Vorgeblättert

Leseprobe zu Lydia Tschukowskaja: Untertauchen. Teil 3

22.01.2015.
»Was gibt es Neues in der Zeitung?«, fragte Sergej Dmitrijewitsch. »Ich glaube, Sie haben heute Zeitung gelesen? Und ich habe sie nicht einmal durchgeblättert. Die Entspannung demoralisiert, wirklich! Die eigene Zeitung nicht angerührt! Seit zehn Tagen, ich schwöre.«
     »Das ist doch nichts besonders Schlimmes«, meinte ich. Und mir ging durch den Sinn, dass dies wohl nicht an der Entspannung liege. Die Gegenwart des Waldes, des Schnees, die jungen Tannen am Hang - das alles macht das Zeitunglesen unmöglich.
     »Bei Musik …«, fiel mir ein.
     »Ich glaube, man hat Pasternak schon wieder die Leviten gelesen.« Bilibin schien auf die Gedichtzeile zu antworten. An seiner unbestimmten Intonation war nicht zu erkennen, ob er dieses Levitenlesen begrüßte oder nicht.
     »Wer?«, fragte der Journalist.
     »Ich kann mich an den Namen nicht erinnern. Er zitiert jedenfalls Gedichte und meint, sie seien unverständlich.«
     »Aber er schreibt wirklich irgendwie besonders dunkel«, sagte der Journalist leicht vorwurfsvoll. »Meine Frau hat mir kürzlich laut vorgelesen, wir haben sogar gelacht: völlig unverständlich! Alles, was er sagt, kommt nie glatt heraus. Und wenn wir Schwierigkeiten mit dem Verständnis haben, wir, was kann dann das Volk damit anfangen?« Er machte eine missbilligende Pause. »Natürlich, Pasternak ist sehr begabt, dagegen ist nichts zu sagen, seine Alliterationen und seine Form sind in Ordnung, und alles Mögliche andere auch, aber er macht sich keine Gedanken über den Sinn. Überklug. Lesen Sie ihn diesen Mädchen hier vor, dieser Anja und Lisa aus Bykowo oder Kusminskoje: sie werden so gut wie nichts verstehen.«
     »Natürlich, so ist es«, pflichtete Bilibin rasch bei.
     Ich konnte nicht gleich sprechen. Ich musste erst wieder zu Atem kommen. Ich hasste bereits die kurzsichtigen gutmütigen Augen des Journalisten, die vorsichtige Stimme Bilibins und vor allem dieses gemeinsame Schweigen vor einigen Minuten.
     »Aber Baratynskij, den werden sie Ihrer Meinung nach verstehen?« Ich bemühte mich, langsam und leise zu sprechen. »Diese Mädchen aus dem Dorf Bykowo? Oder Fet? Kaum, denn für die sind Gedichte eine völlig ungewohnte Form, Gedanken zu äußern. Und nun, sollen wir deshalb vielleicht unsere Klassiker alle über Bord werfen oder den Deutschen schenken?! Weil Anja und Lisa sie nicht verstehen, Anja und Lisa, die erst gestern Lesen und Schreiben gelernt haben … Und mit Dolmatowskij* großgeworden sind … Und Sie, Sie selbst, glauben Sie etwa, dass Sie die sogenannten Klassiker verstehen? Puschkin zum Beispiel? Kaum. Sie bilden sich nur seit der Schul- bank ein, er sei verständlich …« Ich vermied, meine Begleiter anzusehen, und redete in den Raum hinein … »Und wie kommen wir bloß zu der Vorstellung, wir könnten einem Dichter immer und in allem folgen? Er ist uns doch weit voraus. Er ist von diesem Wald, von dieser Sprache, von diesem Volk geboren und uns allen weit vorausgeschickt worden. So weit voraus, dass er den Blicken derer, die ihn ausgesandt haben, entschwindet. Und unsere Aufgabe, unsere, das heißt all derer, die lesen können, besteht darin, uns nach Kräften um ein Verständnis zu bemühen und das Verstandene, das Geglückte an Anja und Lisa weiterzugeben … Aber wir kneifen vor unserer Pflicht, wir verraten … den Dichter und Anja … Anja würde ihn schließlich begreifen und über sich selbst hinauswachsen … Anja oder ihre Kinder … Wir sagen so stolz: 'Ich verstehe nichts!' Aber worauf sind wir eigentlich stolz? Puschkin sagt: 'Man muss mit dem Genie einig sein.'«
     Ich drehte mich um und ging allein den Berg hinauf. Das alles schien seit langem in mir zu kochen und bedurfte nur des Anstoßes, der Worte des Journalisten, um hervorzubrechen. »Meine Frau und ich haben abends gelesen und gelacht.« Welcher Abgrund an Selbstzufriedenheit in diesem »Meine Frau und ich«! Ein Mitarbeiter der 'Literaturnaja gaseta'! Berufen, ein Urteil über die Dichtung abzugeben! Das Atmen fiel mir schwer - vor Zorn und vom Steigen. Ich blieb stehen, um auf meine Begleiter zu warten und Atem zu schöpfen. Weit unter mir sah ich die großen dunklen Gestalten, die langsam, wie durch dunkles Wasser, von der Brücke zu mir heraufstiegen. Sie haben sich wahrscheinlich zugelächelt, als sie allein geblieben waren, und mit den Achseln gezuckt … Kurz vorher kam mir das Schweigen wie Feigheit und Verrat vor, aber jetzt schämte ich mich bereits meiner unbeherrschten Worte. Und mit wem sprach ich eigentlich?! Mit völlig fremden Menschen. Und wie konnte ich mich nur so hinreißen lassen und mein Herz ausschütten!
     »Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Nina Sergejewna«, sagte Bilibin munter und hakte sich bei mir ein. »Es war nicht richtig von uns, so über Ihren Lieblingsdichter zu sprechen. Aber wir wagen dennoch, um Nachsicht zu bitten: Wir haben ja nicht geahnt, dass Sie ihn so sehr lieben … Und ich muss zugeben, Ihre Worte enthalten sehr viel Wahres.«
     Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, zu mir, in die Stille meines blauen Zimmers. Das Haus strahlte uns mit großstädtischer Lichterfülle entgegen. Jetzt war mir die Wärme unter ihren Ärmeln unangenehm. Wozu habe ich mich vor fremden Menschen erniedrigt? Ich wollte allein sein. Ich ging sehr schnell, und die beiden waren gezwungen, ihre Schritte zu beschleunigen.


* Dolmatowskij: Hurrapatriotischer Dichter aus der Zeit des 2. Weltkriegs zu Teil 2



Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlags.

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