Essay

So viele Kriege wie Nationen

Von Adam Krzeminski
06.04.2005. Am 8. Mai wird des Kriegsendes gedacht - aber war der 8. Mai eine Befreiung? Jedes europäische Land erinnert sich anders an den Zweiten Weltkrieg, und auch der Holocaust stiftet keine einigende Erzählung. Mit dem Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU aber werden die konkurrierenden Mythen nicht mehr in der Abgeschiedenheit kultiviert, sondern in ständigem Dialog mit den Nachbarn.
Dieser Krieg hat nicht nur Länder verwüstet, sondern auch das gesamte Gebäude tradierter Mythen, auf die sich vor dem Krieg die Identität der europäischen Nationen gründete. Die Etablierung neuer Mythen wiederum scheiterte an einer lähmenden Wirklichkeit: den Millionen Gefallenen und Ermordeten, dem Übermaß materieller Zerstörungen, der politischen und moralischen Degradation Europas. 1945 konnten nur die UdSSR und die USA ohne Hemmungen triumphieren. Durch die übrigen Nationen und Gesellschaften - und nicht nur die unmittelbaren Kriegsteilnehmer - zogen sich tiefe Risse. Unterschiedliche politische Optionen und moralische Entscheidungen trennten die Menschen - auf der einen Seite eine Widerstandsbewegung, die Repressionen des Besatzers provozierte, auf der anderen Kollaborateure, die diesen unterstützten, und auf der dritten schließlich die passive Mehrheit, die zu überleben versuchte. Das Reich lag zwar in Trümmern, doch für viele von der Roten Armee besetzte Länder bedeutete das Ende des Krieges nicht Frieden, sondern ihnen wurden sowjetische Hegemonie, Bürgerkrieg und Regierungen, die sich auf sowjetische Panzer stützten, aufgezwungen.

Im Grunde genommen gab es ebenso viele Zweite Weltkriege wie Nationen. Nur für die Polen und die Deutschen begann er am 1. September 1939. Nein, auch - jawohl ! - für die Schweizer, die stolz darauf sind, dass sie bereits am selben Tag die Mobilmachung anordneten, um ihre Alpenfestung zu verteidigen. Für die Briten und Franzosen begann der Krieg - formal - zwei Tage später, de facto aber erst am 8. April 1940, demselben Tag wie für die Dänen und Norweger. Für die Russen - am 21. Juni 1941 (die sowjetische Aggression gegen Polen am 17. September und der Winterkrieg gegen Finnland wurden aus dem Großen Vaterländischen Krieg ausgeklammert); für die Amerikaner - am 7. Dezember 1941 und für die Bulgaren erst 1944, als sie das passive Bündnis aufkündigten und in die bulgarisch-sowjetische Waffenbrüderschaft eintraten.

Von den wirklichen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges wechselten außerdem nur Großbritannien und die USA während des Krieges nicht die Front, was nicht heißt, dass sie nicht ihre Haltung zu Polen änderten. Übrigens wechselten mit Ausnahme Polens die meisten in den Krieg verwickelten Länder faktisch die Seiten. Vor allem Frankreich, das sich unter der Vichy-Regierung aus dem Krieg zurückzog und damit das deutsche Rüstungspotenzial erheblich vergrößerte. Auch die UdSSR war bis 1941 de facto ein Verbündeter des Dritten Reichs, ebenso wie vorerst Italien, Ungarn, Bulgarien, die Slowakei, Rumänien und Finnland.

Es gibt heute in Europa Staaten, die Hitler ihre Entstehung verdankten - die Slowakei, Kroatien -, und solche, die infolge des Ribbentrop-Molotow-Pakts für lange Zeit ihre Unabhängigkeit verloren - Litauen, Lettland, Estland. Und schließlich gab es neutrale Länder - Schweden, die Schweiz, Spanien -, die in unterschiedlichem Maße sowohl mit dem Dritten Reich als auch mit den Alliierten kollaborierten, die stolz sind auf ihren Widerstand und zugleich mit Scham oder Verärgerung auf Vorwürfe der Hehlerei oder der Auslieferung von Flüchtlingen reagieren.

