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Vier politische Variationen auf Jorge Luis Borges

Von Rüdiger Wischenbart
25.09.2009. Fast alle der großen alten Bibliotheken wurden zerstört - aber nicht durch neue Formen und Technologien des Wissens, sondern durch politische Macht
(Wir dokumentierten eine Rede die Rüdiger Wischenbart zum österreichischen Bibliothekarstag 2009 Gehalten hat. D.Red.)

1.

"Das Universum (das andere die Bibliothek nennen)", heißt es bei Jorge Luis Borges. "Das Universum, das andere die Bibliothek nennen" - und nicht umgekehrt: die Bibliothek als Universum -, diese freche Volte bringt uns augenblicklich in Startposition für eine Erkundung dessen, was wir in Bibliotheken suchen mögen, wenn heute, so hört man es doch allerorten, Informationen und Wissen den Raum einfach durchdringen, bis zur Allgegenwart und zur vermeintlichen Auflösung der Orte für dieses Wissen.

Borges, der vor fast genau 110 Jahren in Buenos Aires geboren wurde und als ein Verfasser so genannter 'phantastischer' Erzählungen gilt, also ein Ahnherr eines heute gerade wieder sehr populären Genres, hat ausgerechnet in seinen "Ficciones" aus den 1940er Jahren, mit der ihm eigenen Kunst, möglichst niemals zum Punkt zu kommen, dieses Universum der Bibliothek als einen konkreten, wenngleich seltsamen - eben fiktionalen - Ort beschrieben. "Das Universum (das andere die Bibliothek nennen)", schreibt Borges, "setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind." Bei Borges erfahren wir sehr rasch, neben der sechseckigen verschachtelten Architektur, wie sehr Bibliotheken eigentümliche Veranstaltungen sind. Nicht notwendiger Maßen Orte - denn Ort sind selten unendlich - sondern verschachtelte Projektionen mit widersprüchlichen Eigenschaften.

So sehr Bibliotheken als Einrichtungen und Symbole Ansehen und Aufmerksamkeit genießen, erscheinen sie gleichwohl vielen auch als etwas Furchteinflößendes oder, wenn wir bei Borges bleiben, etwas Ungeheuerliches.

Denn wenn wir uns von diesem Universum, in dem wir leben, und dem wir folglich ausgeliefert sind, eine Vorstellung machen wollen, beginnen wir notwendigerweise zu lesen. Die Bibliothek ist der Ort, an dem unterstellt wird, wir könnten dieses Universum ordnen. Dazu erfinden wir dann eben unendlich verschachtelte Sechsecke mit gefährlich niedrigen Brüstungen, aber auch, etwas pragmatischer, Wissensbäumchen und Wissens-Hierarchien, Indices und Kataloge, sowie Regalsysteme, Tiefspeicher und Bibliothekarsverbände, Ausleihordnungen und Öffnungszeiten.

Aber die Kluft, einmal geöffnet und bei Jorge Luis Borges in ihrer abgründigen Tiefe erahnt, bleibt: Bibliotheken sind Zwischenräume, die einerseits Ordnung schaffen für und rund ums Wissen, und andererseits schwindelerregend sind, weil wir recht schnell erfassen, dass jedes Buch, das auf ein andres verweist, jeder Autor, der auch andere Autoren gelesen hat, und jeder Leser, der mehr als nur ein einziges Buch liest, uns in endlose und wohl auch unendliche Verknüpfungen entführt, die rasch an jeder stabilen Ordnung rütteln und hinter jeder Gewissheit drei neue Fragen, vier neue Verknüpfungen und fünf neue Probleme aufwerfen. Deshalb säubern frisch antretende Diktaturen auch so gerne Bibliotheken, oder sinnen selbst die Bürokraten in demokratischen Systemen, ab und an, darüber nach, was man alles über die Bürger erfahren könnte, wenn man nur gründlich erfassen und aufzeichnen wollte, was diese in den Bibliotheken ausborgen und lesen.

So wechseln wir an dieser Stelle, unversehens, und vielleicht etwas brüsk, von der Literatur und Philosophie, zur Politik.


2.

Politik produziert, anders als Literatur, häufig knappe, zugespitze Formeln um zu umreißen, worum es politisch geht. Zum Beispiel diese: "Wissen ist Macht".

