Im Kino

Leerer Gegensinn

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
23.01.2008. Zwei deutsche Dokumentarfilme: Volker Koepp begibt sich mit "Holunderblüte" ein weiteres Mal nach Kaliningrad und trifft auf Kinder, die ihr Glück suchen. In Marcel Wehns "Von einem der auszog" sieht man: Wim Wenders brütet, Wim Wenders erinnert sich, Wim Wenders führt Super-Acht-Filme vor von Familienspaziergängen mit seinen Eltern.
Das taubstumme Mädchen, eines von vielen Geschwistern, malt mit Wasserfarben Landschaften. Die Welt, in der sie lebt, zu allen Jahreszeiten. Mit dem Blick auf das malende Mädchen, das nicht spricht, eröffnet Volker Koepp seinen jüngsten Film "Holunderblüte". Er ist ein weiteres Mal nach Ostpreußen gefahren, in den Regierungsbezirk Kaliningrad, in ein Dorf unweit von Sowetsk, dem früheren Tilsit. Tilsit ist die Geburtsstadt des großen Dichters Johannes Bobrowski, dem im Jahr 1972 schon Koepps zweiter Film "Grüße aus Sarmatien" gewidmet war. Einmal verlässt "Holunderblüte" das verfallende Dorf, zeigt wie in Sowetsk ein Elch-Denkmal enthüllt wird. Daneben steht ungerührt und unberührt und als wäre nichts gewesen eine Lenin-Statue. Der sowjetische Lenin, der ostpreußische Elch, der tote deutsche Dichter Bobrowski und die russischen Kinder von heute: das kommt zusammen, wenn Volker Koepp hinschaut.

Das malende Mädchen stellt er an den Beginn, denn sie ist ihm eine Wahlverwandte. Auch der Filmemacher Volker Koepp erschließt Lebensräume über die Landschaft. Nicht das Gesellschaftliche interessiert ihn in seinem Funktionieren, sondern der Mensch in seiner Geschichte. Der Mensch ist für Koepp das aus der Geschichte heraus- und in die Gegenwart hineinragende Wesen. Die Geschichte in ihrem Vergehen als das Aufeinanderfolgen von Generationen fasziniert Koepp. Individuen erscheinen in seinen Filmen darum immer als Stellvertreter und als hineingestellt in die Geschichte von Generationen. Umso eigentümlicher das Schicksal der Kinder, die der Regisseur in "Holunderblüte" beim Spielen zeigt und in die Kamera sprechen, vielmehr erzählen lässt.

Das Dorf nämlich, in dem sie leben, es stirbt. Das zeigen die Bilder von verlassenen, überwucherten Häusern, von Ruinen und Provisorien. Und davon erzählen die Kinder, wenn sie sich über die Trunksucht beklagen, die die Erwachsenen, die noch hier leben, fast ausnahmslos befällt. Die Lebenserwartung ist gering, Zukunftsaussichten gibt es kaum. Vom Glück sprechen nur die Kinder. Dass sie es wollen, das wissen sie. Wie sie es bekommen, das ist nicht immer klar. Bereits Schiffbruch erlitten hat ein Mädchen, das achtzehn ist und in einer Wiese sitzt und von einem schweren Verkehrsunfall erzählt, der sie zur Invaliden gemacht hat. Einmal kann sie nicht weitererzählen, schlägt die Arme vors Gesicht. Wir sehen die Wiese, Gras, Natur, dann sind wir wieder bei ihr. Der Rhythmus der Bilder schmiegt sich den Menschen an, die sie zeigen.

Rhythmen sind wichtig in Koepps sorgfältig, aber nie streng komponierten Filmen. Es ist, als atmeten sie ein und dann wieder aus. Und wenn sie beim Einatmen Worte, Gesichter, Erzählungen und damit Sinn und Bedeutung in sich aufnehmen, so ist als leerer Gegensinn das sich nicht aufdrängende Dasein der Natur und des Himmels nicht minder wichtig. In den Bildern der Landschaft, in den Wolken, die ziehen, den Blättern, die rauschen, in diesen Bildern, die das Tun und Sprechen der Menschen umfangen, atmet die Geschichte mal für mal aus. Aus einem Gedicht des Naturdichters Johannes Bobrowski liest Koepp, die Notwendigkeit dieses Ausatmens sanft unterstreichend, ohne jedes Pathos gegen Ende des Films selbst.

