Im Kino

Alternativhistorisch

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
13.04.2011. Mark Romaneks Verfilmung von Kazuo Ishiguros Roman "Alles, was wir geben mussten" mit Keira Knightley und Carey Mulligan setzt auf die ganz große Gefühlsproduktion: Klone sind wie wir! Greg Mottolas "Paul" hat alle Ingredienzien für entspanntes Nerd-Kino: Buddies, Kiffer, Aliens.


Kazuo Ishiguros Roman "Alles, was wir geben mussten", den Mark Romanek hier verfilmt hat, ist eine alternative Sozialfantasie. Angesiedelt in einer Vergangenheit - von den sechzigern bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts -, die sich nicht, wie alternativhistorisch üblich, durch einen politisch anderen Geschichtsverlauf von der Wirklichkeit, die wir kennen, unterscheidet. Was anders ist, ist eine Praxis, der allerdings eine wissenschaftsfiktive Erfindung vorausliegen muss: das Klonen von Menschen. Zu technischen Details erfährt man bei Ishiguro wie Romanek nichts. Mehr noch, wie so vieles bleiben diese Voraussetzungen implizit, man kann auf sie beinahe nur aus der wie selbstverständlich durchs Handeln und Reden der Figuren etablierten Welt schließen.

Menschen, das ist die Praxis, um die Roman wie Film sich drehen, werden geklont zu einem sehr speziellen Ende: sie dienen als lebende (fühlende, leidende, kurzum: wahrhaftes Menschsein demonstrierende) Ersatzteillager für lebenswichtige Organe. Sobald sie erwachsen sind, werden ihnen ein, zwei, drei Organe entnommen, nach dreien ist meist Schluss, das überleben sie nicht - oder, in der Sprache des Buchs und Films: sie sind "completed", also: vollendet. Ein Euphemismus, bei dem die Vorsilbe die Wahrheit verdreht: "depleted", also: erschöpft, entleert, ausgebeutet müsste das heißen. Diese Menschen als Klone sind Spender und heißen auch so. Eine Sonderfunktion haben die "Betreuer". Sie kümmern sich in einer einige Jahre dauernden Phase um die "Spender" auf ihrem schwierigen Weg, bevor sie dann selbst zu spenden beginnen.

"Alles, was wir geben mussten" ist eine biopolitische Dystopie, die auf wesentliche Elemente des Genres auf interessante, aber sicher nicht unproblematisch Weise verzichtet. Der weitere Rahmen bleibt weitgehend offen: Wie eine zivilisierte Gesellschaft aussehen muss, die Menschen - und sei es als Klone - ihrer Lebenssinnautonomie beraubt und sie strikt zum Wohle anderer, wertvoller Menschen funktionalisiert und damit auf einen Nutz- und Objektstatus reduziert: diese Frage, und die darin implizierte danach, wie ähnlich unsere Gesellschaft in ihrer kapitalistischen Logik einer solchen bereits ist, stellt der Film nie. Vielmehr verdeckt er diese Frage durch humanistisches Sentiment: Auch Klone sind Menschen, seht, was sie leiden. Oder, in der existenzphilosophischen Umkehrung: Die Klone sind im Grunde wie wir: Erkennen wir in ihren so begrenzten, der Ausbeutung geweihten und dem Tod alternativlos anheimgegebenen Leben die endlichen unseren wieder.



Überführt wird all das in die biografiegeleitete narrative Normalform. Vom Lebensweg dreier Spender erzählt im mehrfachen Zeitsprung das Buch. Ruth, Kathy und Tom sind das Trio, das für die Zwecke des Spielfilms als sich verschiebendes Liebesdreieck erzählökonomisch mobil gemacht wird. Drei der größten kommenden bzw. schon existierenden Jungstars des gegenwärtigen Kinos hat Romanek hier gecastet: die patent-seelenvolle Grübchenhübsche Carey Mulligan (honi soit wer an die junge Maria Schell denkt) als Kathy; dürr-eckig-bleich-kühl und model-schön, aber als Darstellerin außerhalb ihrer Coolness-Comfortzone schnell arg forciert: Keira Knightley als Ruth; an Seele und Körper bei aller jungenhaften Attraktivität allzeit zerknautschbar: der künftige Spiderman Andrew Garfield als Tom.

