Essay

Vom Frontalen ins Virale

Von Ralf Bönt
27.03.2014. Das Netz versprach, uns zu Herren unserer Biografie zu machen. Nun werden unsere Daten an die Regierung verkauft. Das geht aber nur, solange wir es nicht wahrnehmen. Danach wehren wir uns, und an dieser Stelle sind wir jetzt.
Die größte Zumutung für den Menschen ist das Verstreichen der Zeit. Es legt die Vergeblichkeit seines Tuns und Seins offen. Vor ihm waren andere, wie nach ihm andere sein werden, und zwar ohne ihn. Anzunehmen, dass ein Leben bloß vorbeigeht, ist unerträglich, es wäre egal, wie oder ob man lebt. Deshalb ist der größte Traum des Menschen, dass nichts verloren gehe und nichts unbemerkt bleibe, dass die Zeit beherrscht werden könne. Um anzunehmen dass es so sei, scheute der Mensch keinen Aufwand und akzeptierte auch eine Instanz außerhalb seiner selbst. Früher sah der Herrgott alles und hob es auf. Aber später stellten die Physiker fest, dass es einen Energieerhaltungssatz gibt. Er resultiert aus der zeitlichen Stabilität der Naturgesetze und besagt, dass sich alles zwar stetig wandelt, tatsächlich aber nichts verloren geht.

Zu Beginn der modernen Wissenschaft versuchten Forscher wie Charles Babbage dann auch, das mechanistische Weltbild der Atome mit dem Ohr Gottes in Einklang zu bringen. Jedes je gesagte Wort war in Babbages Vorstellung zwar im Wind verrauscht, theoretisch aber wieder herstellbar: Es fehlte nur an Informationen über das momentane Schallbild und einer ausreichend großen Rechenmaschine, um auf der Zeitachse rückwärts zu gehen. Nur Gott, nahm man an, hatte beides.

Zur gleichen Zeit fand Michael Faraday heraus, dass auch elektrische und magnetische Kräfte nicht einfach im Raum vorhanden sind, wie Newton annahm, sondern Zeit benötigen, um von einem Körper zum anderen zu gelangen, etwa um die Verrückung einer Ladung mitzuteilen. Faraday konnte beweisen, dass Licht aus solchen elektromagnetischen Kräften besteht. Der Preuße Felix Eberty folgerte, dass das Weltall ein Archiv der Bilder aller Ereignisse ist, die je stattgefunden haben. Um sie ein zweites Mal zu sehen, muss man einer Tat nur entlang des Lichtstrahls folgen, der von ihr kündet. Gott, nahm man an, konnte auch das, und diese Vorstellungen sind faszinierend, weil sie jedem von uns, seinem Wort und seinem Körper gegenständliche Unverwechselbarkeit zuweisen: Identität, Unsterblichkeit. Was immer geschieht, du hast dich in der Welt schon eingetragen. Dein Wort verhallt nicht mehr und deine Taten und ihre Wirkungen lassen sich auf ewig verfolgen.

Als ein Nebenprodukt der Arbeiten im europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf entstand nun die Rechenmaschine, von der Babbage nicht alleine träumte, und zwar gleich samt Informationsdetektor. Das Internet, zusammen mit einer explodierten Speichertechnologie hat den Bau eines Weltgedächtnisses möglich gemacht. Sein Zentrum entsteht in Bluffdale, Utah. Es wird für immer festhalten, was auf dieser Welt geschieht - Zahlungsverkehr, Briefe, Reiserouten, Telefonate, Bilder, Videos. Wir haben noch nicht wirklich die Zeit, aber schon mal das Vergessen besiegt: Ein Faszinosum, von dem man schwärmen muss. Es sind ja erst ein paar Jahre vergangen, seit ich einmal in Chile Bekanntschaft mit einem achtzigjährigen Deutschen machte, dessen Großvater vor dem Ersten Weltkrieg ausgewandert war. Er hatte Dutzende Tagebücher hinterlassen. Leider hat sein Enkel, der Europa nie sah, mir die Bücher nicht wie verabredet geschickt. Ich habe ihn auch telefonisch nicht mehr erreicht, vielleicht ist er gestorben.