Schon aus dieser Vielschichtigkeit wird ersichtlich, dass eine gemeinsame europäische Erzählung über den Zweiten Weltkrieg kaum möglich ist. Jede Nation hat etwas anderes erlebt, jede pflegte und demaskierte die eigenen, durch Fotografien, Denkmäler, Erzählungen oder Filme konservierten Kriegsmythen, die sich im Laufe der Zeit veränderten und die oft in sich widersprüchlich waren. Zunächst dominierten die Erzählungen der beiden Hauptsieger. Sie waren es, die ihren Blick auf den Krieg aufdrängten. Die Großmächte hatten nicht nur gesiegt und die Bedingungen des Friedens diktiert, sondern sie verfügten auch über die Massenmedien zur Verbreitung ihres Triumphs.

Erst vor diesem Hintergrund konnten in einzelnen europäischen Ländern eigene Mythen entstehen: der im Widerstand gegen den Nazi-Aggressor vereinten Nation, selbst wenn dieser Aggressor - wie in Finnland, der Slowakei oder in Bulgarien - eine Zeitlang ein Verbündeter, ein Protektor oder ein freundlicher Hegemon gewesen war.

Diese Mythen einer souveränen Teilhabe am Sieg illustrierte man mit Ikonen. Das Foto von General de Gaulle, der an der Spitze einer freudig erregten Menge den Triumphbogen durchschreitet, sollte das Bild der Wehrmacht auslöschen, die vier Jahre zuvor an gleicher Stelle paradiert hatte. Auch wenn die Beteiligung der Resistance und der Freien Franzosen am endgültigen Sieg der Alliierten symbolisch war, denn die Franzosen waren sogar 1945 noch nicht imstande, Straßburg selbständig zurückzuerobern, so sollten die Aufnahmen doch den Nationalstolz wiederherstellen. Das Foto der polnischen Fahne, die für einige Stunden auf der Berliner Siegessäule gehisst war, sollte die Beteiligung der Polen am Sieg über Deutschland dokumentieren und die Abhängigkeit der Lubliner Regierung von der UdSSR verschleiern. Die Aufnahmen von Titos Partisaneneinheiten sollten die Selbstbefreiung Jugoslawiens darstellen, und das Foto des an den Beinen aufgehängten Mussolini die Selbstbefreiung Italiens.

Nur die gespenstische Parade der Kosciuszko-Armee durch das verwüstete und menschenleere Warschau konnte man schwerlich als Selbstbefreiung ansehen. Ebensowenig die nach Sofia einmarschierenden bulgarischen Partisanen, weswegen ihr Bild auch rasch durch die Ikone von Georgi Dimitrow ersetzt wurde, der 1933 beim Prozess gegen die Reichstagsbrandstifter Göring die Stirn geboten hatte und 1945 als Komintern-Funktionär aus Moskau nach Bulgarien zurückkehrte, als propagandistischer Beleg dafür, dass Bulgarien von Anfang an auf der richtigen Seite stand?

Wo der Mythos der Selbstbefreiung besonders unglaubwürdig war, wie etwa in Ungarn, wurde er durch den Mythos von freudigen Menschenmengen ersetzt, die die sowjetischen Soldaten als Befreier begrüßten. Ein klassisches Beispiel ist hier ein Ölgemälde von Sandor Ek aus dem Jahre 1952: im Vordergrund ein Panzer mit der roten Fahne, im Hintergrund die Ruinen von Budapest und an den Seiten jubelnde Ungarn - ohne eigene staatliche Symbole. Diese Inszenierung der Dankbarkeit der befreiten Völker wurde in allen von der Roten Armee besetzten Gebieten vervielfältigt, und der auf einen Sockel gesetzte T34-Panzer wurde zu dem Denkmal der Befreiung - und der militärischen Präsenz der UdSSR.

Nicht nur der Panzer, auch die geradezu sakralen Denkmäler sowjetischer Soldaten als Befreier und Beschützer, eine Kombination des heiligen Georg, des Drachentöters, mit dem heiligen Christophorus, der ein hilfloses Kind auf die andere Seite des Flusses trägt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das schon 1948 von Jewgenij Wutschetisch entworfene Denkmal des Befreiers im Treptower Park in Berlin. Ein sowjetischer Soldat hält in der linken Hand ein Kind, in der rechten dagegen ein Schwert, mit dem er das zu seinen Füßen liegende Hakenkreuz zerschlagen hat. Diese in Berlin platzierte Befreiungsmetapher ermöglichte es auch den Deutschen, die sich dem Sieger fügten, sich - wie ein kleines Mädchen, das seine Eltern verloren hat - an seinen Beschützer anzuschmiegen und sich an seiner Aureole zu wärmen.

