Außer Atem: Das Berlinale Blog

Nur Geduld: Jean-Claude Caissys 'La Belle Visite'

Von Ekkehard Knörer
17.02.2010.
Kein Grand Hotel, aber ein Ex-Motel Abgrund ist das Altersheim, das Jean-Claude Caissy in seinem Dokumentarfilmdebüt "La Belle Visite" porträtiert. Der Abgrund, an dem es steht, ist so tief nicht, der Blick, den man hat, geht sehr großzügig sogar ins Weite, hinaus aufs Meer. Im Sommer können die Bewohner des Heims direkt vor ihrer Tür sitzen, die Sonne im Gesicht, nichts als den Ozean zwischen sich und dem, was hinterm Horizont kommt. Im Film ist allerdings das Wetter die meiste Zeit schlecht. Und so richtig Augen für Naturschönheiten haben die hier lebenden Menschen, dies der Eindruck, den Caissys Film vermittelt, ohnehin nicht.



Früh im Film eine Einstellung, die mich auf einen Schlag vom Können des Regisseurs überzeugt. Eine alte Frau betritt schweren und langsamen Schritts einen Gang. Sie schlurft, die Kamera folgt ihr. Sie schlurft weiter, die Kamera folgt ihr weiter. So lange eben, wie es für diese alte Frau dauert, den Gang hinunterzuschlurfen. Dann setzt sie sich, da hält die Kamera inne. Diese Einstellung ist eine Setzung: unmittelbare Verwandlung eines realen Vorgangs in eine diesem angemessene Beobachtungsform. Geduld, sagt der Film, ich mache hier nicht zu früh einen Schnitt. Wer sich für diese alten Menschen Film interessieren will, braucht Geduld. Und: Ich habe Geduld und verlange sie auch von dir. Ich werde, verspricht mir der Film mit dieser Einstellung, im weiteren Verlauf bemüht sein, für Unspektakuläres angemessene Bilder zu finden. Ein Versprechen, das Caissy dann auch hält.



Pünktlich und zur selben Zeit jeden Tag öffnet sich die Ziehharmonikawand, die den Frühstücksraum von einem Vorraum mit Stuhlreihen trennt. Die Bewohner sitzen immer schon da. Die Kamera konstatiert das. Die Wand öffnet sich, sie bewegen sich, so schnell ihnen jeweils möglich ist. Daneben gibt es, wiederkehrend, zum Beispiel das Bingo-Spiel. Andere Szenen: Untersuchungen, Schlurfen, Herumsitzen, Small Talk. Ereignisse, in Rituale überführt und damit schon längst keine Ereignisse mehr: so sieht ein beträchtlicher Teil dieses Lebens, dieses Nachlebens aus. Und Caissy enthält sich klug jeden Kommentars, der durch die von ihm nach allen Regeln fortgeschrittener Dokumentarfilmkunst komponierten Bilder dieses Lebens nicht gedeckt wäre.

Jean-Francois Caissy: "La belle visite". Dokumentarfilm. Kanada, 2009, 80 Minuten (Forum, Vorführtermine)