Aber noch vor der Geschichtsforschung werden sich in wenigen Jahren andere Disziplinen nicht wiedererkennen: Epidemiologische Statistiken werden uns über Korrelationen auf Kausalitäten führen, die ohne das Weltgedächtnis noch Jahrhunderte unentdeckt blieben. Die Soziologie wird revolutioniert: Ahnte noch am Beginn der Arabellion blamabler Weise niemand, was folgen sollte, so wird die Konfliktforschung auf demselben Wege eine exakte Wissenschaft werden können, wie die Meteorologie es in den vergangenen Dekaden geschafft hat: dank genügend Daten. Regimewechsel, gar Revolutionen könnten in geordneteren Bahnen verlaufen, sie werden als unausweichlich erkennbar und politisch handhabbar. Steven Pinkers These, dass es eine Selbstorganisation in der Abschaffung der Gewalt gibt, erfährt dann eine weitere Bestätigung. Auch abgesehen von der direkten Terrorbekämpfung gehört jede Regierung, die sich dieser Möglichkeiten, Stabilität zu schaffen, nicht bedient, abgewählt.

Das Internet ist aber sogar ein noch größeres Versprechen, denn wichtiger als der Bezug von Information ist für den Einzelnen Nutzer ihr Absatz: Wer sich äußern kann, wird zum Autor und ist Herr seiner Biografie, ganz wie es die Moderne von ihm verlangt. Während ich über meinen Großvater, der zwischen den Kriegen zu Fuß nach Sizilien auswanderte, kaum etwas weiß, werden meine Urenkel in ihrer Freizeit einen Roman über mich schreiben können, weil die Recherche beinahe entfällt. Ich kann und sollte also für vorteilhafte Vorlagen sorgen. Darüber hinaus macht der Einzelne schon jetzt und hier Einfluss geltend: Er muss nicht mehr stumm zuhören, darf endlich selbst agieren. Nicht nur eine kleine Elite, jeder hat jetzt Stimme. Und Stimmbildung ist die Basis unserer Demokratie.

Die Frage, welche praktischen Konsequenzen die Einbettung und Beobachtung jeden Tuns und Seins in das Weltgeschehen für den einzelnen sofort hat, stellt sich daher nicht so schnell wie man denken könnte. Nicht jeder leidet wie Martin Luther am Glauben, seine Instanz läse wirklich jedes gedachte Wort mit und richte danach. Und auch Luther hat natürlich gerade nicht eine unbeobachtete Existenz als bessere oder gar freiere erwogen. Im Gegenteil, sein Turmerlebnis war Befreiung durch die Erfahrung, dass Gott ihn bereits liebte, wie er war: Nicht Einsamkeit hat dieses Potenzial, sondern die Bestätigung durch das Gegenüber. Der moderne Mensch sieht sich meist im anderen Menschen, den er anerkennt, verwirklicht, eine von Kritikern der Moderne gern banalisierte Transzendenz. Er sieht sich verwirklicht in dem Maß, in dem der andere ihn annimmt.

Im besten Fall nennen wir das Liebe, es zählen aber auch alle schwächeren Erlebnisse und solche ähnlicher Natur. Natürlich fördert eine reiche Kommunikation die Ökonomie der Suche nach Momenten der Verwirklichung. Aufmerksamkeit ist gesund, wir fühlen uns geschmeichelt bei der Vorstellung beobachtet zu werden, sei es vom unbekannten anderen Nutzer, sei es vom Staat, wie Luther sich von Gott geliebt fühlte. Wir sagen oder denken: Ich habe nichts zu verbergen! Wer gehört wird, der zählt, wer abgehört wird, zählt doppelt. Nicht gehört und abgehört zu werden ist jedenfalls die größere Beleidigung. Und Fakt ist: Bislang geht die Rechnung wohl fast immer auf.