Zwei Denkmäler illustrierten in der DDR den Gründungsmythos des "ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden": das Ehrenmal in Treptow und die Gedenkstätte in Buchenwald. Sie ist auf einem Plakat aus dem Jahr 1960 zu sehen, mit dem Wappen der DDR - Hammer und Sichel - im Hintergrund. Die Aussage des Plakats kommentierte die Aufschrift: "Wofür die Antifaschisten kämpften, ist in der DDR Wirklichkeit". Diesen Befreiungs- und Selbstbefreiungsmythos dokumentierten Denkmäler, Romane und Filme, unter denen "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz eine Hauptrolle spielte - die Geschichte der Rettung eines Kindes in Buchenwald durch die Widerstandsbewegung und der Selbstbefreiung des Lagers vor dem Anrücken der amerikanischen Truppen. Die Botschaft war eindeutig. Aber unwahr. Bei der Erforschung der Akten nach der Vereinigung Deutschlands stellte sich heraus, dass die Widerstandsbewegung in Buchenwald tatsächlich ein Kind rettete, aber nur deshalb, weil im Austausch dafür ein anderes ins Gas geschickt wurde. Also war auch der Widerstand mit Kollaboration in Berührung gekommen?

Bequeme - wenngleich andere - Mythen ermöglichten auch den Westdeutschen den Sprung in die Nachkriegszeit. Die Alliierten verurteilten die Verbrecher und entnazifizierten die Unschuldigen, also konnte man sich an den Wiederaufbau machen und sich ein bisschen bemitleiden. Nur die Bande von Nazis habe das in Wirklichkeit so gutmütige deutsche Volk in den Abgrund gezogen, das während des Krieges gelitten und nach dem Krieg die Hölle der Vertreibungen aus dem Osten und die Rache der Sieger erdulden musste. Zum Glück hätten die Angelsachsen die Bedeutung Deutschlands als Damm gegen den Kommunismus erkannt und in der Bundesrepublik eine Demokratie aufzubauen erlaubt. Die Vergangenheit ist vorbei, es lebe die Zukunft.

Der Krieg blieb auch ein Mythos der familiären Erziehung. Die Kinder, Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration wurden von der Erinnerung an den großen Krieg geprägt. In der Volksrepublik Polen bastelten nach 1956 die kleinen Jungen Kartonmodelle der Zerstörer "Burza" und "Blyskawica", lasen "Wie Steine auf die Schanze" (1) und "Geschwader 303" (2) und spielten im Hof "Hauptmann Kloss" (3) oder "Vier Panzersoldaten" (4). In England ahmten sie das Geräusch der Spitfire-Motoren nach. In den USA stürmten sie beim Brettspielen Pazifikinseln. In der UdSSR vertieften sie sich in die Geschichte eines wahren Menschen (5), eines Jagdfliegers, der es, nachdem er während eines Luftkampfes beide Beine verloren hatte, dank seiner Willenskraft wieder schafft zu fliegen.

Über sechs Jahrzehnte wurden in Europa, den USA und in Israel Mahnmale und Gedenkstätten gebaut, Filme gedreht, Plakate und Briefmarken gedruckt. Man schrieb heroische Geschichten über Kriegshelden, die "sich den Kugeln nicht beugten", und begann zugleich sehr früh, Legenden zu demaskieren. Gestern gepriesene Bücher wurden morgen auf den Müll geworfen. Zuvor errichtete Denkmäler wurden gestürzt. Und man verspottete die Helden, rehabilitierte dagegen jene, die gestern als Verräter galten.

In Polen begann die Auseinandersetzung mit den heroischen Mythen wohl am frühesten. Auf der einen Seite erzwang sie der erschreckende Preis des Warschauer Aufstands, auf der anderen dagegen der kühle Blick auf das Grauen des Krieges. Die durch ihren zynischen Realismus entlarvenden Auschwitz-Erzählungen von Tadeusz Borowski aus den vierziger Jahren (6), die den mörderischen Wettlauf der Häftlinge ums Überleben zeigen, hatten in der gesamten europäischen Lager-Literatur nicht ihresgleichen. Und deshalb lösten sie auch einen so heftigen Widerspruch bei jenen aus, die den Mythos vom unerschütterlichen moralischen Widerstand der Antifaschisten erschufen.