Die moderne europäische Bibliothek ist, vor rund 1000 Jahren, in den französischen Klöstern des Mittelalters erfunden worden. In wunderbaren Geschichten wie Umberto Ecos "Il nome de la rosa" und in touristischen Führungen wird uns heute noch nahe gebracht, wie Mönche in akribischer Feinarbeit, und zugleich mit dem Feuer des innovativen Geistes die Welt der Gedanken erschlossen und, gegen alle Kräfte des Beharrens, das Licht der Ideen entfacht haben als ein Leuchtfeuer für neugierige Menschen. Diese Erneuerung - das ist der Kern unseres Mythos von den erleuchteten Mönchen, den Schreibenden - ist, dass sie die jeweils erstarrte Macht mit ihrem Wissen herausgefordert haben!

Vieles, was diese Mönche und ihre - kirchlichen oder weltlichen - Gebieter unternahmen, griff auf geradezu übermächtige Vorbilder zurück, und zwar nicht nur solche aus der kaum noch fassbaren Antike, sondern, damals ganz gegenwärtig, auf das islamische Iberien, also auf - in heutiger Betrachtung - europäischen Boden. Die damals, um das Jahr 1000, wohl bei weitem größte Bibliothek war jene in Cordoba, mit angeblich um die 2 Millionen Bänden. Die Bibliothek der Mönche von Cluny umfasste dem gegenüber gerade ein paar tausend Bücher.

Hier ist das Problem: Warum habe ich in all meinen Geschichtsbüchern wie auch bei einer einigermaßen soliden Recherche, die ich schon seit ein paar Jahren betreibe, nur wenige Bruchstücke finden können, die mir erläutern, wie und mit welchen Hebeln vor 1000 Jahren ein paar verschworene Gangs von weitgehend selbsternannten Informationsjunkies in einem ungebeten aufstrebenden Newcomer Staat, der später "Frankreich" heißen sollte, sich damals aufschwingen konnten, um eine neue - nein, nicht Weltordnung, sondern eine neue Ordnung und Klassifizierung des Universums - zu etablieren?
Es ist eine Trivialität in Erinnerung zu rufen, dass solche Organisationsbemühungen rund ums Wissen stets eine harte Konfrontation mit den jeweils Mächtigen - und ein ebenso energisches wie gewitztes Durchsetzen der eigenen Autonomie gegenüber diesen Machthabern - bedeutet hat.

Was mich dabei besonders interessiert, ist zweierlei: Die Geschichte der Organisation des Wissens - also die Ordnung des Universums, das wir Bibliothek nennen - ist wieder und immer wieder eine Geschichte der Brüche und der Revolutionen gewesen. Und an den Rändern dieser Brüche kam es jeweils zu in ihrer Struktur und in ihren anekdotischen Ereignissen verblüffend, ja geradezu lachhaft ähnlichen Verwerfungen zwischen denen, die jeweils das alte Wissensregime bewahren wollten - und den Erneuerern, die stets auf ähnliche, rituelle Weise als Vernichter der Tradition, der Kultur und des Wissens vorgeführt wurden.

Schon Plato berichtet im Phaidron, Sokrates zitierend, vom Verfall, der zu seiner Zeit, also vor 2500 Jahren, durch die damalige Medienrevolution eingetreten sei, nämlich durch die Verschriftlichung der mündlich vorgetragenen Reden und Gesänge! Vor 500 Jahren vernichtete die Explosion der Bücher im Gefolge der Druckerpresse und des Verlagswesens die mönchischen Traditionen und Werte der mutigen Schreibenden. Die Flut der Romane im späten 18. Jahrhundert verdarb die jungen - sich bildenden - Fräuleins. Das Fernsehen verdarb die Bildung, und das Internet verdirbt nun angeblich die Literatur.

Die Durchsetzung neuer Medien bringt die Zerstörung alter Ordnungen - Wissensordnungen wie politischer Ordnungen -, stellt Alte und Neue einander in scheinbar unversöhnlicher, unauflösbarer Weise gegenüber. Die Debatte um die Organisation des Wissens ist nur eine der vielen Verkleidungen für die Auseinandersetzung um die definitorische Macht, also darum, wer das Sagen hat im Universum.


3.