Wo liegt also die Gefahr? In der Beliebigkeit und ihrer Unterschätzung, der wir uns fahrlässig hingeben. Erstens wird die einzelne Stimme im Netz mitunter weniger gehört als am Küchentisch oder der Biertheke. Das muss so sein, wenn jeder angeschlossen ist, denn die Zahl der Ohren und die zur Verfügung stehende Zeit zum Zuhören wurde vom Internet noch nicht erhöht. Im Gegenteil, nimmt das Rauschen zu, versinkt das gewichtige Wort. Man kann sich nicht damit trösten, dass auch Gott nie vernehmbar geantwortet habe, denn das ist weniger traurig als ein Twitterer mit Tausenden von Tweets und zwölf Abonnenten. Selbst die einstigen Stars der Piraten geben mittlerweile zu, dass ein Artikel, der eine redaktionelle Auswahl durchlief und daher eine Autorität genießt, mehr Wirkung hat als eine ins Zufällige gesandte Kurznachricht.

Und zweitens: Abgehört, gespeichert und wieder aufgerufen wird nicht nach den gewünschten Kriterien. Das Bild des Einzelnen wird entweder zufällig zusammengestellt oder nach einem System, das Fremdinteressen gehorcht. Deshalb wird auch hier Identität, wenn der Name des Absenders an der Information sichtbar bleibt, nicht erzeugt, sondern vernichtet. Meine ehemalige Telefonfirma vergaß zum Beispiel nie, dass ich wegen monatelang instabilem Festnetz, das tatsächlich kein Festnetz sondern Voice over IP war, einmal sehr harsch wurde. Der hilflose Student im Callcenter wusste nicht, dass ein Mitglied meiner Familie im Sterben lag, ich nicht mit ihm sprechen konnte, ohne dass jedes vierte Wort und jeder dritte Satz fehlte, während ich seit Tagen auf einen Termin zur Zahnwurzelresektion wartete und die Schmerzmittel längst nicht mehr halfen. Ich sollte zum fünften Mal komplizierte Gesprächsmitschnitte herstellen und per Mail senden, einmal zuviel im falschen Moment. Der Vermerk "Kunde arbeitet an Problemlösung nicht mit" blieb in der Datei zu meiner Person und schnitt mich von jedem weiteren Service ab: Wie wir es vom Geld gewohnt sind, vergisst das Netz, wenn es so dumm ist, nichts. Auch nichts Falsches. Und dass es lernt, wird nicht garantiert. Es setzt sich aus den zufälligen Schnipseln keine Geschichte, sondern ein willkürliches Zerrbild zusammen: Bei der NSA und bei meiner Bank oder meinem Telefonanbieter, die aus den wenigen Kontakten ein Profil meiner Persönlichkeit anlegen. Das Ich verschwindet unter Einträgen. Ohne Struktur, das wissen wir vom Entropiesatz, maximiert das Netz nur das Unwissen, wie es einst eben schon die Stasi konnte, die viel schrieb, aber nichts vom Menschen verstand.

Wir müssen das Netz gestalten und könnten dabei schon sehr viel weiter sein. Vor zwanzig Jahren war es aber keine politische oder ästhetische Avantgarde, die begann das Internet zu nutzen, sondern mit nur wenigen Ausnahmen eine Randgruppe, die sich einzig durch ihre Technophilie auszeichnete. Ihre Mitglieder spielten gern auch dann noch an Geräten herum, wenn diese teuer, hässlich und sperrig waren und so gut wie nichts konnten. Mancher fand schon Telefonieren anstrengend und schrieb lieber eine Mail, um von der Mitgliedschaft in einem Sportverein nicht zu reden: Ihre Technophilie ist eigentlich eine gut angezogene Misanthropie. Sie führt in die falsche Richtung, viele wurden süchtig nach Tetris. Der Mode folgend ist heute eine Direktbank eine ohne Kundenkontakt am Tisch mit Teetasse, eine Direktberatung jene per Chat. Der Mensch stört hier, er gilt als indrekt. Die Technophilen zeichnen sich durch mangelndes Verständnis des Analogen aus, einer Scheu vor den Mühen des Alltags, denen sie oft gar Hochmut entgegenbringen: Hauptsache, man muss nicht vor die Tür. Sie sprechen von Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten, Zugang zu Information und Bildung, ohne dafür Software zu haben, noch die Einsicht, dass am Ende wieder alles analog ist. Sie verwechseln den wilden, unbesiedelten Westen mit der Freiheit. Ihre Selbstverwirklichung ist ohne Instanz und geht deshalb ins Leere.