Mythen der im Widerstand gegen den Nazi-Aggressor vereinten Nationen begannen in Europa erst zehn Jahre später zu kursieren. Zunächst im Osten, nach Stalins Tod (1953), und im Westen nach dem Eichmann-Prozess (1961).

In Polen setzte die Entmystifizierung sowohl der Unterschlagungen und Lügen der stalinistischen Propaganda als auch des privat kultivierten Heldenmythos am frühesten ein, durch die spöttische Welle der polnischen Schule im Film auf der einen und der Literatur der Groteske und des Absurden auf der anderen Seite. Andrzej Munks "Das schielende Glück" ist in gewisser Weise der Prototyp für Benignis fast ein halbes Jahrhundert später gedrehte Groteske "Das Leben ist schön". Und Andrzej Wajdas "Asche und Diamant" und "Der Kanal" waren einerseits eine Wiederherstellung des totgeschwiegenen Mythos der Heimatarmee, andererseits eine Polemik gegen ihn, ähnlich übrigens wie Miron Bialoszewskis "Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand" (7). Zugleich begann man Schritt für Schritt, nicht nur die Heimatarmee oder die Beteiligung der polnischen Truppen an den Kämpfen im Westen, sondern auch - in Jerzy Krzysztons Romanen - die Schicksale der nach 1939 nach Kasachstan und nach Sibirien Deportierten ins öffentliche Gedächtnis zurückzurufen.

Gegen Ende der siebziger Jahre, mit dem Erstarken der demokratischen Opposition, setzte mit Jan Jozef Lipskis berühmtem Essay "Zwei Vaterländer - zwei Patriotismen" nicht nur eine Revision der offiziellen These Giereks von der moralisch-politischen Einheit der Nation ein, sondern auch die Enthüllung weißer Flecken, und zwar sowohl der von Stalin an den Polen begangenen Verbrechen als auch des polnischen Antisemitismus, der Vertreibung der Deutschen oder des paternalistischen Verhältnisses zu den Ukrainern, Weißrussen und Litauern. Diese Revision verstärkte sich nach 1989, als man geradezu von einem Ende des romantischen Kodes sprach, und ihren Höhepunkt erreichte sie 2001 mit der Debatte um Jedwabne. Darauf folgte - wie unter einer Schockwirkung über den Verlust der Unschuld - die Gegenwelle einer erneuten Heroisierung und im Streit um das Berliner Zentrum gegen Vertreibungen die Rückkehr zu einer konfrontativen und nicht einer gegenüber den Nachbarn kooperativen Einstellung zur Kriegsvergangenheit.

In der UdSSR wurden die stalinistischen Mythen durch das Tauwetter ins Wanken, aber nicht zu Fall gebracht. Allerdings standen nach 1956 nicht Stalin, sondern bedeutende Heerführer - wie Schukow oder Konjew - im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und einfache Soldaten, die ihr Heldentum mit einer psychischen Beschädigung bezahlten (zum Beispiel in "Wenn die Kraniche ziehen" (8)). Zu Zeiten Breschnjews, als die Figur Stalins trotz einer vorsichtigen Restalinisierung als Siegessymbol noch immer inakzeptabel war, wuchs die Gestalt der "Mutter Russlands" zu gigantischen Ausmaßen an, als Siegesgöttin Nike mit erhobenem Schwert auf dem Mamaj-Hügel im in Wolgograd umbenannten Stalingrad oder als Replik eines jedem Bürger der UdSSR bekannten Plakats aus dem Jahr 1941, auf dem eine korpulente Frau in rotem Kleid und mit strengem Gesichtsausdruck die Männer an die Front schickte: "Die Mutter Heimat ruft", drängte die Aufschrift. Dieses Plakat erschien in verschiedenen Versionen auch auf Buchumschlägen und war ein Motiv für weitere Denkmäler.

Die UdSSR ist erheblichem Maße an ihrer Geschichte gescheitert. Als in den achtziger Jahren Glasnost und Perestrojka den Deckel ein wenig anhoben, zerbarst der Kessel des sowjetischen Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg. Nicht nur in den baltischen Ländern, die nun begannen, ihre eigene nationale Geschichte in der Zeit des Krieges zu dokumentieren: von der sowjetischen Okkupation 1940 über die deutsche - was: Befreiung? neuerliche Okkupation? - bis zur nächsten Einverleibung in die UdSSR mit Repressionen und Aussiedlungen.

