Essay

Religiöses Ersatzwissen

Von Ralf Bönt
10.08.2012. Nicht die Frommen, sondern die Rationalen zeigen Demut vor der Schöpfung. Und in der Debatte um Beschneidung sind sie es, die sich mit Gegenargumenten auseinander setzen.
Vor kurzem schrieb Malte Lehming im Tagesspiegel: "Rationalisten leben in einer einfachen, aber auch eintönigen Welt." Ob er weiß was Entropie ist und daher versteht, wieso und wann ein offenes System stabil sein kann, ein geschlossenes aber zerfällt? Ob er weiß, was Forminvarianz ist, zum Beispiel in einer relativistischen Feldgleichung? Deren diskrete Symmetrie unter Ladungskonjugation - eine mathematische Operation - führte zur Entdeckung der Antimaterie, die überall in dieser Welt vorhanden ist. Ob er jemals von einem Christoffelsymbol gehört hat? Es beschreibt die Struktur von Raum und Zeit, in der wir mit unseren Satelliten leben. Ob er schon mal einem Kind den Regenbogen erklärt hat, einem Alkoholiker zu helfen versuchte oder Aids in Afrika bekämpfte? Ich bezweifle das, denn sonst hätte er nicht ein solches Ressentiment gegen den so mühseligen wie ehrenwerten und am Ende meist vergeblichen Versuch, die Welt zu verstehen. Meistens ist es anstelle des Rationalisten der Gläubige, der es sich einfach macht. Und es ist der Rationalist, der Demut vor der Schöpfung zeigt, denn schließlich versucht er, sie zu lesen. Er lässt sich gewiss keinen Mangel aufschwatzen, den der Gläubige so gern als tiefere Weisheit pflegt und der einen Namen hat: Analphabetismus.

Matthias Küntzel setzt den Gedanken von Malte Lehming jetzt fort: Er spricht von "säkularer Ersatzreligion", als die er den "Kult um die Vernunft" empfindet. Zwar ist es eine berechtigte und sogar die zentrale Frage, auf die wir in der Debatte um die Beschneidung stoßen, die leider längst zum Grundsatzkrieg zwischen so genannten Gläubigen und so genannten Rationalen vereinfacht wurde, allerdings nicht von den Zweitgenannten. Gerade im Licht des 20. Jahrhunderts muss man fragen, wo Religion anfängt, was Kult ist und wann Wissenschaft aufhört. Aber leider versucht Matthias Küntzel im Vorbeigehen die Antwort schon zu geben, die er nicht hat. Dass es im Sprechen über die Beschneidung einen Kult der Vernunft gibt, der wie eine Religion funktioniert, belegt er schließlich so wenig, wie all jene, die den Rationalisten in einer Reihe von Meinungsäußerungen Verbalradikalismen und Grenzüberschreitungen vorwerfen, je eine auch benennen. Aber für mich zum Beispiel, ich bin studierter Physiker, ist es ein Radikalismus, wenn Feridun Zaimoglu sagt: "Die Beschneidung ist eine Prophetenvorgabe und damit nicht verhandelbar."

Wenn ich meine Reaktion auf das Lesen dieses Satzes preisgebe, so möchte ich betonen, dass es mir dabei mitnichten um Provokation geht. Vielmehr möchte ich das andere Denken und Fühlen, das sich in mir vollzieht, kenntlich machen. Ich muss nämlich feststellen, dass mich das Lesen dieses Satzes mehr und klarer und deutlicher als andere Volten in den vielen Texten an den Rand meines Fassungsvermögens gebracht hat: Wenn ein Intellektueller seine Position als nicht verhandelbar erklärt, so schneidet er nicht nur das Gespräch mit mir ab. Ich habe mich wirklich gefragt, inwieweit wir jetzt noch zusammenleben können. Es war nicht nur sehr unangenehm, mich das zu fragen, was hätte ich schließlich gegen den Kollegen Zaimoglu? Bislang gar nichts. Es war auch etwas vollkommen Neues, mir die Frage zu stellen. Aber noch nie hat jemand eine von mir vertretene Position als grundsätzlich indiskutabel abqualifiziert und sogar als Komik bezeichnet. Ist es nicht Komik, sich auf einen Propheten zu stützen? So kommen wir nicht zueinander, obwohl wir genau das müssen.

