Thilo Sarrazin kam den Feinden von Islamkritikerinnen wie Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali wie gerufen. Er liefert ihnen endlich das Szenario, von dem sie schon lange träumten. Sarrazin entstellt ihnen mit seiner eugenischen Argumentation die verhasste Kritik von Religion und Tradition und unseren Arrangements mit der Malaise zu angeblicher Kenntlichkeit. In der heutigen Zeit sehnt sich Thomas Assheuer eine rechtspopulistische Partei herbei, in der sich Eva Hermann, Necla Kelek, Norbert Bolz und nebenbei auch der Perlentaucher um Thilo Sarrazin scharen, den sich Assheuer als eine Art Geert Wilders - oder gar Haider? - zu imaginieren scheint. In die gleiche Kerbe haut eine Rede des FAZ-Feuilletonchefs Patrick Bahners, die noch vor der Sarrazin-Debatte gehalten wurde und in der Necla Kelek zu einem Heinrich Treitschke der Gegenwart umgemodelt wird. Kelek sagt: Der Islam ist das Problem. Und Treitschke sagte: Die Juden sind unser Unglück. Man weiß ja, wohin das führte. Assheuer und Bahners werfen sich schon mal in die Joppe des Resistants.

Dabei ahnen sie nicht, dass sie Sarrazin wesentlich mehr ähneln, als man es von Necla Kelek behaupten kann, die nur Sarrazins Darstellung der Missstände in Deutschland und sein Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigt.

Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali kritisieren den Islam nicht, um junge Musliminnen anschließend auf die Plätze zu verweisen und ihnen mitzuteilen, dass sie aufgrund mangelhaften Genmaterials ohnehin keine Chance haben, etwas an ihrer Lage zu verändern. Sie kritisieren eine Kultur nicht, um irgendeine andere Kultur zu beschützen, sondern weil sie für die Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten Einzelner kämpfen.

Das Peinliche an Sarrazin ist, dass er sich - zumindest in den Debatten um sein Buch - in jenes Muster verstrickt, gegen das er gerade ankämpft. Der Kulturalismus ist doch das Problem, auch das von Bahners und Assheuer, die den Islam so sein lassen wollen und sich seine Kritiker nur als tümelnde Teutonen oder tendenzielle Treitschkes vorstellen können. Sarrazin verschärft das Problem noch durch seine Modellrechnungen. Sarrazin beklagt, dass sich die Muslime in eine Kultur einsperren und zementiert ihren geschlossenen Kreis, indem er ihre Gruppenidentität durch genetische und eugenische Argumentationen auch noch zum Schicksal erklärt. Sarrazin bestätigt das Denken in Gruppenidentitäten, dem sich die Immigranten durch die Diskurse fast aller Repräsentanten ausgesetzt sehen: Der Einzelne wird durch sie zum bloßen Mitglied einer Gruppe gemacht, der er wegen kultureller oder gar genetischer Programmierung kaum entkommen kann. Die Imame warnen ihn vor den Verlockungen westlicher Freiheit. Der türkische Präsident erklärt Assimilation im Gastland zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Konservative Politiker im Gastland beschwören volle Boote und drängen auf christliche Leitkultur. Und die Linke verteidigt das Recht aufs Kopftuch.

Sarrazin graut vor der anderen Kultur aus Sorge um die eigene. In hundert Jahren, so seine Rechnung, wird hier keiner mehr "Wanderers Nachtlied" kennen. Die Redaktion der Talksendung "Hart aber fair" machte sich ein hämisches Vergnügen daraus nachzuweisen, dass schon heute keiner mehr weiß, was die Vögelein im Walde tun. Dennoch glauben auch Sarrazins Gegner so fest an "Kultur" wie Sarrazin selbst. In den Debatten um sein Buch spielt die Idee, dass moderne Gesellschaften nicht einfach mehr in ihrer "Kultur" leben, keine Rolle. Diese Idee nannte sich Säkularisierung.

Lebten die Deutschen einfach in ihrer "Kultur", dann würde der Vater bestimmen, was der Sohn lernt und wen die Tochter heiratet. Homosexualität wäre ein Verbrechen. Engelmacherinnen würden geköpft. Interkonfessionelle Heiraten wären undenkbar. Die Frau bräuchte die Unterschrift des Mannes, wenn sie Geld vom gemeinsamen Konto abheben will. Zumindest Katholiken könnten sich nicht scheiden lassen. Pädophile Priester könnten ihren Sünden straflos frönen. Kultur, Sitte, Religion sind eine schöne Sache, aber sie sind auch ein System aus Zwängen, Heuchelei und Verfügung über den Einzelnen.