Im freien Lettland wurden mit staatlichen Mitteln die Friedhöfe lettischer SS-Soldaten in Ordnung gebracht und Museen der Okkupation 1940-1990 errichtet. Zugleich begann man, die Erinnerung an die 70.000 in Lettland - auch unter Beteiligung lettischer Kollaborateure - ermordeten Juden zu pflegen. Ähnlich in der Ukraine: Im Westen erweist man der SS-Division Galizien die Ehre, während im Osten der Mythos des Vaterländischen Krieges weiterhin ungebrochen ist. Nach dem Sieg der "Revolution in Orange" zeigt sich dieser fundamentale Konflikt des ukrainischen Gedächtnisses mit ganzer Wucht. In Russland selbst dagegen entstand das Dilemma, inwieweit der Triumph im Zweiten Weltkrieg ein sowjetischer und inwieweit er ein russischer Triumph war. Und wenn ein russischer, inwiefern sind dann die stalinistischen Verbrechen ein auch für Russland verpflichtendes Erbe? Und am Rande: Was tun mit den russischen Kollaborateuren Hitlers, etwa den Wlassow-Soldaten? Wladimir Putin versucht, wie beispielsweise aus dem geplanten Drehbuch für die Moskauer Feierlichkeiten am 9. Mai ersichtlich wird, sowjetische Mythen zu restaurieren und sie mit dem imperialen russischen Mythos zu verbinden, ohne gleichzeitig irgendeine Verantwortung für die Verbrechen zu akzeptieren.

In Westeuropa verlief die Verteidigung und Revision der Mythen auf anderen Bahnen. Nach 1968 bekam der Mythos einer im Widerstand gegen den Nazi-Besatzer vereinten Nation Risse. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit begannen nun Fragen nach der Kollaboration aufzutauchen, zuerst in Frankreich, dann in den übrigen besetzen Ländern - in Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Dänemark - und schließlich in den neutralen Staaten. Ab den siebziger Jahren wurde unter dem Einfluss des amerikanischen Mehrteilers "Holocaust" der von den Machthabern des Dritten Reichs geplante und von ihnen und ihren Kollaborateuren weitgehend bis zu Ende geführte industrielle Völkermord zur Achse der öffentlichen Erinnerung an den Krieg.

Im Laufe der folgenden zehn bis zwanzig Jahre relativierte der Holocaust die nationalen Kriegserzählungen, er wurde - wie manche meinen - zum universellen Gründungsmythos des sich vereinigenden Europa, zur vornehmlichen Mahnung für das 21. Jahrhundert.

Das war auch die Aussage der Ausstellung "Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen", die von Oktober bis Ende Februar im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu besichtigen war. Auf tausend Quadratmetern waren 400 Exponate versammelt: heroische Bilder und Fotografien, Plakate, Briefmarkenserien, Kultromane und Reportagen sowie Fragmente von 50 Spielfilmen und Fernsehserien, die das populäre Bild des Krieges prägten. Die Organisatoren zeigten ausgezeichnet den Wirrwarr der nationalen Mythen der Staaten Europas sowie der USA und Israels. Mythen, wie sie in der Liturgie von Staatsfeierlichkeiten enthalten sind, in der Symbolik von Gedenkstätten, in Filmen und in der Literatur.

Das berühmte Foto der "Großen Drei" - Roosevelt, Churchill und Stalin - eröffnete die Ausstellung. Es folgten sowjetische und amerikanische Foto-Ikonen des Sieges, wie beispielsweise die bekannte Aufnahme eines Rotarmisten, der auf dem Dach des Reichstags die sowjetische Fahne hisst, oder - analog dazu - die amerikanischer GIs, die auf Iwo Jima eine Fahne hissen. Aber die Fotos sagen nicht die Wahrheit. Heute weiß man, dass der Fotograf Jewgenij Chaldej von den Unterarmen der Soldaten die erbeuteten Uhren wegretuschieren musste.