Kathy liebt Tom. Der liebt sie eigentlich auch, jedoch drängt sich als erotisches Raubtier die gemeinsame Freundin Ruth zwischen sie und beschläft den sichtlich widerwilligen Tom. Aufgeschoben in ein manches korrigierende Nachspiel (zu spät, fast zu spät) bleibt das Geständnis der Liebe zwischen Kathy und Tom. Die Kindheitsphase im Spender-Internat Halsham nähert sich da bereits ihrem Ende. Zuvor wird, mit Kinderdarstellern noch, die Situation etabliert. In Halsham werden die Spender für ihr späteres Leben präpariert und mit Anekdoten des Schreckens an Ausbruchsversuchen gehindert. Der einzige Traum, der ihnen bleibt, kristallisiert im Gerücht eines im Fall großer Liebe möglichen Aufschubs. An der Spitze des Internats hält als Souveränin ihrer selbst und ihrer Untergebenen die von Charlotte Rampling gespielte Schulleiterin den Laden zusammen.



Was immer der Roman an Wahrheiten, Tiefen und subtilen Unheimlichkeiten besessen haben mag: Mark Romanek und sein Drehbuchautor Alex Garland surfen obenhin auf den sorgfältig ausgewählten Untiefen dieser Geschichte. Sie spitzen sie wieder und wieder und von Anfang an zu auf eine Liebestragödie mit glücklich-unglücklichem Ende. Das biopolitische Szenario wird zum Hintergrund für ein Melodram, das die biopolitischen Aspekte zur großen Gefühlsproduktion durch starke Begrenzung der Glücksmöglichkeiten ausbeutet. (Und, ja, natürlich gibt es da eine Parallele: Auch Geschichtenerzähler können Figuren ihre Autonomie lassen oder eben zum Zwecke des Aufwühlens der Zuschauerherzen mobilisieren.)

Die Langsamkeit der Inszenierung ist Chiffre für tiefe Nachdenklichkeit, jedoch platzt sehr verlässlich mit brutal süßsauren Streichern, gelegentlich klavierklimpergestützt, Rachel Portmans Filmmusik so dazwischen, dass niemals ein emotionaler oder gar intellektueller Freiraum entsteht. Auch fliegt, etwa in Gestalt der Vögel am Himmel, das eine oder andere Symbol der Unfreiheit durch die Bilder. Mark Romanek, dessen Geschäft das Musikvideo ist, produziert hier grundsätzlich nur Ersatz-Formen und Behauptungen wahrer Empfindung. Das Falsche des Melodrams wird ihm nicht in der Sirk- bzw. Sirk-a-la-Fassbinder-Tradition Mittel zur Darstellung tatsächlicher Verhältnisse. Umgekehrt vielmehr zwingt er das Wirkliche ins melodramatische Falsche und glaubt sich auf der Seite der Freiheit, wo er selbst immer nur Unfreiheit produziert.

Ekkehard Knörer


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Dass nicht viel mit ihnen los ist, kann man schon an ihren Namen ablesen. Die Briten Greame Willy und Clive Gollings sind außerdem notorische Comicfans, tragen uncoole Frisuren und noch uncoolere T-Shirts. Folgerichtigerweise führt sie ihr US-Trip zuerst auf die Comic-Con nach San Diego und anschließend in die Nähe der popkulturell wie verschwörungstheoretisch vorbelasteten Militärbasis Area 51, wo es der CIA schon seit Jahrzehnten gelingt, Experimente an außerirdischen Lebensformen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nach ein paar wenig erfreulichen Erlebnissen in lokalen Gaststätten gabeln die beiden ein schlacksiges, grau leuchtendes Wesen mit überdimensioniertem Kopf auf, das sich als Paul vorstellt und in der amerikanischen Originalfassung die Stimme von Seth Rogen besitzt. (Nebenbei bemerkt: Wenn überhaupt, dann sollte man sich "Paul" in dieser Originalfassung ansehen, denn die Art und Weise, wie Seth Rogen sich die Titelfigur nicht nur völlig zu eigen macht, sondern regelrecht durch sie hindurchscheint, an allen Ecken und Enden über sie hinausragt, ist mit Abstand das Interessanteste am Film.)