Während Beschneidungsgegner auf Facebook untereinander diskutieren, wie man religiöses Leben mit dem juristisch korrekten Kölner Urteil vereinbaren, also die Praxis der Zirkumzision zumindest vorerst einmal einer Strafverfolgung entziehen kann, halten sich die Befürworter mit Gegenargumenten kaum eine Sekunde auf. Die den Gläubigen wichtigste Tugend scheint eben zu sein, den Zweifel im Keim zu ersticken. Durchlässigkeit, die Kunst der Stabilität, sieht anders aus. So verfestigt sich der Eindruck des Starrsinns im Analphabetismus. Matthias Matussek hat zum Beispiel kein inneres Problem damit, eine Studie mit 5.500 Teilnehmern unter den Tisch fallen zu lassen, um seine eigene Eichel zum Maß aller Dinge zu machen. Hier ist Selbstüberhöhung, Ressentiment und Besserwisserei wo doch eigentlich Demut sein sollte, zumal wenn man sie selbst für sich beansprucht. Ich vermute einen Minderwertigkeitskomplex des Gläubigen, ihm fehlt die Tugend des Rationalisten: Alles in jedem Moment neu in Frage zu stellen, um sicher zu gehen und selbstsicher zu sein, um zur besseren und am Ende vielleicht richtigen Antwort zu gelangen.

Dabei übersehe ich nicht, dass es einen Kult um Vernunft gibt. Er entsteht zum Beispiel an der Stelle, an der nicht ernst genug gefragt wird, ob die eigene gefundene Antwort zu einer Frage schon wirklich die letzte und derzeit gültige ist. Nicht jener ist ein Rationalist, der über die Ansicht des Papstes, Kondome seien in der Bekämpfung von Aids nicht die Lösung sondern das Problem, sofort lauthals lacht. Im Gegenteil: Wer im kritischen oder sagen wir ruhig wissenschaftlichen Denken geschult ist, wird frei überlegen, ob Kondome einen lockeren sexuellen Umgang mit sich bringen und dann in einem Effekt zweiter, dritter oder vierter Ordnung tatsächlich zu einem Anstieg der Infektionsrate führen können. Er wird dann eine Statistik haben wollen. Wozu er allerdings mehr Kenntnisse in Linguistik, Psychologie, Lokalsoziologie und Wahrscheinlichkeitsrechnung, auch in Drittmitteleinwerbung und Antragsprosa mitbringen muss, als dass man diese rationale Analyse des Problems noch als einfach oder gar vereinfachend bezeichnen kann, wie es Malte Lehming eben wollte.

Dass es die richtige Antwort überhaupt gibt, ist übrigens der Glaube des Rationalisten an die Welt. Seiner täglichen Selbstvergewisserung ist es zu schulden, dass er sich in keinen Glaubenskrieg stürzt. Dabei sollte er seine Einsichten gegen Vereinahmung wie Verleumdung verteidigen. Und wenn er sich fragt, ob der wahre Grund des Papstes gegen Kondome und überhaupt jedes Verhütungsmittel vielleicht doch nicht im Kampf um das bessere Leben, sondern bloß in der zukünftigen Demografie seiner Gemeinde zu suchen ist, so befindet er sich in der Tradition eines Martin Luther, dem es nicht am Gottglauben mangelte. Aber an Vertrauen in den kirchlichen Ablasshandel.

Ralf Bönt

***********

Mehr Artikel zum Thema im Perlentaucher und in anderen Medien finden Sie hier.