Im Schatten der Großen stilisierten sich auch die Kleineren zu eindeutigen Siegern. Diese ritualisierte Form der Erinnerung nutzte sich allerdings rasch ab. Sie war im übrigen wenig glaubwürdig, verglichen mit den konkreten Erlebnissen und Erinnerungen der gewöhnlichen Menschen. Dieses "zweite Gedächtnis" - wie Pierre Nora sagt - ist ein emotionaleres, sensibleres und schmerzlicheres Verhältnis zur Vergangenheit. Es hielt nicht bei Heldentaten inne, sondern bei traumatischen Erinnerungen. Es sakralisierte die Opfer und dämonisierte die Täter, die Nazi-Führer, ihre willigen Helfer, auch die deutsche Zivilbevölkerung. Demzufolge war der Nürnberger Prozess ein Beweis juristischer Gerechtigkeit, der Verlust der deutschen Ostgebiete dagegen und die Aussiedlung der Deutschen in den Westen waren ein Ausdruck historischer Gerechtigkeit. Aber verdammungs- und verachtenswert waren auch Hitlers Verbündete und die Kollaborateure in den besetzten Ländern. Die These war einfach: Nur eine kleine Minderheit käuflicher Verräter habe sich dem eigenen Volk entgegengestellt. Nach dem Krieg seien sie bestraft worden, daher könne das Volk, vereint im Aufbau und in der Erinnerung an den eigenen heroischen Kampf, nun in die Zukunft blicken.

Die offizielle Erinnerung an den Krieg hatte eine stabilisierende Bedeutung für die Nationen Europas, diese Erzählung schlug sogar in den Ländern Wurzeln, die sehr spät von Deutschland abgefallen oder - wie Österreich - geradezu ein Teil des Reichs gewesen waren. In Österreich kultivierte man beispielsweise nach 1945 den Mythos, das erste Opfer der Nazi-Aggression gewesen zu sein, als ob Hitler kein Österreicher gewesen wäre und ihn 1938 nicht Massen von Österreichern bejubelt hätten. Auch die DDR hielt sich für das neue, bessere Deutschland, befreit von der Roten Armee und regiert von Antifaschisten, die das Dritte Reich in Konzentrationslagern oder in der Emigration überstanden hatten. Auf diese Weise war der Nationalsozialismus lediglich eine Irrperiode der deutschen Geschichte. Die Deutschen in ihrer Masse waren nicht nur unschuldig, sondern von der Nazi-Clique verführt worden.

Anders die neutralen Staaten: Hier galt der Mythos bewaffneter Neutralität auf der einen und humanitärer Hilfe auf der anderen Seite. Symbol dafür sollte das Rote Kreuz sein oder die Tätigkeit des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg, der ungarischen Juden schwedische Pässe ausstellte und später im GULag umkam.

Die Kriegsmythen der Sieger waren wichtig, reichten aber nicht für lange. Aus der Berliner Ausstellung ergibt sich, dass eigentlich alle Nationen, einschließlich der deutschen, den Mythos des eigenen Opfers und Widerstands kultivierten, wobei man übrigens nach einer gewissen Zeit zuweilen die Rolle der Täter und der Opfer tauschte. Titos Partisanenarmee, der slowakische Aufstand, der bulgarische Partisanenkrieg und in Polen die Volksarmee (AL), der Landesnationalrat (KRN) und natürlich die 1. Kosciuszko-Division sollten die kommunistische Macht legitimieren. Nachkriegsösterreich präsentierte sich als erstes Opfer der Nazi-Aggression und sah in den katholischen und sozialdemokratischen Häftlingen der Nazi-KZs seine Gründungsväter. Die Demaskierung der anderen - nazistischen - Seite der österreichischen Vergangenheit begann erst in den siebziger Jahren, als die Waldheim-Affäre ausbrach - dem österreichischen Präsidenten und ehemaligen UN-Generalsekretär wurde seine Vergangenheit als Wehrmachtsoffizier vorgehalten.

Auch in den westlichen Ländern, die das Dritte Reich besetzt hatte, begann der Mythos des unerschütterlichen Widerstands, wie er gleich nach dem Krieg propagiert wurde, rasch zu bröckeln, zumal die Bewertungen der Grenzen von Widerstand und Kollaboration keineswegs so klar ausfielen. War der belgische König, der 1940 in seinem besetzten Land blieb, um es zu schützen, ein Kollaborateur? So stellten ihn Flugblätter der Linken dar: als Verräter, der mit Hitler redete und Golf spielte, während belgische Kriegsgefangene in Lagern saßen. Und doch sprachen sich die Belgier 1952 in einem Referendum für die Beibehaltung der Monarchie aus. Heute wird ein ähnlicher Streit in Bulgarien, Rumänien, in Ungarn oder der Slowakei geführt. War Zar Boris III. ein Kollaborateur Hitlers oder ein Held? Wie ist die Politik von Pater Hlinka in der Slowakei zu bewerten, wie der rumänische König Karl II. oder der ungarische Admiral Horthy, und wie soll man über die von ungarischen Pfeilkreuzlern verübten Judenpogrome sprechen oder über die Pogrome, die von der rumänischen Eisernen Garde organisiert wurden?