Sie haben gewiss längst bemerkt, dass ich von Informationstechnologien, also von Google und Amazon, von Urheberrecht und von aktueller Buchpolitik spreche. Doch habe ich, um zum Thema zu kommen, scheinbar einen Umweg gewählt. Das wirklich Verblüffende an der aktuellen Debatte um den jüngsten revolutionären Bruch in der nunmehr wenigstens zweieinhalb Jahrtausende zurück reichenden Geschichte um das Wort und seine mediale Vermittlung und um die Organisation des Wissens ist, dass kaum jemals ausgesprochen wird, worum es geht.

Es geht, ohne zu fackeln, um die künftige Verfügungsmacht über große Wissensbestände, und um die sie definierenden Spielregeln. Es geht damit um Besitzstände und um deren Veränderung, und es geht darum, welche Mittel - welche Medien und welche Technologien - wie geformt werden, um dies zu bewerkstelligen. Es geht um die Zugänge zu Wissen und um die Kontrolle dieser Zugänge. Und damit geht es um die Aufgaben und um die künftigen Ziele aller Personen und Organisationen, die an diesen Zugängen tätig sind.

Womit wir wieder bei den Bibliotheken und bei den Bibliothekaren - bei Ihnen - angelangt sind.

Um die Bibliotheken mache ich mir keine ernsthaften Sorgen. Bei den Bibliothekaren bin ich mir dagegen nicht so sicher. Aber das hat nichts, absolut nichts mit der Metaphysik der Bibliotheken zu tun -, und auch nicht mit den Revolutionen bei den Informationstechnologien oder irgendwelchen medialen Aporien. Das sind Ausreden. Es geht viel mehr, um bei Borges zu bleiben, in gewissem Sinn um die niedrigen Brüstungen.

Jede Medienrevolution führt die Neuen als die Vernichter des Alten vor, so als gelte es, das eine durch das andre zu ersetzen, während doch genau dieses niemals stattfindet: Die jeweils neuen Medien ersetzen nicht die alten, sondern eröffnen neue Räume. Dabei gilt es jedoch, das alte Wissen nicht zu vernichten - was jedoch allzu oft geschah. Das aber hat, wie gesagt, nichts mit Technologie, sondern mit Macht und Herrschaftsgewalt zu tun.

Fast alle der großen alten Bibliotheken wurden zerstört, die von Cordoba, Alexandrien, und auch die von China, als sie der große Erneuerer des chinesischen Wissens und erste moderne Kaiser, Qi Shi Huang Ti - rund 3 Jahrhunderte nach Plato - verbrennen ließ! Es waren gezielt Akte der Machtdemonstration, denen diese Bibliotheken zum Opfer fielen, nicht Medienbrüche oder Innovation.
Aber das ist nicht die Bedrohung für die Bibliothekare heute. Warum wird - in absurder Weise gerade im Augenblick der aktuellen Wissensrevolution - ausgerechnet bei den öffentlichen Ausgaben für Bibliotheken gespart? Weil hier zwei Konzepte fälschlicherweise gegeneinander gehalten werden - und weil zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten aufeinanderprallen.

Die aktuelle Revolution des Wissens und der Wissensmedien bedroht nicht unser Wissen, ganz im Gegenteil. Unter die Räder zu kommen droht die Vermittlung des Wissens, die heutige mönchische Arbeit in den unendlichen sechseckigen Galerien mit den niedrigen Geländern, die Weitergabe, nicht durch Abschreiben, sondern durch die alltägliche Erschließung und durch die Notwendigkeit, dass Bibliothekare ihr Wissen um die Zugänge zum Wissen weitergeben.

Die wirkliche Konfrontation heute, denke ich, geht nicht um Google oder Amazon, um Industrie-Monopole oder Urheberrecht, wie uns die Schlagzeilen in - im Übrigen eher alten - Medien glauben machen wollen.

Die aktuell größten Fragen sind vielmehr: Wer betreut die Schulbibliothek? Wer finanziert die Bibliothekszugänge - auch über Computer und Internet - an allen Schulstufen, über die unsere Kinder und Jugendlichen wissensmächtig werden? Und wer gewährleistet und finanziert, dass auch Neuankommende, also etwa sogenannte Ausländer - Immigranten und vorübergehende Bürgerinnen und Bürger - diesen Zugang offen finden?