Die Stimme eines Menschen verhallt aber nicht nur im Netz oder wird nach inhumanen Gesetzen selektiv gespeichert, sie wird jetzt täglich direkt manipuliert. Ein Beispiel aus dem eigenen Haushalt: Vor einigen Tagen räumte ich den Tisch nach dem Abendessen ab, meine Frau bereitete unseren dreijährigen Sohn fürs Bett vor und erzählte eine Gutenachtgeschichte . Ich setzte mich an meinen Rechner, um einige Nachrichten zu schreiben und sah anschließend bei Facebook vorbei. Am Nachmittag hatte ich irgendwo einen Link kommentiert, den ich nun noch einmal meinen Freunden präsentierte, zusammen mit meinem Kommentar. Auch jeder andere konnte ihn lesen, denn ich hatte die Option "öffentlich" gewählt. Seit meine Frau die Tür des Kinderzimmers geschlossen hatte, waren nur wenige Minuten vergangen, weshalb ich sehr erstaunt war, Sekunden nach dem Posten meines Kommentars zu dem Link ihre Zustimmung auf dem Bildschirm angezeigt zu bekommen. Erfreut ging ich vom Arbeitszimmer nach vorne, und wollte sie beglückwünschen und befragen, wie sie unser Herzchen so schnell in den Schlaf bekommen habe. Die Tür zum Kinderzimmer war aber zu, dahinter hörte ich die mütterliche Stimme reden, die kindliche lachte. Wieder im Arbeitszimmer fand ich heraus, dass meine Frau im Lauf des Tages demselben Link anderswo auf Facebook zugestimmt hatte, allerdings mit einem ganz anderen Kommentar.

Schwer vorstellbar, dass kein Gesetz einen solchen Übergriff untersagt. Facebook speichert auch Einträge, die wir gar nicht losschicken, sondern wieder verwerfen und löschen. Es ist eine Frage der Zeit, bis ein Politiker, ein Bankchef oder ein Großkünstler über einen solchen Eintrag stolpert. Whatsapp installierte ich kürzlich nach der achtzigsten Frage, ob ich das habe. Kaum war eine einzige Konversation angelegt, wunderte ich mich über die extrem lange Ladezeit und ahnte schon was damit wirklich los war. Nicht gewundert habe ich mich daher über die Ermittlungsergebnisse niederländischer Behörden: Whatsapp lädt nicht nur private Bilder von meinem tragbaren Gerät herunter und sendet sie nach Amerika, es schneidet auch Gespräche mit, die ich in der Nähe des Gerätes mit meiner Katze oder mir selbst führe. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wer damit etwas anfangen kann, aber Bösartigkeiten habe ich im Leben sonst schon des öfteren beobachtet.

Man kann zahllose andere Beispiele nennen. Dennoch gab es bei mir bislang nur kleine Unfälle: Disqus setzte meinen Namen plötzlich über einen Kommentar, den ich vor Jahren mit derselben Email-Adresse, die ich jetzt bei der Anmeldung benutzte, aber anonym bei einem amerikanischen Journal hinterließ. Amazon hat nie mein Autorenkonto gelöscht, obwohl ich, vom Service nicht überzeugt, mehrfach darum bat und auch mehrfach eine Zusage bekam. Und das Gekeife in den Debatten des Netzwerks, das man sonst nur noch im Straßenverkehr beobachten kann, wo Menschen durch Metall voneinander getrennt sind, aber quasi nie bei persönlichen, körperlichen Begegnungen, konnte ich durch konsequentes Entfreunden begrenzen.

