzusprengen und so in verblüffend anarchische Freiräume hineinzueskalieren.

Jochen Werner

Drei Schwedinnen in Oberbayern - BRD 1977 - Regie: Sigi Rothemund - Darsteller: Gianni Garko, Alexander Grill, Beate Hasenau, Inge Fock, Anika Egger, Ann Lündell, Herbert Fux - Laufzeit: 93 Minuten.

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Nach einem kurzflüchtigen en Blick auf seine Filmografie könnte man den New Yorker Joseph W. Sarno als einen Schmuddelfließbandfilmer unter vielen abtun. Über hundert Filme kurbelte er seit den frühen 1960er Jahren herunter, spätestens ab den frühen Achtzigern versank er im Sumpf der auf Videoproduktionen umgestellten Pornoindustrie, für die er Ausstoßware mit Titeln wie "Screw the Right Thing" oder "The Erotic Adventures of Bedman and Throbbin" fertigte. Doch auch schon vorher, als er seine Filme noch fürs Kino (und ohne explizite Sexszenen) drehte, war sein Arbeitspensum enorm: Allein für das Jahr 1968 verzeichnet die imdb (und auch die weiß bekanntlich nicht alles) acht Regiearbeiten. Eine davon, "Deep Inside", beziehungsweise in Deutschland "Das Strandhaus", wurde in Nürnberg vorgeführt. Wenn die anderen sieben (und die vielen anderen drum herum) auch nur halb so aufregend sind, darf man Sarno zu den (vielen) großen vergessenen auteurs der Filmgeschichte zählen.

"Deep Inside" ist ein Film, der mit geringen Mitteln Komplexes schafft. Und zwar, indem er die geringen Mittel erst einmal noch weiter verknappt. Der Film spielt nicht nur an einem einzigen Schauplatz, dem Strandhaus des Titels, Sarno reduziert dieses Strandhaus dann auch noch auf einige wenige, immer wiederkehrende Ansichten: Ein Tisch, an dem sich ein Mann und eine Frau gegenübersitzen, im Hintergrund, an der Wand, ein Fischernetz (der metaphorische Überhang ist nicht zufällig: in diesem Netz bleiben alle Figuren gefangen, zumindest bis zur letzten Szene); diverse Schlafzimmer, in die sich das Personal in wechselnden Konstellationen zu zweit zurückzieht - oft blickt dann eine der beiden im Vordergrund nachdenklich in die Kamera, während sich hinter ihr die andere auf dem Bett räkelt; die Veranda, die sich aufs Meer hinaus öffnet und auf der die Karten regelmäßig neu gemischt werden, auf der Liebschaften sich anbahnen und zerbrechen. Ähnlich reduziert die Musik: Abgesehen von einer tollen Soul-Nummer besteht der Soundtrack hauptsächlich aus einer Handvoll hypnotischer, sich ständig wiederholender Jazznummern.

Eingefunden hat sich im Strandhaus eine Gruppe alter Schulfreunde. Vorderhand geht es einfach nur um eine freudige Wiederbegegnung, und tatsächlich wird erst einmal ausgiebig getanzt. Doch eine der Anwesenden, die brünette Millicent, hat andere Pläne: Sie möchte so viel (emotionales) Unheil anrichten wie möglich. Insbesondere hat sie sich in den Kopf gesetzt, die Ehe ihrer besten Freundin Pamela zu zerstören. Damit dies gelingt, versucht sie, Pamela mit einem Anderen zu verkuppeln; und gleichzeitig versucht sie, Pamelas Mann, einen trockenen Alkoholiker, wieder seinem Laster zuzuführen (überhaupt: ein auf tolle Art whiskeygetränkter Film ist das - fast in jedem Bild steht irgendwo eine Schnapsflasche herum, es wird auf routinierte, beiläufige Art, und doch gleichzeitig ohne jedes Maß gesoffen); und weil sie schon einmal dabei ist, hat sie sich vorgenommen, auch noch ein anderes, lesbisches Paar voneinander zu entfremden.

Ein Clou des Films: Viel tun muss sie dafür gar nicht. Ein paar falsche Worte im richtigen Augenblick, schon brechen alte Wunden auf, lassen sich verborgene Sehnsüchte nicht länger zurückhalten, ist ein Pfirsich nicht länger nur ein Pfirsich. Anders ausgedrückt: Die Dinge - die Menschen, die Welt, die Libido ("Deep Inside" ist, obwohl in visueller Hinsicht alles andere als explizit, ein außergewöhnlich erotischer Film) - waren von Anfang an nicht im Lot. Eine komplett befreite Gesellschaft ließe sich von einer derart harmlosen Intrigantin kaum aus dem Gleichgewicht bringen (aber wahrscheinlich wäre eine komplett, also auch von ihren Neurosen befreite Gesellschaft ohnehin ziemlich langweilig… gute Filme dürften in ihr zumindest kaum entstehen). Wenn "Deep Inside" am Ende Millicents Verhalten als pathologisch brandmarkt und sie aus der dem Kreis der Freunde ausgestoßen wird, dann wird nicht etwa alles wieder gut; dann hat nur wieder einmal eine Gemeinschaft das Wissen über ihre eigene Verdorbenheit erfolgreich verdrängt.

Noch stärker ist Sarnos Film auf einer ganz anderen Ebene: als ein Film über Menschen, die sich ungeschützt dem Blick der Kamera ausliefern. Millicent wird gespielt von einer gewissen Peggy Steffans, die ansonsten zwar lediglich in in knapp zwei Dutzend ähnlich gelagerter Produktionen mitwirkte, die damit aber noch zu den erfahreneren Darstellerinnen gehört: Der restliche Cast besteht durchweg aus Laien oder höchstens verhinderten B-Movie-Sternchen. Dass sie alle auf eine leise verstörende Art extrem verletzlich wirken, liegt allerdings, scheint mir, nicht nur an mangelnder Routine (tatsächlich wird ihnen nicht viel schauspielerisches Können im engeren Sinne abverlangt); und auch nicht daran, dass sie sich gelegentlich ausziehen (das passiert eh nicht allzu oft). Sondern vor allem an Sarnos Inszenierung, die erst einmal wenig spektakulär wirkt, die komplett auf Spielereien wie verwinkelte Kameraperspektiven oder exzessive Subjektivierungen verzichtet, mit denen das Exploitationkino ansonsten nicht selten versucht, den Mangel an "echten", also pornografischen Schauwerten vergessen zu machen.

Sarnos Schwarz-Weiß-Fotografie ist (abgesehen von dezent eingesetzten lyrisch-melancholischen Überleitungen) nüchtern und klar. Die Kamera bewegt sich kaum, die Einstellungen bleiben lange stehen. Die Kamera verhält sich nicht zu den Figuren, folgt ihnen nicht, drängt sich ihnen nicht auf. Statt dessen, anders herum: Die Figuren werden gezwungen, sich zur Kamera zu verhalten. Die Darstellerinnen und Darsteller bewegen sich wenig im Bild, meist sind sie der Kamera zugewendet, oft blicken sie mehr oder weniger geradeaus in den Kinosaal, als würden sie vom Film befragt. Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Vom unpersönlichen Kameraauge angeblickt erstarren manche, andere entblößen sich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, wieder andere halten den mechanischen Blick nicht aus und laufen aus dem Bild.

Lukas Foerster

Deep Inside - USA 1968 - Regie: Joseph W. Sarno - Darsteller: Peggy Steffans, Lara Danielli, Bella Donna, Michelle Fox, Martin Ponds, Judson Todd - Laufzeit: 71 Minuten.
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