Die Geschichte drängt sich aufs Neue auf und zerstört dabei die Nachkriegsmythen. Es hat jedoch nicht den Anschein - wie nicht nur die Organisatoren der Berliner Ausstellung behaupten -, als bleibe im 21. Jahrhundert der Holocaust im Gedächtnis der Nationen als einziger Mythos bestehen, der alle Seiten vereint, die Nachkommen der Täter wie auch der Opfer. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird noch lange in nationale Segmente aufgespalten sein, und auch diese wieder in gegensätzliche Optionen, die sich nicht immer moralisch eindeutig voneinander scheiden lassen. Wie ist zum Beispiel die Haltung der finnischen Regierung zu bewerten? Das Zurückgreifen auf militärische Unterstützung des Dritten Reichs, um die 1940 an die UdSSR verlorenen Gebiete zurückzugewinnen, die Auslieferung einiger jüdischer Emigranten an die Gestapo zur gleichen Zeit, als finnische Juden an der Front zusammen mit der Wehrmacht kämpften? Und anschließend die Aufkündigung des Bündnisses mit Deutschland und die Aufnahme von Gesprächen mit Stalin?

Der einzige beständige Mythos des Zweiten Weltkrieges kann sich in den USA behaupten. Das war - wie der Titel eines amerikanischen Bestsellers lautet - "A Good War", ein guter Krieg. Und der an den Rollstuhl gefesselte Franklin D. Roosevelt ist - neben Winston Churchill - ein Symbol für den ungebrochenen Willen und die Macht Amerikas. Der Zweite Weltkrieg ist seit über einem halben Jahrhundert weiterhin ein lebendiger Hollywood-Mythos ("Der Soldat James Ryan", "Pearl Harbor", "Windtalkers") darüber, wie die GIs Europa vor dem braunen Reich des Bösen retteten und den Pazifikraum vor Japans kolonialen Ambitionen. Jener Krieg ist zugleich der Gründungsmythos für die globale Macht und die moralische Mission Amerikas, die 1944 auf den Stränden der Normandie, aber auch im Gerichtssaal in Nürnberg und später in der Zeit des Kalten Krieges erfüllt wurde.

Wenn zugleich irgendwo der Holocaust heute zu einer Metapher für den Zweiten Weltkrieg geworden ist, dann - nach dem Sechstagekrieg 1967 - in Israel und kurz darauf gerade in den USA. Der organisierte Völkermord an den europäischen Juden ist heute in den USA ein Symbol für das absolute Böse, das auch eine absolute Macht zu absolutem Handeln, zu Präventivaktionen an jedem beliebigen Ort in der Welt berechtigt.

Der Zweite Weltkrieg hat Europa von Grund auf verändert, aber bis zum heutigen Tag gibt es über ihn nicht die eine europäische Erzählung. Zu verschieden und in sich widersprüchlich sind die Kriegserfahrungen der einzelnen Nationen. Auf den ersten Blick wurde der Krieg zwischen 1939 und 1945 zum einzigen Gründungsmythos der Europäischen Union oder vielmehr der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später der EWG. Die Einigung Westeuropas sollte die beste Lehre sein, die man aus der Katastrophe des Krieges gezogen hatte. Ihren Kern bildete die Versöhnung und Zusammenarbeit der beiden Hauptverlierer jenes Krieges - (West-)Deutschlands und Frankreichs, das nur symbolisch - und von angelsächsischen Gnaden - zum Rang einer Besatzungsmacht avancierte. In Wirklichkeit war jedoch weniger der Zweite Weltkrieg ein Gründungsmythos der EWG als vielmehr der Kalte Krieg, das Bewusstsein, dass Westeuropa, das in den Jahren 1933-1940 in der Konfrontation mit dem Dritten Reich eine Niederlage erlitten hatte, in der Konfrontation mit dem Stalinismus nicht dieselben Fehler wiederholen durfte.