Meine Frau nickte ihren zustimmenden Klick übrigens auch ab, nachdem sie meinen Anleser zu dem verlinkten Artikel gelesen hatte. Ob hier ein halbintelligenter Algorithmus arbeitet? Whatsapp habe ich gelöscht, bin aber noch bei Facebook. Schließlich habe ich dort schon interessante Menschen kennen gelernt, es entstanden Kooperationen, ich diskutierte oft gewinnbringend über meine Themen. Einem Rezensenten war mein Denken zuvor dort aufgefallen. Es ist der Kaffeeraum am Ende des Flures, an dem mein Arbeitszimmer liegt. Die Kneipe, die der Prenzlauer Berg seit fünfzehn Jahren nicht mehr hat. Ich kann ja nicht den ganzen Tag zuhause sitzen und nur an mich denken. Noch hat keine Software einen neuen Krieg verursacht, wurde keine Erfindung wegen Spionage vereitelt.

Geht also alles seinen Gang der Entwicklung? Das ist nicht sicher. Denn wir leben in einem labilen Gleichgewicht. Bestenfalls. Die Betreiber des Internets haben sich die unkritische Haltung zu Nutze machte, die sich von der naiven Begeisterung der Technophilen zur Arglosigkeit der ersten Nutzer ausbreitete. Von Freiheit reden ist das eine, sagen, was genau man damit meint, das andere: Wenn eine Internetfirma über meinen Namen verfügen kann oder meinen Schlaf belauscht und an ihre Regierung verkauft, bin ich nicht selbstverwirklichter, sondern verschwunden. Es handelt sich um den Versuch einer Vernichtung, und vielleicht ist sie die große Gegenbewegung zur Vereinzelung, die den Menschen in der Moderne immer eigenverantwortlicher und dabei verletzbarer gemacht hat. Die Politik sollte wissen, dass erst die Verfügung über meine Lebensäußerungen mich souverän macht, und souverän muss der Bürger in der Demokratie sein.

Der Staat, der sich eine NSA leistet, wie die USA das tun, gefährdet am Ende also sich selbst, und zwar nicht anders, als die DDR es machte.
Deshalb muss man, statt nur ohne Echo zu brüllen, fragen, warum er das tut. Woher kommt das Streben eines technischen Systems zur Herrschaft über den Menschen diesmal? Die Antwort ist vielleicht einfach: Weil jene, die es betreiben, es eben können. Ob nun in einer Paranoia oder einem Lustrausch, die Grenze zum anderen Ich wird nicht aus Altruismus überschritten, sondern um sich selbst loszuwerden, ganz im Sinne der Technophilie. Das ist eine Verwirklichung im anderen, ohne auf die Annahme durch ihn zu warten. Eine Vergewaltigung.

Gegen die These Steven Pinkers steht denn auch die Analyse von Byung-Chul Han, Professor an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung. Nach dem Philosophen ist Gewalt nicht mehr "Teil politischer und gesellschaftlicher Kommunikation. Sie zieht sich in subkommunikative, subkutane, kapillare, innerseelische Räume zurück. Sie verlagert sich vom Sichtbaren ins Unsichtbare, vom Direkten ins Diskrete, vom Physischen ins Psychische, vom Martialischen ins Mediale und vom Frontalen ins Virale." Das geht aber nur solange wir es nicht wahrnehmen. Danach wehren wir uns, und an dieser Stelle sind wir jetzt.

Die Struktur des Internets bestimmt zwar, welche Art Wissen es entwickelt, aber wir bestimmen seine Struktur. Zweifel an der momentanen Verfassung kommen nur den Technophilen aus Glauben im Glauben an die Sache nicht auf, um den Römerbrief zu zitieren, der den Lutherschen double-bind ermöglichte. Auf Erden ist er keine gute Idee: Der alte Traum der Freiheit würde im blinden Vertrauen schnell zum alten Alptraum der Totalität, nur abermals größer. Denn der Gerechte, der aus dem Glauben lebt und sich nicht wehrt, ist hier sehr verlassen. Gerade das war ja auch Luthers eigentliche Rückbindung und Dialektik. Die Realisierung des großen Traums vom großen Gedächtnis ist dem Menschen aber zuzutrauen. Eine Wahl haben wir, da es im Rohbau ist, sowieso nicht. Wir können gar nicht anders, als uns gegen die Anarchie zu verteidigen. Zug um Zug wird das gehen, indem man versteht, dass kein Mensch gewillt ist, unter Kabeln und Festwertspeichern zu verschwinden.

Ralf Bönt