Wer finanziert die Vielfalt von bibliothekarischen Einrichtungen, von Gemeinden über Länder bis zu den großen Forschungseinrichtungen, und die teure Balance zwischen Bestandserschließung, Fortführung der Sammeltätigkeit, und Erforschung der Bestände? Das sind teure Unterfangen, auf denen allerdings die Wissensgesellschaft wie auch die Demokratie heute beruhen.

Und wer garantiert und, in immer häufigeren Fällen: Wer verteidigt die Freiheit der Zugänge zum Wissen - und bewahrt uns vor Verfahren, die die Informationsfreiheit mit immer neuen Argumenten auszuhöhlen versuchen. Man prangert an, wenn diktatorische Regime immer raffiniertere Filtertechnologien einführen, um unbequeme Wissensquellen auszublenden. Doch wünschen sich plötzlich auch unsere staatlichen Einrichtungen immer öfter und immer leichtfertiger, genau diese selben Filter hier einzusetzen, um heute gegen Kinderpornographie, und morgen gegen schlicht unangepasste Wissensquellen vorzugehen.


4.

Wir haben, mit Jorge Luis Borges, bei geradezu exotischen Gedanken über Bibliotheksuniversen begonnen und liefen beinahe Gefahr, darüber den Alltag aus dem Blick zu verlieren - und landeten doch, nach nur vermeintlichen Umwegen, schnurstracks im Getümmel der aktuellen Kontroversen.

Bei allem Verständnis für die Bedeutung der akuten Erregung ums Digitale, welche gerade in diesen Tagen und Wochen Schlagzeilen macht - mit Stichworten wie Digitalisieren, Urheberrechte, die Rolle der wichtigsten Akteure, als die der Autoren, Verlage, neuen Nutzer und Mittler, und damit auch der Bibliotheken - scheint mir umso wichtiger, immer aufs Neue nüchtern zu fragen: Worum geht es eigentlich?

Für Bibliotheken wird es wichtig sein, die eigene Rolle sorgsam zu überdenken - ohne die Hybris, sich zum allmächtigen Gateway des Wissens zu erklären, und ohne in die Depression zu verfallen, überflüssig zu werden, weil Wissen allgegenwärtig würde, wie das Sein oder der Atem Gottes.

Hilfreicher ist es da wohl, die Kosten zu überschlagen, um eine ordentliche Schulbibliothek am Laufen zu erhalten, oder unaufgeregt die Digitalisierung nicht nur einiger Spezialkataloge voranzutreiben, und - hier ist dann endlich das Wort "Phantasie" angebracht - zu überlegen, wie die Rechnungen dafür bezahlt werden könnten.
Womit wir, vielleicht ein wenig überraschend, wieder bei Jorge Luis Borges angelangt sind.

Neben der Erzählung über die Bibliothek von Babel, aus der das Zitat eingangs mit dem Universum stammt, hat Borges, ebenfalls in den 1940er Jahren, noch eine zweite, eine ganz andere Metapher für unser Thema erschaffen.

Ich denke, in keiner seiner notorisch mäandernden, unverschämt nicht zum Ziel kommenden Erzählungen hat Borges sein den Leser an der Nase herumführendes Prinzip so brutal angewandt wie in diesem Text. Man liest, und merkt nur, dass man keine Ahnung hat, worum es geht - ganz wie in weiten Teilen der aktuellen Debatte um die Zukunft des Wissens und der digitalen Medien. Bis Borges uns endlich enthüllt: Sein Thema ist nichts weniger als das Aleph, also ein Ort in diesem Universum, an dem man, wie durch ein Guckloch, Einblick in alles Geschehen - in "alle Orte der Welt" - bekommt. Sie verstehen mich? Alles.

Borges' Aleph ist gerade zwei oder drei Zentimeter klein, und befindet sich auf einer wirklich unscheinbaren Treppe "im Keller unter dem Speisezimmer". So unscheinbar es ist, es funktioniert perfekt. Alles ist da. Das Problem ist bloß, dass das Haus mitsamt Speisezimmer, Kellertreppe und somit auch dem Aleph ein paar Monate später weggerissen worden ist. Das war wahrlich dumm gelaufen, und niemand hatte dem Vorgang - oder auch dem Aleph - irgendeine Bedeutung beigemessen.