Im Osten Europas wiederum wurde der Zweite Weltkrieg von der Propaganda als Gründungsmythos für das Lager der volksdemokratischen Länder dargestellt, die von der Roten Armee vom deutschen Faschismus befreit worden waren und nun vom amerikanischen Imperialismus und vom deutschen Revisionismus bedroht wurden. In Wirklichkeit war dieser Propagandamythos jedoch lediglich ein Deckmantel für die imperialen Aspirationen der UdSSR. Seine Widerlegung war ein wesentlicher Teil der Emanzipation Ostmitteleuropas von der sowjetischen Hegemonie.

Die heutige EU ist nicht nur wegen der unterschiedlichen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges gespalten, sondern auch wegen der samtenen Revolution von 1989. Sie ist nicht zum Gründungsmythos der neuen, erweiterten EU geworden, obwohl der Sturz des Kommunismus die Voraussetzung für den Beitritt der ehemaligen Volksdemokratien zur EU und zur NATO war. Das Jahr 1989 hat sich noch immer nicht in das Bewusstsein der Gesellschaften Westeuropas eingeprägt. Es wurde nicht als untrennbarer Bestandteil des gesamteuropäischen Erbes angenommen, so wie auch weiterhin die Kriegserfahrung Polens und der baltischen Länder, ganz zu schweigen von der der Ukraine, nicht ins gesamteuropäische historische Bewusstsein gebracht worden ist. Und wenn sie artikuliert wird - wie zuletzt von den Präsidenten Litauens und Estlands, die ihre Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes absagten, oder durch den polnischen Einspruch gegen die Rückkehr von Putins offiziellem Russland zur stalinistischen Interpretation des Ribbentrop-Molotow-Pakts, des Warschauer Aufstands oder Jaltas - dann trifft sie im Westen auf wenig Verständnis.

Die Europäer werden noch lange mit konkurrierenden Gedächtnissen und mit konkurrierenden Mythen leben. Neu ist, dass diese miteinander konkurrierenden Mythen nicht mehr in Abgeschiedenheit voneinander kultiviert werden, sondern in ständigem Dialog mit den Nachbarn. Außerdem wird ihre Pflege in jedem Land von ihrer Entmystifizierung begleitet. Die Zukunft wird zeigen, ob aus diesem Aufeinanderprall nationaler Mythen mit der Zeit ein gemeinsamer europäischer Blick auf den Zweiten Weltkrieg entsteht, der die nationalen Erfahrungen nicht außer Acht lässt. Allmählich hören in vielen Ländern die Europäer schon auf, Autisten zu sein, die ausschließlich auf ihr jeweils gesondertes Bild der Vergangenheit fixiert sind.

*(Dieser Essay erschien auf polnisch zuerst in Polityka. Auf Englisch ist er in signandsight.com erschienen. Wir danken Adam Krzeminski für die Abdruckerlaubnis. D. Red.)

Adam Krzeminski, geboren 1945 in Westgalizien, ist seit 1973 Redakteur der Zeitschrift Polityka. Er gilt als einer der führenden Publizisten Polens. Krzeminski ist außerdem Vorsitzender der Polnisch-Deutschen Gesellschaft in Warschau.

Aus dem Polnischen übersetzt von Silke Lent.


(1) Aleksander Kaminski: Kamienie na szaniec - Tatsachenroman über den Untergrundkampf polnischer Pfadfinder in Warschau 1943. Der Titel spielt auf ein Gedicht von Słowacki an ("Wie Steine, die Gott schleudert auf die Schanze").
(2) Arkady Fiedler: Dywizjon 303. London 1942. (English translation: 1943. Squadron 303: The Polish Fighter Squadron with the RAF).
(3) "kapitan Kloss" - Fernsehserie über einen polnischen Doppelagenten bei der deutschen Abwehr
(4) "Vier Panzersoldaten und ein Hund" - Fernsehserie (1966), Abenteuer der Besatzung des polnischen Panzers 102 (und ihrem Schäferhund Scharik) bei der Befreiung Polens von der Wehrmacht bis hin zum Einmarsch in Berlin.
(5) Boris Polewoj: Povest? o nastojascem celoveke, 1946, dt. "Der wahre Mensch", 1950.
(6) Dt. "Bei uns in Auschwitz", 1982.
(7) Miron Bialoszewski: Nur das was war : Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand. Frankfurt am Main 1994.
(8) Spielfilm, UdSSR, 1957 (OT: Letjat zuravli")