Die Entwicklung zur Moderne wäre nicht möglich ohne einen Schritt heraus aus "Kultur" und "Identität", ohne die Emanzipation des einzelnen aus den Bindungen der Tradition, ohne die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die schon deshalb keine innere Schwächung bedeutet, weil moderne Gesellschaften stets auch die Kraft haben müssen, den stets drohenden Übergriff der Religion auf die Gegenwart in Schach zu halten. Diese Selbstreflexion ist es übrigens auch, die überhaupt erst einen unvoreingenommenen Blick auf den anderen ermöglicht. Sie ist ein durchaus schmerzhafter Schritt, weil sie Glaubenssysteme in Frage stellt, aber sie ist kein "westlicher" Wert, weil sie immer zuerst das eigene Herkommen in den Blick nimmt. Sie ist universal. Gültig formuliert wurden diese Werte nicht vom "Westen", sondern in der UN-Menschenrechtserklärung.

Selbstverständlich können auch Muslime diesen Schritt gehen, wie Sarrazins Gegner nun immer wieder betonen. Millionen Iraner haben in der Diaspora höchst qualifizierte Jobs. Sie haben sich bestens integriert, ohne den Gedanken an die auch vom Westen verratene Heimat aufzugeben. In Algerien verschwand die Zivilgesellschaft selbst in der finstersten Zeit der Islamisten nie völlig. Auch in Deutschland gibt es türkische Arbeiter, die ihre Töchter nicht unters Kopftuch zwingen und den lieben Gott mit einem Bierchen in der Hand einen guten Mann sein lassen.

Aber bevor Sarrazins Gegner nun triumphierend mit diesen Beispielen wedeln, sollten sie selbst ein wenig über sich nachdenken. Sie irren sich nämlich doppelt: über Sarrazins Rassismus und über den eigenen.

Sarrazin kokettiert mit eugenischen und sozialdarwinistischen Diskursen, ja, und diese Diskurse dienten zur pseudowissenschaftlichen Rechtfertigung von Rassismus. Aber was Sarrazins Gegner übersehen, ist, dass diese Diskurse keineswegs immer schon rechtsextrem waren. Es gab sie, bevor sie von den Nazis zu mörderischer Konsequenz getrieben wurden, in allen politischen Lagern. Auch die Sozialdemokraten, die ja stets eine autochthone Klientel gegen herandrängende Konkurrenten verteidigen mussten, waren nicht frei davon. Einer der Vordenker der Rassenhygiene, Alfred Grotjahn, war SPD-Politiker. Die Schweden praktizierten, auch unter Sozialdemokraten, bis in die siebziger Jahre Zwangssterilisierungen. Auch der seinerzeit überaus populäre Naturforscher Ernst Haeckel, ein Vordenker der Rassenhygiene, war kein Rechter. Sonst hätte die DDR sein Andenken nicht ehrend hoch gehalten. Der Darwinismus war ja gerade eine Lehre der Aufklärung, die gegen die bestehenden Mächte und ihren Bibelglauben ins Feld geführt wurde. Wie der Kommunismus zeigt der Sozialdarwinismus, dass auch radikalisierte Aufklärungsdiskurse, eben wenn sie die Fähigkeit zur Skepsis und Selbstrelativierung über Bord werfen, in religiösen Wahn zurückfallen können. Natürlich waren es vor allem die Nazis, die das Böse in diesen Ideen endgültig ans Licht holten. Aber die Linke sollte sich, bevor sie das Böse immer automatisch ins andere Lager abschiebt, auch mal für die Archäologie der eigenen Passionen interessieren.

Am schlimmsten aber irren die Gegner Sarrazins über sich selbst, wenn sie jetzt das Beispiel der integrierten Muslime hochhalten. Über Integrierte spricht man ja in der Regel kaum, sie stellen eben kein Problem dar. Aber dass sie nicht selten sogar als Verräter an ihrer Andersheit angesehen werden, zeigt die extrem aggressive Reaktion gerade der jetzt so Aufgeregten auf Muslime, die Kritik an ihrer Religion üben und in aller Entschiedenheit für die Integration plädieren. Idealtypisch für diesen Ärger über Kritik war die Reaktion Timothy Garton Ashs auf Ayaan Hirsi Ali. Da sie den Glauben an den Islam aufgegeben hat, repräsentiert sie für ihn - nichts. Er sieht sie - so in einem Artikel des Guardian zur Zeit der vom Perlentaucher lancierten Islamdebatte - als "Dissidentin von außerhalb" des Islams. Wer derart integriert ist, ist für die Wohlmeinenden eigentlich gar kein Muslim mehr. Statt dessen, so Garton Ash oder Ian Buruma seinerzeit, solle man sich lieber an den gemäßigten Islamisten Tariq Ramadan halten.