Sparsam ist insgesamt sein Kommentar, der nur das nötigste, die historischen Sachverhalte und gelegentlich etwas über die Gegenwart, erläutert. Ein weiteres Element kommt für diesmal, recht früh im Film, hinzu. Fritzi Haberlandt liest als Voiceover einen Auszug aus Hans Christian Andersens Märchen "Mutter Holunder", in dem sich ein Flug durch die Jahreszeiten und über die Landschaft und durch das Leben und damit das Werden und Vergehen auf engem Raum fantastisch verschränken: "Und es war Frühling und es wurde Sommer und es war Herbst und es wurde Winter und in den Augen und in dem Herzen des Knaben spiegelten sich Tausende von Bildern und immer sang ihm das kleine Mädchen vor: Das wirst Du nie vergessen!'" In dieser Passage sind die Motive des Films präfiguriert und umspielt. Ganz unaufdringlich ist die kompositorische Raffinesse des Volker Koepp, und nicht zuletzt darin liegt die Großartigkeit seiner Filme.

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Ein Dokumentarfilm wie das Wim-Wenders-Porträt "Von einem der auszog" ist im Vergleich mit Koepps Film wirklich die reine Gebrauchsliteratur. Strikt genommen sowieso ein Unding der ärgerlichen Art: eine hagiografische Annäherung an die Person Wim Wenders, der Versuch, aus dem Biografischen dessen Filme, das Frühwerk genauer gesagt, zu erklären. Es ist ein Abschlussfilm und man muss doch sehr staunen, dass sie einem auf den Filmhochschulen solche ans Sträfliche grenzenden Kurzschluss-Naivitäten bis heute offenbar nicht austreiben.

Über Wenders' Filme als Filme lernt man folglich buchstäblich nichts. Wo sich der Film und sein Gegenstand auf den erwartbarsten Gemeinplätzen herumtreiben und Plattitüden wie "Die Grundfrage ist wohl: Wie sollen wir leben?" für letzte Weisheiten halten, da zerren sie beide kolossal an den Nerven. Und Wim Wenders selbst, zur Selbstironie denkbar unbegabt und erstaunlich oft an ihr doch sich versuchend, hat, als Künstler und Mensch, seine einfach nur peinlichen Seiten. Dann insbesondere, wenn der Künstler oder sein Werk bedeutungsschwer brüten und am Ende legen sie unter viel unfreiwillig komischem Geflatter ein möchtegerngroßes Ei.

Dennoch ist "Von einem, der auszog" nicht ganz und gar uninteressant. Man lernt ein bisschen was über die sechziger Jahre, in denen Wenders als Arztsohn in kommunikativ höchst stickigen Verhältnissen aufwuchs. Es defilieren in konventioneller Dokumentations-Machart die Gesichter von Wegbegleitern vorüber. Frauen, die wichtig waren in Wenders' Leben und heute, wenngleich viel zu kurz, einen spannenden Eindruck machen. Helmut Färber, der an der Münchner Filmhochschule sein Lehrer war. Heinz Badewitz, Leiter des Hofer Festivals, der Wenders mit einem Haschkeks um ein Haar um die Ecke gebracht hätte. (Über Marcel Wehns Inszenierungseinfall an dieser Stelle schweigt des Rezensenten Höflichkeit.) Kameramann Robby Müller, mit dem Wenders sich bei "Bis ans Ende der Welt" verkracht hat und der bis heute stinkbeleidigt vor der Kamera sitzt und kein freundliches Wort über den Regisseur sagen will. Auch ist da Bruno Ganz. Außerdem sehen wir Peter Handke in seinem Garten, wo er, völlig überzeugend, den Peter Handke gibt.

Und als Weltkind in der Mitten natürlich immerzu Wender selbst. Als zentrale Inszenierungsidee fungiert ein Raum, in dem Wenders in der Luft hängende Bilder von Wegbegleitern begutachtet und sich die Geschichten, die ihn mit ihnen verbinden, aus der Nase ziehen lässt. Außerdem Wenders auf Location-Suche für einen neuen Film, unterwegs an einen Ort namens Himmelreich, der ihn, ist er einmal da, bitter enttäuscht. Wenders brütet, Wenders erinnert sich, Wenders führt Super-Acht-Filme vor von Familienspaziergängen mit seinen Eltern und von seinem Bruder, der unter dem Weihnachtsbaum geigt. Das ist und bleibt das Reflexionsniveau dieses Films. Gebrauchsliteratur, wie gesagt. Und insgesamt eher was für Wenders-Aficionados.

Holunderblüte. Deutschland 2007 - Regie: Volker Koepp - Darsteller: Dokumentation - FSK: ohne Altersbeschränkung - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 89 min.

Von einem der auszog: Wim Wenders' frühe Jahre. Deutschland 2007 - Regie: Marcel Wehn - Darsteller: (Mitwirkende) Wim Wenders, Donata Wenders, Bruno Ganz, Peter Handke, Heinz Badewitz, Ulrike Sachweh, Peter Przygodda, Edda Köchl-König - Länge: 96 min