"Das Universum (das andere die Bibliothek nennen)" sollte nicht das Schicksal des Aleph ereilen. Es sollte nicht, aus Einsparungsgründen, oder weil man - wer eigentlich? - hofft, dass Zugänge zum Wissen ohnedies immer bestehen würden, weggerissen werden, weil Platz für einen neuen Informationsparkplatz oder was auch sonst noch benötigt wird.

Um dies zu vermeiden, gilt es wohl einfach, die ganze Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen und dafür zu sorgen, dass der Ort alles Wissens, das Aleph, also die Bibliothek, nicht irgendwo unter der Kellertreppe schlummert und nur von Eingeweihten aufgesucht werden darf.

Der Grund für die Bibliothek, für die verschachtelten Räume, und für unser Universum des Wissens sind nämlich - und da widerspreche ich wohl dem Meister der Verschachtelungen aus Buenos Aires - der Grund für uns, hier über Bibliotheken zu sprechen sind die Leser.
Die Lesenden sind mündig, und damit selbstbewusst wie auch launisch geworden. Es reicht ihnen nicht mehr aus, zu wissen, welch großartige Bibliotheken es prinzipiell gibt. Sie wollen sich nicht mehr gängeln lassen und um Zugänge zum Wissen buhlen, sich ausweisen, gar qualifizieren müssen und einsehen, dass diese oder jene Abteilung ihnen verschlossen bleibt.

Das ist zuerst ein direktes Erbe der Aufklärung, und dann auch ein Resultat von Demokratie und Massengesellschaft, also etwa des amerikanischem "First Amendment", also dem Verfassungszusatz, der das Recht auf Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen festschreibt - und diese Bestimmung gilt, ihrem Geiste nach, selbstverständlich längst auch in Europa. Zudem finden wir hier auch ein weiteres Beispiel für das nun schon geläufige Muster der vielfältigen Konfrontationen zwischen Altem und Neuem: Sind Wissen und Bücher eine beschränkte - knappe - Ressource, also ein Privileg, oder ist der Zugang ein Anrecht aller in offenen Gesellschaften? Mehr noch, und erst hier setzt wieder die Wirkungsmacht der technologisch getriebenen Wissensrevolution ein: Müssen die Lesenden zu den Büchern pilgern - oder kehren sich die Verhältnisse um?

Vermutlich besteht die eigentliche Provokation des aktuellen Umbruchs nämlich nicht in den digitalen Technologien, sondern in diesem Umsturz der Verhältnisse: Die digitale Revolution bringt die Bücher - das Universum - direkt in die Tasche der Lesenden, so wie sie schon zuvor die Musik direkt in deren Ohren gebeamt hat. Sie trivialisiert den Zugang zum Wissen, der früher nur ein Vorrecht weniger Eingeweihter war. Und das ist gut so!

Das aber ist das genaue Gegenteil von Borges' Aleph unter der Kellertreppe: Kein Ort, der aus Versehen oder Missachtung weggerissen werden kann, sondern tatsächlich ein Universum, das wir mit Fug und Recht auch eine Bibliothek nennen können.
So verändert sich vieles - jedoch nicht das eigentliche Wesen der Bibliothek, also die - symbolisch - ineinander verschachtelten sechseckigen Räume und die niedrigen Brüstungen, wo das Wissen weniger gelagert, als aufbereitet, organisiert, und zugänglich gemacht werden muss.

Hier neuerlich Dienst am Wissen und an den Lesenden zu organisieren, das ist gewiss eine große Aufgabe, aber aus Ihrer Sicht wohl sehr vertrautes Terrain. Verteidigen Sie deshalb Ihre Autonomie wie jene der alten Klöster, organisieren Sie ihre Häuser so gut wie damals in Cluny, seien Sie wach und der Zukunft und den immer neuen Verwandlungen zugewandt, verteidigen Sie den freien Zugang zum Wissen, für das Sie einstehen. Beharren Sie also bitte auf ihrem Terrain - und lassen Sie sich nicht, unter welcher Parole auch immer, für die Schlachten anderer einspannen.

Als Leser hoffe ich auf Sie, und ich bin guten Mutes, dass Ihnen dies auch diesmal wieder gut gelingt.

Rüdiger Wischenbart