Paul, eine offensichtlich lebensfrohe Kreatur und auch dem Konsum bewusststeinserweiternden Substanzen nicht abgeneigt, ist der behördlichen Aufsicht entflohen. Den restlichen Film verbringen er und seine beiden menschlichen Kumpels damit, vor einer Horde tumber Polizisten und Rednecks zu fliehen. Auf dem Weg schnappen sie noch Ruth Buggs (Kristen Wiig) auf, eine christliche Fundamentalistin, die beim Anblick Pauls vom Glauben abfällt und die daraus resultierende geistige Freiheit zumindest verbal ausgiebig auskostet ("Fuck-a-roo, that was the best titty-farting sleep I have ever had.")



Kifferhumor und X-Files-Zitate, eine ebenso aufdringliche wie verklemmte Bromance (Greame und Clive werden alle fünf Minuten für ein Pärchen verkannt) und harmloser Polizistenslapstick. So recht passt das alles nicht zusammen und zwar umso weniger, je länger die Verfolgungsjagd dauert und je mehr Figuren sich an ihr beteiligen. Was auch daran liegen mag, dass das beteiligte Personal untereinander nicht wirklich kompatibel erscheint. Die beiden Hauptdarsteller Simon Pegg und Nick Frost sind durch ihre Kollaborationen mit dem britischen Tarantino-Kumpel Edgar Wright in dessen hektischen, stets etwas allzu smarten, mit popkulturellen Referenzen überfrachteten Genreparodien "Shawn of the Dead" und "Hot Fuzz" bekannt geworden. Regisseur Greg Mottola dagegen legte zuletzt zwei wunderbar klassische, einander komplementäre Jungendfilme vor: den rauhbeinigen "Superbad" und den eleganten, zurückgenommenen "Adventureland"; zwei Filme, in denen das Älterwerden mit einer sehr grundlegenden Skepsis über die Welt und die eigene Zukunft begleitet ist.

Was Mottola aber an dieser Alienklamotte interessiert haben könnte, bleibt über weite Strecken unklar. In seinen besten Momenten - nämlich immer dann, wenn sich der Film ganz auf seine Titelfigur und dessen Interventionen in die in Routine festgefahrene Freundschaft seiner beiden Begleiter konzentriert - ist "Paul" zwar völlig unambitioniertes, aber immerhin entspanntes Nerd-Kino. Viel öfter jedoch erinnert der Film darin, wie er mangelnde Inspiration in der offenen Form des Roadmovies zu kaschieren sucht, an die inkonsequenten Buddy-Kiffer-Filme der Achtziger und Neunziger im Gefolge von "Cheech & Chong's Up in Smoke". Die sehen heute allesamt so aus, als seien sie von Anfang an eigens fürs Sonntagvormittagprogamm deutscher Privatsender gedreht worden. Und auch "Paul" wird wohl genau dort in nicht allzu langer Zeit gut aufgehoben sein.

Lukas Foerster

"Alles, was wir geben mussten". Regie: Mark Romanek - Darsteller: Keira Knightley, Carey Mulligan, Andrew Garfield, Sally Hawkins, Charlotte Rampling, Nathalie Richard - Großbritannien / USA 2010 - Länge: 105 min.

"Paul - Ein Alien auf der Flucht". Regie: Greg Mottola - Darsteller: Simon Pegg, Nick Frost, Kristen Wiig, Jason Bateman, Jane Lynch, (Stimme Paul) Bela B. - Großbritannien / Frankreich / USA / Spanien 2010 - Länge: 103 min.