Hierzulande war es ja gerade die sich jetzt so vernünftig gebende Zeit, die eine Petition von Islamwissenschaftlern gegen Necla Kelek publizierte, eines der niederträchtigsten Dokumente der jüngeren intellektuellen Geschichte in Deutschland. Kelek und Hirsi Ali wurden in einer großen Koalition von Medien von der taz über Süddeutsche und FR bis zu Schreibern von FAS und FAZ als "Hasspredigerinnen", "Fanatikerinnen" oder "Fundamentalistinnen der Aufklärung" und "Heilige Kriegerinnen" beschimpft.

Aber ein bisschen was möchten doch auch sie vom Kitzel des Risikos abhaben. Ausgerechnet in dieser Woche traf sich in Potsdam die Creme der deutschen Cehferedakteure, um Kurt Westergaard einen Preis auszuhändigen - und ließen sich von Bundeskanzlerin Merkel versichern, dass auch sie für jene Meinungsfreiheit geschätzt werden, die sie seinerzeit so schmählich verrieten. Joachim Gauck hielt die Laudatio. Und Hans-Werner Kilz und Stefan Aust versanken nicht im Boden vor Scham.

Damals begründeten viele Medien den Verzicht auf ihre Freiheit mit "Respekt für Religion". Noch in diesen Tagen befürwortet Renate Künast die Entlassung Sarrazins unter anderem mit dem Argument, dass er Respekt für den Islam vermissen lasse. Aber einen solchen Verfassungsgrundsatz gibt es nicht. Religionsfreiheit ist ein individuelles, kein kollektives Recht. Und was denn nun - Respekt oder Freiheit?

Es geht wohl um den Status quo, der hier gerade von einer schwarz-grün-rot-rot-gelben Koalition inbrünstig verteidigt wird. Als Kritikerinnen verkörpern Ali und Kelek das Fundament der modernen Gesellschaften, die nur in stetiger Auseinandersetzung mit sich selbst funktionieren können. Aber Kritik gilt als ätzend und zersetzend. Auch wenn sie sachlicher und fundierter vorgetragen wird als Thilo Sarrazin es tut. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit der Berliner Jugendrichtern Kirsten Heisig. In der Presse kam sie vorzugsweise als "Richterin Gnadenlos" vor, wenn überhaupt mal über sie berichtet wurde. Erst nach ihrem Selbstmord erfuhr man, gegen was für Widerstände sie im Justizapparat kämpfen musste. Als ihr Buch "Das Ende der Geduld" herauskam, fielen die Rezensenten aus allen Wolken: Die Frau stand ja gar nicht rechts! Aber dann wurde sie schnell wieder vergessen.

Gerade den ermüdeten Repräsentanten des Status quo scheint die angebliche Wärme und Gemeinschaftlichkeit der anderen Kulturen als wünschenswertes Gegenbild, das man gerne bei einem Bio-Falafel zu den domestizierten Klängen von Weltmusik konsumiert. Es scheint den Grünen naturnäher. Es erinnert Konservative und Christenmenschen an jene Vergangenheit, als die hiesige Zeit noch von der Kirchturmsglocke reguliert wurde. Es wird gewollt, finanziert und abgesichert.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Sarrazin Kontra bekommt. Aber sein Rückgriff auf eugenisches Denken repräsentiert keine Tendenz, auch wenn es seine Gegner sehr gern so hätten, denn dann würde die Gegenwart in das verbürgte Gut-Böse-Schema einer einmal bewältigten Vergangenheit zurückfallen, und man könnte sich wenigstens im Nachhinein auf der richtigen Seite bewähren. Diesen Reflex hat Sarrazin ausgelöst. Er kommt aus dem gleichen Schuldkomplex, aus dem heraus seine Kritiker das vorgestellte Bild von der Andersheit der Muslime als narzisstischen Spiegel der eigenen Toleranz hegen und pflegen. Pascal Bruckner nannte das in der Perlentaucher-Debatte vor drei Jahren den "Rassismus der Antirassisten".

Thierry Chervel

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